Gotteserfahrung – Blick in die Ewigkeit

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Gotteserfahrung-hand-himmel-nahtoderlebnis-blick-ewigkeit-tattva-viveka-handBlick in die Ewigkeit
Gleichzeitig eins und verschieden sein – die Gotteserfahrung eines Neurowissenschaftlers

Teil 2 von Ronald Engert
Zu Teil 1Blick in die Ewigkeit – Die Nahtoderfahrung eines Neurowissenschaftlers. Gotteserfahrung – Der Neurowissenschaftler Dr. med. Eben Alexander lag sieben Tage im Koma und war hirntot.
Während dieser Zeit hatte er eine intensive Gotteserfahrung. Erstaunlicherweise berichtet er davon, dass er Gott als unendliche Liebe wahrnahm, aber »nicht ganz eins« mit ihm werden konnte.

Mit Blick auf die monistische Tradition des Advaita und moderner New Age-Lehren diskutiert der Artikel die Frage der Einheit mit Gott und die personale Individualität von Gott und dem Lebewesen.

Das Buch von Eben Alexander war wochenlang auf der Sachbuch-Bestsellerliste des Spiegel und der New York Times

Aber nicht nur deshalb lohnt es sich, seinen Bericht näher zu untersuchen. Seine Nahtoderfahrung besticht zunächst durch eine hohe Intensität und Ausführlichkeit. Sie ist außerdem von einem sehr reflektierten und neurowissenschaftlich gebildeten Menschen niedergeschrieben worden, was dem Bericht eine nüchterne, unideologische Klarheit verleiht.

Zudem war Dr. Alexander vor seinem Erlebnis ein in der Hauptsache materialistischer Wissenschaftler ohne esoterisches Vorwissen. Das Erlebnis hat aus ihm einen spirituellen Menschen gemacht. Somit handelt es sich hier um ein lebendes Beispiel für inneren Wandel und die Verbindung von Wissenschaft und Spiritualität, aber auch ein starkes Indiz und Zeugnis für die Echtheit spiritueller Realitäten.

In Teil 1 des Aufsatzes (erschienen in Tattva Viveka 56) wurde die Nahtoderfahrung und deren Bedeutung für Wissenschaft und Spiritualität dargestellt. Teil 2 möchte spezifisch auf das Thema der Gotteserfahrung eingehen. Es sei betont, dass es sich um eine Erfahrung handelt, nicht um eine philosophische Spekulation. Alexander hat eine reale und bewusste Erfahrung Gottes gemacht.

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Gleichzeitig eins und verschieden

Im Folgenden sei eine Stelle aus dem Buch genannt, die ein sehr interessantes und strittiges Problem in der Spiritualität auf dem Weg einer unmittelbaren persönlichen Erfahrung anspricht. Es geht um die Frage der Vielheit oder Einheit der Wirklichkeit. Wie an vielen Stellen im Buch kann man auch hier sehen, dass Alexander von Hause aus ein relativ unbeschriebenes Blatt ist, was Spiritualität betrifft.

Er sagt selbst, dass er sich vor seinem Nahtoderlebnis nicht mit Spiritualität oder Themen der Metaphysik beschäftigt hat und fest auf dem Boden der materialistischen Wissenschaft stand. Dieser Umstand gibt seinen spirituellen Erfahrungen etwas Unmittelbares, nicht durch Ideologien und Glaubenssysteme Verstelltes, eine Art roher Befund oder nackte Daten, die nicht durch konzeptuelles Vorwissen gefärbt sind. Dennoch ist er natürlich geneigt, seine Erfahrung in eine Art von Erklärung zu bringen.

An der folgenden Stelle also wird deutlich, wie er versucht, seine unmittelbar gefühlte Erfahrung in ein intellektuelles Konzept zu übersetzen. Offensichtlich hat er nach seiner Erfahrung im Zuge der intellektuellen Orientierung vage etwas von der spirituellen Theorie des »Einsseins« gehört.

Einige spirituelle Ansätze, die vom indischen Advaita-Konzept abstammen

wie z.B. Osho, Maharishi, Neal Donald Walsh oder Eckhardt Tolle, gehen davon aus, dass der tiefste Grund der Wirklichkeit eine unterschiedslose Einheit ist, in der es keine Trennung und keine Dualität, mithin keine Vielheit mehr gibt. Dieses Verständnis lehnt Dualität als Illusion ab und vertritt die Rückführung der Wirklichkeit auf ein einziges Prinzip eines allumfassenden göttlichen Einen ohne Trennung. Philosophisch nennt man dies Monismus.

Alexander ringt in seiner Wahrnehmung und Erfahrung mit diesem Einssein und Verschiedensein von Gott. Dabei scheint mir seine unmittelbar gefühlte Erfahrung die einer Verschiedenheit zu sein, der Versuch der intellektuellen Erklärung, jedoch durch das Konzept des Monismus bestimmt zu sein. Lesen wir die folgende Stelle:

»Genau wie mein Bewusstsein sowohl individuell als auch gleichzeitig völlig eins mit dem Universum war, zogen sich die Grenzen dessen, was ich als mein »Ich« erlebte, bisweilen zusammen und erweiterten sich dann wieder, um alles einzuschließen, was bis in alle Ewigkeit besteht. Das Verschwimmen der Grenze zwischen meinem Bewusstsein und dem Bereich um mich herum ging bisweilen so weit, dass ich zum gesamten Universum wurde. Ich könnte es auch so ausdrücken, dass ich in dem Moment ein Gleichsein mit dem Universum bemerkte, welches die ganze Zeit existiert hatte, für das ich aber bisher blind gewesen war.« (216)

Erläuterung:

Alexander leitet die Passage mit einer Stellungnahme ein, die eine relativ dualistisch formulierte Mischung aus Erfahrung und Interpretation ist:

»Genau wie mein Bewusstsein sowohl individuell als auch gleichzeitig völlig eins mit dem Universum war …«.

Er präzisiert es dann jedoch – das ist wohl seiner wissenschaftlich geschulten Arbeitsweise zu verdanken – und spricht davon, dass er zum gesamten Universum wurde. Dieses »wurde« ist im Original in kursiv gesetzt, was wohl darauf hinweisen soll, dass Alexander diesem Wort eine besonders tiefe Bedeutung zumisst. Ich finde es auch ziemlich gut formuliert, denn was hier mit dem Begriff des »Werdens« beschrieben wird, ist eine Entwicklung oder ein Veränderungsprozess.

Er ist manchmal verschieden vom Universum und manchmal ist er das Universum. Beides ist vorhanden. Er formuliert es dann nochmal mit anderen Worten, was wie der Versuch anmutet, es noch besser auf den Begriff zu bringen (»Ich könnte es auch so ausdrücken:«) und benutzt dann den Begriff des »Gleichseins«, das er in einem bestimmten »Moment« erlebt. Dieses Gleichsein setzt eigentlich das Vorhandensein von zwei Entitäten voraus, die gleich sind. Wenn es nicht zwei wären, könnten sie nicht gleich sein. Alexander fährt fort:

»Eine Analogie, die ich oft gebrauche um ein Bewusstsein auf dieser tiefsten Ebene zu verdeutlichen, ist die eines Hühnereis. Während ich mich im Zentrum aufhielt, hatte ich, selbst als ich in alle Ewigkeit eins wurde mit der Lichtkugel und dem gesamten mehrdimensionalen Universum und eins mit Gott war, das starke Gefühl, dass der kreative, uranfängliche Aspekt Gottes (der erste Beweger) die Schale um den Inhalt des Eis war, durchweg eng mit ihm verbunden (denn unser Bewusstsein ist eine direkte Erweiterung des göttlichen), aber für immer jenseits der Möglichkeit, absolut identisch mit dem Bewusstsein des Erschaffenen zu sein. Selbst als mein Bewusstsein mit allem und der Ewigkeit gleich wurde, merkte ich, dass ich nicht ganz eins werden konnte mit dem kreativen, ursprünglichen Lenker von allem, was ist. Im Innersten der grenzenlosesten Einheit war immer noch diese Dualität. Möglicherweise ist eine so offenkundige Dualität einfach das Ergebnis des Versuchs, eine derartige Bewusstheit mit zurück in diese Welt zu bringen.« (216f.)

Wenn man diese Passage genau liest, kann man sehr schön sehen, wie er sich in der Widersprüchlichkeit von Einssein und Verschiedensein verheddert.

Es ist nicht klar und eindeutig formuliert

Einerseits ist da dieser Versuch oder Wunsch, dass Einssein zu legitimieren und zu bestätigen. Andererseits kann er doch nicht von seiner Erfahrung Abstand nehmen, dass hier trotz allem noch eine Verschiedenheit bleibt. Er kann nicht ganz eins werden mit Gott.

Es ist sinnvoll, hier zunächst die Unterscheidung zwischen Universum und Schöpfer zu verdeutlichen. Zuerst sprach er von dem Universum, mit dem er bisweilen gleich wurde. Alles, was im Universum existiert, ist Erschaffenes. Gott indes ist der Schöpfer, der Erschaffer.

Ein Gleichsein mit dem Universum ist viel mehr spürbar als mit Gott, da ich als erschaffenes Geschöpf mit dem erschaffenen Universum zu derselben Kategorie gehöre. In Bezug auf Gott, den Schöpfer, spricht er eindeutig davon, dass immer ein letztes Gefühl davon blieb, dass hier eine Verschiedenheit von Gott existiert. Wie er sagt, fühlte er zwar eine enge Verbundenheit, aber er sah auch eine nicht weiter reduzierbare Verschiedenheit. Mir scheint dies richtig gefühlt, denn es ist nicht möglich, dass der Erschaffer zum Erschaffenen wird.

Ich finde, die Einheit von Schöpfer und Geschöpf ist eine logische Unmöglichkeit und wer behauptet, dass dies trotzdem geht, schafft damit lediglich die Erkennbarkeit der Welt ab. Natürlich kann man immer alles auf eins reduzieren, dann gibt es keine Unterschiede, keine Kausalitäten und keine Abhängigkeiten mehr. Aber es dürfte dann auch sehr schwierig werden, noch irgendetwas zu unterscheiden.

Verschiedenheit bzw. Trennung wird in der monistischen Spiritualität als Illusion und als Ursache des Leidens betrachtet

Ich kann jedoch nicht nachvollziehen, warum die Verschiedenheit ein Problem sein soll. Vielmehr finde ich, dass mit der Annahme des Axioms einer grundsätzlichen Verschiedenheit von Schöpfer und Geschaffenen die Struktur und der Aufbau der Welt in allen Aspekten offenbar wird. Natürlich haben wir die Sehnsucht nach Verbindung mit diesem Schöpfer. Dies ist die ursprüngliche Natur unserer Seele.

Wie das Kind sich immer seiner Mutter oder seinem Vater zugehörig fühlt, so suchen auch wir die Zugehörigkeit zu unserem göttlichen Vater bzw. unserer göttlichen Mutter. Dies ist nur natürlich. Die Schönheit und Liebe dieser Beziehung, ebenso wie die Tatsache, dass hier überhaupt eine Beziehung stattfindet, verdankt sich dem Umstand, dass es die Verschiedenheit gibt.

Die Verschiedenheit ist der Ursprung der Liebe und der Ekstase in der alchemistischen Vereinigung der Beziehung. Es ist die Dialektik von Einheit und Verschiedenheit, ja die dynamische Asymmetrie zwischen mir und Gott, die alles, was existiert, in Bewegung hält.

Das Bild des Hühnereis ist sehr anschaulich:

Das Hühnerei ist eins im Sinne einer Ganzheit. Dennoch enthält es verschiedene Komponenten, nämlich die Schale und das Innere des Eis. Man kann also sagen, das Ei ist eins. Zumindest sieht es von außen so aus. Dann lässt man aber bestimmte Daten weg und nimmt die verschiedenen Komponenten nicht weiter wahr.

Anders ist es, wenn man sich die verschiedenen Komponenten des Eis anschaut und daraus weitere Erklärungen oder Analogien für eine tiefere Wahrheit ableitet. Allein die Tatsache, dass zur Erklärung eines metaphysischen Sachverhaltes immer zumindest eine Analogie zu einem geformten Objekt (oder einer Handlung) herangezogen werden muss – hier ein Ei –, zeigt meines Erachtens, dass die Dialektik von Form und Inhalt unreduzierbar ist.

Anders gesagt:

eine Form ist immer gegeben, nicht nur auf der materiellen Ebene, sondern auch in der spirituellen Sphäre. Die Form ist nicht das Problem.

Schön ist, dass Alexander hier ausgerechnet das Ei als Analogon nimmt. Von allen bekannten Formen der materiellen Welt ist die Eiform die vollkommenste und nicht von ungefähr die Form, in der neues Leben in die Welt kommt. Das Ei ist das ebenmäßigste und symmetrischste asymmetrische Objekt und das mit den wenigsten Berechnungsdaten aufgebaute dreidimensionale Gebilde.

Es ist perfekt harmonikal, aber eben keine Kugel und auch keine elliptische Form, da es eine stumpfe und eine spitze Seite hat. Genau das ist Leben: eine dynamische Asymmetrie.1 Und wie jedes Leben eine Form braucht und eine Membran besitzt, die das Innere vom Äußeren trennt, so ist auch die Gesamtwirklichkeit unserer Existenz in Gott in ähnlicher Weise holografisch zu verstehen. Wir sind geborgen und umschlossen von Gott.

Wir sind in Gott. Gleichzeitig ist Gott in uns.
Und drittens existiert Gott unabhängig von uns, also so, dass er nicht in uns und wir nicht in ihm sind. Dies sind die drei Aspekte Gottes der vedischen Philosophie: brahman, paramatma und bhagavan – der alldurchdringende, der lokalisierte und der persönliche Aspekt Gottes.2

Hier nun die Fortsetzung von Alexanders Beschreibung:

»Weder hörte ich die Stimme des Om jemals direkt, noch sah ich jemals sein Gesicht. Es war, als spreche das Om durch Gedanken zu mir, die wie Wellenberge durch mich hindurch rollten, die alles um mich herum erschütterten und mir zeigten, dass es ein tieferes Gewebe der Existenz gibt – ein Gewebe, von dem wir alle immer ein Teil sind, dessen wir uns im allgemeinen aber nicht bewusst sind.« (217)

»Om« ist Alexanders Name für Gott. Wenn Alexander auch die Stimme oder das Gesicht Gottes nicht direkt wahrnehmen konnte, so spricht er doch davon, eine Art Stimme oder eine Botschaft gehört zu haben. Eine Kommunikation erfordert zwingend zwei Beteiligte: einen Sender und einen Empfänger. Alexander spricht außerdem von Wellenbergen und von einem Gewebe. Alle diese Bilder implizieren eine Form und eine Vielheit.

Die Wellenberge sind eine Form, die hier ein Gefühl von Intensität versinnbildlichen. Ein Gewebe wiederum besteht aus individuellen Entitäten, Fäden, die miteinander verwoben sind (»ein Gewebe, von dem wir alle immer ein Teil sind«). Ohne Verschiedenheit kann es kein Gewebe gegeben. Ohne Verschiedenheit kann es keine Verbundenheit geben.

So ist alles, was existiert, individuell und vielfältig und das Spiel der Entitäten, der Lebewesen, ihr Tanz, ihr Gespräch, die Berührung, die Bezugnahme und Beziehung sind schon das, was ist. Sie sind schon das unterste Fundament, die nicht weiter reduzierbare Soheit.

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»Habe ich also direkt mit Gott kommuniziert? Absolut. So ausgedrückt klingt es prachtvoll. Aber als es passierte, fühlte ich mich nicht so. Vielmehr hatte ich das Gefühl, dass ich etwas tat, was jede Seele tun kann, wenn sie ihren Körper verlässt, und was wir alle schon jetzt mit Hilfe verschiedener Arten von Gebeten und tiefer Meditation tun können. Mit Gott zu kommunizieren ist die außergewöhnlichste Erfahrung, die man sich vorstellen kann. Aber es ist gleichzeitig die natürlichste Erfahrung von allen, weil Gott jederzeit in uns allen ist. Allwissend, allmächtig, persönlich – und er liebt uns bedingungslos. Wir sind eins mit Gott – an ihn angeschlossen durch unsere göttliche Verbindung.« (217)

Auch hier, wie schon an anderer Stelle, spricht Alexander davon, dass Gott persönlich ist.

Er meint damit, dass Gott diese persönliche Liebe zu uns Menschen hat und fast menschliche Eigenschaften besitzt. Um Gott als etwas Persönliches wahrnehmen zu können, muss man davon ausgehen, dass Gott ein Gegenüber ist, ein Du. Nur dann macht die Frage Sinn, ob ich mit Gott direkt kommuniziert habe.

Wenn ich Gott bin, dann habe ich vielleicht mit mir selbst kommuniziert. Dann wird die ganze Angelegenheit zu einer Redundanz oder Tautologie, denn dann kann ich mir nur das erzählen, was ich schon weiß. Es wird nichts dazu kommen und nichts Neues entstehen. Das ist wie eine ungeschlechtliche Fortpflanzung. Es entstehen identische Klone.

Ohne Heterogenität, also ohne Verschiedenheit der individuellen Lebewesen oder Entitäten, ist praktisch kein Leben, keine Beziehung und keine Bewegung denkbar. Es macht sehr viel Sinn, diese Qualität der Verschiedenheit nicht als Makel, Mangel oder krankhafte Illusion zu interpretieren, sondern im Gegenteil vielmehr als konstitutive Qualität und Eigenschaft auch der spirituellen Sphäre zu Grunde zu legen.

Gerade im letzten Satz des Zitats scheint mir dieses Ringen Alexanders deutlich hervorzutreten, wo sein intellektuelles Konzept des Einsseins mit seiner gefühlten Erfahrung der Verbundenheit kollidiert. Er versucht es verbal zu glätten, indem er zunächst intellektuell die Einheit mit Gott verbalisiert (»Wir sind eins mit Gott«), um es dann in einem Nachsatz präziser zu formulieren: »– wir sind an ihn angeschlossen durch unsere göttliche Verbindung«.

Das erscheint mir wesentlich präziser formuliert, ist aber nicht Einssein

Um an etwas angeschlossen oder mit ihm verbunden zu sein, muss ich von ihm verschieden sein. Es muss zwei geben. Ich finde es nicht zulässig, diese beiden Kategorien der Einheit und der Verbundenheit einfach in einen Topf zu werfen.

Viele Monisten scheinen mir indes unter dem Begriff des Einsseins nicht eine unterschiedslose Einheit, sondern genau diese innige Verbundenheit, eine Einigkeit oder einen Einklang zu verstehen. Sofern das Einssein in dieser Weise verstanden ist, kann ich damit guten Gewissens und mit einem guten Gefühl mitgehen.

Dennoch bin ich der Meinung, dass eine logisch-philosophische Formulierung präzise sein sollte. Ich kann nicht von Einssein sprechen, wenn es sich um eine Verbundenheit handelt. Über die Verbundenheit gelangen wir zur Einigkeit, aber wir werden nicht eins. Einigkeit bedeutet genauso wie Einklang oder Einstimmigkeit eine harmonische Verbindung von mehreren individuellen Einheiten.

Insofern könnte man sagen: »Ich bin eins. Du bist eins. Zusammen sind wir schon zwei.«
Das Besondere an Alexanders Bericht ist, dass er eine unmittelbare Erfahrung Gottes gemacht hat, die nicht durch irdische Philosophien und Glaubenssysteme vorgeprägt wurde.

Er spürte,

»dass ich nicht ganz eins werden konnte mit dem kreativen, ursprünglichen Lenker von allem, was ist. Im Innersten der grenzenlosesten Einheit war immer noch diese Dualität.« (216f.)

Er interpretiert das dann im Nachsatz als Folge des Versuchs, diese Bewusstheit mit zurück in diese dualistische Welt zu bringen (»Möglicherweise ist eine so offenkundige Dualität einfach das Ergebnis des Versuchs, eine derartige Bewusstheit mit zurück in diese Welt zu bringen.« (217)).

Hier spürt man seinen intellektuellen Vorbehalt gegenüber der Dualität, als sei sie etwas Minderwertiges. Aber vielleicht war ja seine unmittelbar gefühlte spirituelle Erfahrung des Nicht-ganz-eins-werden-Könnens die richtige. Vielleicht können wir nie ganz eins mit dem Schöpfer werden. Und vielleicht ist das ja schön so. Weil es einfach die Wahrheit ist.

Warum sollte das ein Problem sein?

Warum sollte ich mit meiner Mutter oder meinem Vater eins werden wollen? Es ist doch schön, dass wir zwei sind. Oder drei. Oder viele. So sehr ich meine Mutter und meinen Vater mag, so behalte ich mir doch vor, ein eigenes Individuum zu sein und auch meine Mutter oder meinen Vater als eigenes, unabhängiges Individuum zu sehen.

Genau deshalb kann ich sie ja lieben oder mit ihr oder ihm in Verbindung, in Beziehung treten. Genau deshalb kann ich in Kommunikation gehen, mit ihnen interagieren, mit ihnen tanzen und spielen. Auch mit meiner Geliebten möchte ich nicht eins werden. Ich brauche sie als von mir verschieden, um sie in ihrer einzigartigen Schönheit als einzigartiges Selbst berühren und fühlen zu können bzw. von ihr berührt und gefühlt zu werden, als unverwechselbares Nicht-Gleiches, Nicht-Identisches.

Genau das ist der Reiz und die Spannung zwischen den Lebewesen.

Das ist die unreduzierbare Qualität der Intersubjektivität und Interpersonalität. Ich möchte diese Grundannahme das »dialektische Axiom« nennen.

Die Verschiedenheit ist das Salz in der Suppe, die Sahne, der Nektar, die Hochzeit. Dafür braucht es Individuen, individuelle Personen. Und dies ist die höchste, strahlendste Wahrheit der Personalität, wie sie auch Alexander in seiner unmittelbaren spirituellen Erfahrung erlebt hat: die unverwechselbare Einzigartigkeit jedes einzelnen Lebewesens, seine individuellen Eigenschaften und Vorlieben, seine persönlichen Gefühle und seine Individualität, die am vollkommensten in Gott gegeben ist. Gott ist der Einzigartigste.

Man mag sich fragen, warum ich diesen Punkt so sehr betone.

Es wäre unwichtig, wenn es einfach nur ein Geschmacksurteil, eine subjektive Vorliebe wäre. Aber es hat erkenntnistheoretische Konsequenzen. Alle untergeordneten Schlussfolgerungen mit Bezug auf den Aufbau der Wirklichkeit ändern sich, je nachdem, welche axiomatische Annahme ich an den Anfang stelle.

Eine sehr elementare Schlussfolgerung, wo sich die beiden Herangehensweisen logisch zwingend unterscheiden, ist zum Beispiel diese: Das monistische Axiom geht davon aus, dass jede Verschiedenheit nicht die letzte Wahrheit ist. Die Schlussfolgerung für die diesseitige Welt ist, dass sie Illusion ist. Das dialektische Axiom geht davon aus, dass Verschiedenheit konstitutiv für die letzte Wahrheit ist. Die Schlussfolgerung für die diesseitige Welt ist, dass sie real ist.

Ein weiterer fundamentaler Unterschied besteht in der moralischen Konsequenz. Wenn die Welt, wie im monistischen Axiom, Illusion ist, dann gibt es keine moralische oder ethische Verbindlichkeit für meine Handlungen in der materiellen Welt. Dies kann man bisweilen bei Vertretern des Advaita beobachten.3

Das dialektische Axiom dagegen bringt eine verbindliche ethische Einordnung hervor, die klare Unterscheidungskriterien liefert, denn mit dem dialektischen Axiom ist es möglich, alle Phänomene und Beziehungen in der diesseitigen Welt als sinnvolle und wahrheitstheoretisch relevante Phänomene zu verstehen.

Wenn jedes Lebewesen als spirituelles Individuum existiert und die Wahrheit persönlich ist, dann ist alles, was die Lebewesen hier unternehmen, wonach sie sich sehnen, was sie wünschen und warum sie etwas tun, spirituell erklärbar. Sie suchen nach Liebe und nach Verbundenheit, nach liebevollem Austausch und gegenseitigem Verstehen.

Es ist wie ein Abbild aus der spirituellen Welt, wo all diese Motivationen und Unternehmungen in ihrer vollkommenen Form existieren.4 Leider sind diese Motivationen und Unternehmungen in der materiellen Welt unvollkommen, weil sie durch begrenzte, unvollständige Perspektiven verfälscht sind. Diese begrenzten, unvollständigen Perspektiven resultieren aus der Ego-Perspektive des Einzelnen.

Gerade weil wir ewige individuelle Personen sind, können wir ein Ego entwickeln.

Sobald dieses Ego missbraucht wird, wird unsere Perspektive begrenzt und hat nicht mehr die Gesamtwirklichkeit in einer objektiven, transzendentalen Sicht im Blick.
Anders formuliert: Wir wollen selbst Gott sein und machen uns selbst zum Zentralgestirn, um das sich alles andere drehen soll. Weil dies aber in der Wirklichkeit nicht so ist, entstehen viele Kollisionen mit anderen Lebewesen, die zu Leid führen. Die Ursache des Leidens ist jedoch nicht die Individualität, sondern die falsche Einordnung meiner individuellen Position in der Gesamtmanifestation. Das Zentralgestirn ist natürlich Gott und nicht ich. Wenn ich jedoch kognitiv annehme, dass ich Gott bin, dann gibt es hier ein Ordnungsproblem.

Die Idee, dass ich Gott (der Souverän) bin, funktioniert nur im solipsistischen, individualistischen Kosmos, nicht jedoch im sozialen Kosmos. Insofern ist die Idee des Monismus passend zum Kapitalismus, wo jeder sich selbst der Nächste ist und Alleinherrscher in seinem Reich zu werden versucht. Die ultimative Schlussfolgerung des Monismus, dass alles von mir Verschiedene eine Illusion ist, reduziert das Nicht-Ich auf mein Ich, auf das mit mir Identische.

Dies ist der Kern des Kontrollmechanismus des Egos

Dabei halte ich es für möglich, jenen Ort des spirituellen Bewusstseins zu erreichen, wo alle Verschiedenheit in eins fällt. Dieser Ort existiert. Es ist jedoch ein namenloser und sprachloser Ort, der keinerlei Identifizierung oder Benennung erlaubt, es ist ein Ort des Nichts, der nicht in irgendeine Art von Form oder kognitivem Verständnis gebracht werden kann und darf.

Er ist nicht der Ursprung oder die Quelle einer Philosophie oder Erkenntnis. Alle Form, alles Existierende und alle Entfaltung des Universums muss durch die dialektische Prämisse des gleichzeitigen Eins-und Verschieden-Seins betrachtet werden, in der das Individuum und die Person ewige spirituelle Kategorien sind.

Dann ordnen sich sowohl die materielle als auch die spirituelle Welt neu und ergeben einen umfassenden Sinn. Wir sind reale, lebendige Personen in einer lebendigen Welt, die miteinander und mit Gott in Beziehung stehen.

Fußnoten

1 Vgl. hierzu die umfangreichen Naturstudien Viktor Schaubergers zur Eiform und zu Spiralformen, aus denen er eine zur heutigen Druck- und Feuertechnologie umgekehrte Zug- und Wassernaturtechnik entwickelte. Siehe: Ronald Engert, Die Lebenskurve. Viktor Schaubergers Entdeckung der Lebenskraft; in: Tattva Viveka 5, S. 18-27, Frankfurt/M. 1996

2 Die ursprüngliche Definition der drei Perspektiven findet sich im Srimad Bhagavatam in Vers 1.2.11: vadanti tat tattva-vidas / tattvaṁ yaj jñānam advayam / brahmeti paramātmeti / bhagāvan iti śabdyate.
Übersetzung: »Die Seher der Wahrheit beschreiben diese nicht-duale Substanz als Brahman, Paramatma und Bhagavan.« Vgl: Ronald Engert: Die drei Gesichter Gottes, in: Tattva Viveka 29, S. 43-45, Bensheim 2009

3 Die Strömungen der Advaita-Tradition sind sehr vielfältig und es gibt hier auch unterschiedliche Gewichtungen. Viele Anhänger pflegen einen allgemeinen Humanismus oder eine instinktive moralische Absicht zur Tugend. Sie sind sich der erkenntnistheoretischen Konsequenzen nicht bewusst und interessieren sich auch nicht dafür. Philosophische Widersprüche werden ignoriert. Ethik und Moral besitzen dann den Wert eines wohlmeinenden Appells, aber nicht einer philosophischen Stringenz.
Darüber hinaus gibt es Anhänger des Advaita, die jede moralische Wertung in Abrede stellen und völlig unkritisch gegenüber unmoralischem Verhalten sind. Rationale Erklärungen wie eine pauschale Vermutung, dass alles irgendwie seinen Sinn hat und okay ist, oder eine Verdrehung der Werte zeugen m. E. mehr von Unwissenheit als von Erleuchtung. Auch der undialektische Glaubenssatz, dass man sich seine Wirklichkeit selbst kreiert und für jedes Problem selbst verantwortlich ist, gehört hierher.

4 Vgl. hierzu den Beitrag »Die Ekstasen der Gottesliebe« von Ronald Engert in dieser Ausgabe, S. xx-xx. Dieser Text beschreibt die Handlungen und Beziehungen in der spirituellen Welt.

Spiritualität und Gott

Literaturnachweis:cover-blick in die Ewigkeit

»Blick in die Ewigkeit.
Die faszinierende Nahtoderfahrung eines Neurochirurgen«,
Dr. med. Eben Alexander
Ansata Verlag, München 2013, geb.,
Taschenbuch: 256 Seiten

Zum Buch

Über den Autor dieses Artikels

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Ronald Engert

Ronald Engert
Geb. 1961. Studium der Germanistik, Romanistik, Philosophie und Filmwissenschaften, später Indologie und Religionswissenschaften an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/M. 1994
Mitgründung der Tattva Viveka, seit 1996 Herausgeber und Chefredakteur. 1994 Gründung des INES-Instituts (Institut für Essenzphilosophie).
Blog: www.ronaldengert.com

18.05.2019
Ronald Engert


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