Das geheime Meer von Doncaster

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Das geheime Meer von Doncaster karl franz fishyprintDas geheime Meer von Doncaster

Der alternde Kran war dazu da die Stahlträger auf dem Schrottplatz zu heben. Sie wogen alle mindestens zwei Tonnen. Das war weit unter seinem Grenzwert, doch der feine Sand und Grieß, der sich in allen Ritzen und Winkeln festsetzte, hatte seinen Tribut gefordert. Die klobigen, altmodischen Elektroschalter gaben langsam auf. Ich schaltete die Fernbedienung ein um den letzten Test durchzuführen. Der Haken baumelte wie ein umgekehrtes Fragezeichen.
Wird der neue Schalter funktionieren?

Das geheime Meer von Doncaster

Als ich auf den grünen Knopf drückte, hörte ich mit Befriedigung den Klang der sich lösenden Bremse von allen Seiten des verlassenen Hofes widerhallen. Der Motor fing an sein monotones Jammerlied zu singen, genau wie es sich gehörte, und der Haken senkte sich langsam. Ich ließ den Knopf wieder los und schnitt ihm den Saft ab. Zufrieden hörte ich, dass die Bremse wieder anzog. Der Haken blieb auf halber Höhe stehen und schaukelt im Sommer-Himmel leicht hin und her. Es war alles Funktionsbereit.

Alf, der Betriebsleiter, lehnte an der Wand des gedrungenen Ziegel-Gebäudes, das ihm als Büro diente. Er hatte mir bei den letzten Tests zugeschaut. Nun drehte er sich um, um drinnen auf mich zu warten und verschwand im Schatten. Ich suchte mir einen Weg über den unebenen, von Unkraut überwucherten Platz. Von dem ehemals viel größeren Gebäude war nur noch das Büro übrig geblieben; alles war auf einen Raum und ein Mann reduziert worden. Es ragte zwischen den Trümmerhaufen von Beton- und Steinbrocken wie ein letzter zerfallender Zahn empor.

Alf trommelte bestimmt schon mit den kurzen, rauen Fingern seiner Arbeiterhand auf dem Schreibtisch.

Er hatte heutzutage selten Gesellschaft und er liebte es, mir seine langen Geschichten von früher zu erzählen. Aber er musste sich wohl oder übel gedulden.

Es war sehr empfehlenswert sich auf dem Platz langsam und vorsichtig zu bewegen und auf die Füsse zu achten. Überall lagen halb begrabenen Stahlseil-Rollen herum und dazwischen war der Boden übersät von scharfkantigen Schrotteilen die aus der Erde stachen. Es gab viele Stolperfallen; weh dem der fiel.

Dann gab es noch die Fische.

Solange ich mich auf die Arbeit konzentrierte, bemerkte ich sie kaum noch. Ich wußte zwar, dass sie da waren und träge durch die Luft schwammen aber mit etwas Übung gelang es mir, sie aus meinen Gedanken zu verbannen. Wer mit großen Industrie-Maschinen in einer Wüste aus Schrott hantierte, durfte nicht „ins Dämmerland gleiten“, wie ich es nannte.

Damals wußte ich nichts vom dritten Auge und dergleichen. (In den technischen Gebrauchsanleitungen stand darüber nichts geschrieben.) Ich wußte aber, dass ich manchmal Dinge sah und fühlte, die niemand anders wahrzunehmen schien. Instinktiv wußte ich, das es besser war nicht darüber zu reden. Der Anblick der seltsamen Fische, die durch die Luft schwammen, als hätten sie sich ihre eigenen physikalischen Gesetze erfunden, verblüffte mich jedoch. Und warum ausgerechnet hier? Wir waren mitten in Doncaster im Süden von Yorkshire.

Warum suchten sie einen Industrie-Komplex heim, der mindestens fünfzig Meilen vom Meer entfernt war.
Und in welchem Meer gab es überhaupt solche Fische?

Die meisten davon waren klein oder mittelgroß. Sie sahen etwas seltsam aus, wären aber, auf einem Teller mit einer Beilage von Pommes serviert, nicht weiter aufgefallen.

Es gab aber auch welche die groß waren, richtig groß. Ein oder zwei waren so groß wie Orcas, nur längst nicht so schön. Diese schwerfälligen Wesen sahen irgendwie unfertig aus. Als ob die Natur ein paar Prototypen ausprobiert hätte, um zu sehen ob sie funktionierten. Ich möchte der Natur gegenüber nicht respektlos sein, aber ich muss schon sagen; sie waren regelrecht hässlich. Der schwere, unproportionierte Kiefer hing offen und man konnte reihenweise die krummen und spitzen

Zähne darin sehen. Andere hatten gähnende, höhlenartige, aber zum Glück zahnlose Mäuler mit denen sie das unsichtbare Wasser einsaugten, während sie zwischen den Stahlhaufen herum gondelten.

Ihre Schuppen glänzten schiefergrau und hatten einen leichten Blau- oder Grünschimmer.

Sie sahen aus als würden sie sich unangenehm kalt anfühlen, nicht dass ich in Versuchung gewesen wäre einen davon zu berühren; nicht mit diesen Augen. Ihre Augen waren ausdruckslos. Sie sahen wie flache runde Scheiben aus, die in der Mitte eine matte schwarze Kuhle hatten. Sie suchten unentwegt bedächtig aber verstörend gierig den Sandsteinboden nach Futter ab.

Das war ein Anhaltspunkt.

Ich wußte, dass Sandstein aus Sedimenten bestand, die sich tief unter den alten Urmeeren abgelagert hatten. Ich überlegte auf dem Weg zu Alf’s Büro, dass sich in dieser Gegend vielleicht mal irgendwann ein prähistorischer Meeresboden befunden hatte.

Alfred saß in seinem etwas abgewetzten aber bequemen Lieblings-Sessel am Schreibtisch.

Er hatte ein breites Lächeln auf dem verwittertem Gesicht und zeigte auf einen anderen, etwas bescheideneren Stuhl für mich. Nach dem üblichen Betriebs-Gerede lehnte er sich zurück und faltete die Hände im Nacken zusammen.

„Das erinnert mich daran als ich mal einen fahrbaren Kran durch einen Schneesturm nach…..wie hieß der Ort nochmal…“

Er rollte die Augen nach oben zu dem Lichtkegel, der vom kleinen, hohen Fensterchen in der Wand hinter ihm ins Zimmer fiel.

„Ach ja,“ fing er an und erzählte seine Geschichte. Sie war lang und es fiel mir ehrlich gesagt etwas schwer nicht einzunicken. Aber ab und zu schwamm ein Fisch am Fensterchen vorbei und das hielt mich wach.

Einer davon blieb ziemlich lange davor. Er war riesig. Man konnte im rechteckigen Fensterrahmen nur einen kleinen Teil von seinem Kopf und ein Auge sehen. Er hing dort oben regungslos, als würde er dem Abendteuer von Alf lauschen. Ab und zu flippte er sein Riesenauge in eine Schräglage und schielte mit schnellen, ruckartigen Bewegungen hin und her, als würde er den Raum absuchen. Ich fühlte mich fast wie ein Goldfisch im Glas oder wie ein menschliches Haustier in einer surrealen, seitenverkehrten Wasserwelt.

Gerade als Alf endlich zur Pointe gekommen war, musste der Fisch wohl seinen riesigen, nicht sichtbaren Fischschwanz bewegt haben, denn das Auge glitt plötzlich davon, gefolgt von einer endlosen Reihe glänzender Schuppen die wie Eis im Mondlicht aussahen.
Gerade in dem Moment als der Fischschwanz vorbei fegte, nahm Alf die Hände vom Nacken, beugte sich vor und schlug grinsend auf den Tisch.

„Weißt du,“ sagte er „ was ich gesehen hab…das glaubt mir niemand“.

06.05.2018
© Carl Franz
Aus dem Englischen übersetzt von Michaela Wider
www.themindofmishka.weebly.com

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Der Autor und Künstler lebt auf dem Land im wunderschönen Yorkshire, England.
Er ist Reiki Meister und Traumdeuter, liebt Katzen und die Kommunikation mit der Natur.
Seine Werke erscheinen regelmäßig in der lokalen Zeitschrift “Howden Matters” und auch in Online-Zeitschriften.
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