Ökosophische Bewusstsein

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Das ökosophische Bewusstsein

In Erinnerung an den Universalgelehrten Raimon Panikkar (1918 – 2010)

Nahezu täglich wird die Weltbevölkerung mit dem Begriff „ökologischer Fußabtritt“ konfrontiert. Es wird alles Menschenmögliche unternommen, die Natur mit rationalen Verstandeskräften zu domestizieren, anstatt ihr mit der Weisheit des Herzens zu begegnen.

Raimon Panikkar, mit dem unsere Familie eng verbunden war, hatte den Begriff „Ökosophie“ eingeführt; ich selbst habe das entsprechende Adjektiv „ökosophisch“ hinzugefügt.

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ROSES 2005 Raimon-Seminar © Roland-Ropers

Der promovierte Naturwissenschaftler, Philosoph, Theologe, katholische Priester der Diözese Varanasi/Indien, Raimon Panikkar, wurde am 3. November 1918 in Barcelona als Sohn eines hinduistischen Vaters und einer katholischen Mutter geboren.

Er vereinigte in seiner Person abendländisches Christentum und indische Spiritualität. 1936 machte er zusätzlich sein deutsches Abitur am Jesuiten-Gymnasium in Bonn, wo er anschließend Chemie studierte. Anfang der 1950-er Jahre enge Verbindung mit Martin Heidegger, der ihm vor seinem Tod seine letzten Gedichte widmete.

Panikkar gilt weltweit als inspirierender Mittler und Visionär des inter- und intra-religiösen Dialogs.

Er lehrte u.a. an den Universitäten von Madrid, Rom, Cambridge, Harvard, Mysore und Varanasi (Benares). Von 1972-1987 Professor für vergleichende Religionsphilosophie an der University of California, Santa Barbara/USA. Er war Gastprofessor an über 100 Universitäten auf allen 5 Kontinenten. Autor von mehr als 50 Büchern und über 500 umfangreichen Artikeln zu Fragen des interreligiösen Dialogs. Panikkar dachte und schrieb in 6 Sprachen; er zählt zu den bedeutendsten Universalgelehrten unserer Zeit.

Er hat mit seinem bahnbrechenden Buch „The Vedic Experience“, das er aus mehreren Sanskrit-Dialekten in die englische Sprache übersetzte, eine zukunftsweisende Grundlage der großen indischen Weisheitstradition geschaffen. Zudem hat er die christliche Theologie für das Verständnis der Inder maßgeblich und einzigartig formuliert. Sein Hauptanliegen für das 3. Jahrtausend bestand in der Grundlagenarbeit, um das Christentum vom Monotheismus zu befreien und das Bewusstsein für die Trinität zu schaffen, die man im Sanskrit mit „Sat-Chit-Ananda“ bezeichnet.

Für sein Buch über „INDIEN“ erhielt er 1961 den „spanischen Literaturpreis“.

An seinem 90. Geburtstag am 3. November 2008 in seinem Haus „Can Felo“ (Privatbibliothek mit über 50.000 Büchern) im katalanischen Gebirgsdorf Tavertet hielt ich die Festansprache zum Thema „Wissenschaft & Spiritualität“. Am 26. August 2010 ist Raimon Panikkar im 92. Lebensjahr nach einem erfüllten Leben in seinem Haus gestorben. Ein Teil seiner Asche wurde in Benares im Ganges verstreut.

Ökosophie – die Weisheit der Erde

Gedanken von Raimon Panikkar

Mit dem Wort “Ökosophie” meine ich nicht eine verbesserte oder verfeinerte Ökologie. Die industrielle Revolution hatte durchaus eine Idee (logos) von der Welt, vom menschlichen Wohnort (oikos), und wollte die Erde zum Besten nutzbar machen, nämlich um dem Menschen, “dem König der Schöpfung und Herr der Erde”, zu dienen

Ökosophie ist ein neues Wort für eine sehr alte Weisheit. Es drückt das ganz traditionelle Bewusstsein aus, dass die Erde ein lebendiges Wesen ist, sowohl in all ihren Teilen wie als ein Ganzes. Die Erde ist nicht der Lieferant von Roh-Materialien für den Menschen; sie ist mehr als seine Bühne und Wohnstätte. Sie ist sein äußerer Leib und Lebensraum, sein Zuhause. Mehr noch: Sie ist ein konstitutives Element der vollständigen (kosmotheandrischen) Wirklichkeit, deren anderes Element der Mensch und deren drittes das göttliche Wesen ist.

“Ökosophie” steht für die Weisheit des Hinhörens auf die Erde und des dem gemäßen Handelns.

Hat der homo technologicus nicht seine Rhythmen verloren? Hat die Technokratie nicht auf Leib, Geist und Gesellschaft eine Ordnung auferlegt, die bestenfalls eine künstliche Ordnung darstellt, die nichts mit den natürlichen Rhythmen zu tun hat: mit rta, dharma, taxis, ordo der alten Traditionen? Wir sollten die Rhythmen des Lebens und letztlich des Seins wiederentdecken.

Krise

Weder begründen sie ein menschliches Leben, noch halten sie die Menschheit zusammen. Es handelt sich keineswegs bloß um eine Krise der philosophischen Prinzipien oder der Rationalität. Vielmehr besteht die Krise darin, dass die drei traditionellen “Haltungen”, die der Mensch seit zumindest sechstausend Jahren hatte, nicht mehr die Welt oder die Menschheit zusammenhalten. Welches sind diese drei Haltungen? Alle Kulturen lebten bis jetzt in einer dreifachen Welt:

  1. a) In der Welt der Götter: Man musste wissen, wie man mit ihnen umgehen muss, ob sie gefährlich sind oder nicht; man musste sie anbeten oder meiden (Opfer, Gehorsam, Anbetung).

  2. b) In der Welt der Menschen: Mit den Menschen, gerade mit mächtigen, umzugehen, war immer eine Kunst. Ein großer Teil menschlicher Erziehung bestand darin, mit den Menschen umgehen zu lernen (Grammatik, Rhetorik, Logik usw.).

  3. c) In der Welt der Natur: In ihr leben, sie kennen, sie benützen (Arithmetik, Geometrie, Astronomie, Musik usw.).

Diese drei Welten sind kaum mehr Welten.

Sie sind höchstens Teilsysteme. Deshalb sind die Grundhaltungen in eine Krise geraten. Jetzt haben wir eine vierte Welt begründet, die uns nicht hält und nicht gründet. Eine mehr und mehr künstliche Welt. Wir leben in einer vierten Welt der Megamaschinen, die wir selbst gemacht haben. Und jetzt fangen wir vielleicht an zu merken, dass diese unsere Kreatur sich von uns unabhängig gemacht hat und uns ihre Regeln aufzwingt. Das ist ein Druck, größer als der der Götter, des Königs und sogar der Natur.

Folgendes möchte ich behaupten: Die ökologische Krise stellt eine Offenbarung dar.
Wenn man sie nicht als Offenbarung sieht, sieht man sie nicht genügend tief und ernst. Es ist gewiss keine Theophanie; Was offenbar wird, ist kein neuer Gott. Auch keine Anthropophanie wie die der Aufklärung, die uns ein neues Menschenbild gegeben hat. Sondern eine Kosmophanie: Der bis jetzt stumme Kosmos schreit auf und spricht.

Es handelt sich darum, dieses Geschrei zu hören, diese Sprache zu verstehen, diese Kosmophanie wahrzunehmen. Diese Kosmophanie ist die heutige Offenbarung, und sie ist die Offenbarung der Kontingenz. Es geht nicht darum, aus der Ökologie eine Religion zu machen, sondern die Religion wird ökologisch. Dieser Unterschied ist wichtig.

Transformation

Aus der Sackgasse hilft uns nicht eine kleine Umänderung unserer heutigen Parameter, nicht Reformation; das hieße nur Verlängerung der Agonie eines Systems, das zum Tod verurteilt ist. Auch keine Revolution; die Deformation, die Gewalttätigkeit, bringt nur eine gegenteilige Reaktion hervor. Sondern eine Metamorphose, eine Transformation.

Es handelt sich darum, das Selbst und die Natur auf eine transformierte Weise zu erfahren und nicht nur die Natur neu zu interpretieren. Das Problem ist nicht ökologisch, ökonomisch, politisch. Es ist dies auch. Aber es ist viel tiefer, als dass allein eine neue Technologie mit neuen Maßnahmen – so wichtig sie sein mögen – die Krise bewältigen könnte.

Es handelt sich um eine letztmenschliche Angelegenheit, um Leben und Tod. Und das ist religiös, metaphysisch. Um das aber einzusehen, brauchen wir Ruhe (d.h. Gelassenheit), Einfühlung (d.h. Einsatz), Distanz (d.h. Interkulturalität), Kontemplation (d.h. Synthese von Praxis und Theorie). Nur eine Metamorphose kann uns retten.

Kosmotheandrische Erfahrung

Sie besagt, dass die Wirklichkeit trinitarisch ist. Zum einen göttlich: Das Wort “göttlich” gebrauche ich synonym mit “frei”, “unendlich” oder “Mysterium”, deshalb nicht manipulierbar und nicht durchdringbar durch den Intellekt. Zum anderen menschlich: Als Merkmal des Menschen betrachte ich die Intelligenz in ihrer ganzen Weite und Weisheit, umfassend. Und schließlich kosmisch, d.h. materiell.

Die Wirklichkeit ist weder nur göttlich noch nur menschlich, noch nur materiell. Deshalb ist sie weder theozentrisch noch anthropozentrisch, noch kosmozentrisch. Deshalb sind weder Monotheismus noch Humanismus, noch Materialismus befriedigende Antworten auf die heutige Krise. Wir haben in den letzten 6000 Jahren genügend Erfahrungen mit allen diesen Möglichkeiten gesammelt. Es bedarf einer neuen, umfassenden Sicht der Wirklichkeit, die keine Teilwirklichkeit unberücksichtigt lässt.

Es gilt, eine neue Einfalt zu erringen, die sowohl die unzertrennte Einheit als auch die unterschiedene Vielfalt alles Seienden erfasst. Aus der kosmotheandrischen Intuition heraus lässt sich die Wirklichkeit als ein Text lesen, in dem die drei Dimensionen des Kosmischen, des Göttlichen und des Menschlichen ineinander verwoben sind. Diese Intuition vereinigt alle Kräfte des Universums – von den elektromagnetischen über die menschlich-personalen bis zu den göttlichen. Die kosmotheandrische Vision ruft auf zur inneren Entdeckung eines Lebensstils, der sich nicht mehr primär oder gar ausschließlich an der Zukunft ausrichtet, sondern sich der mystischen Erfahrung öffnet, die ganz in der Gegenwart lebt.

Die wirkliche Natur ist kein Objekt

Sie ist nicht Gegenstand für den Menschen. Der Gegenstand des Denkens, wenn es sich auf die Natur richtet, kann nur eine Abstraktion sein, ein Konstrukt, aber nicht die wirkliche Natur. Das Subjekt-Objekt-Denken ist sicher notwendig und in sich gerechtfertigt, für die Erkenntnis der Natur aber ist es prinzipiell methodisch unangebracht. Bedeutet Wissen objektives Wissen, dann kann es keine Naturwissenschaft, sondern nur Verhaltenswissenschaft von beobachtbaren Vorgängen geben. Es kann aber wohl echte Naturerkenntnis geben.

Unsere dominante Denkweise heute ist von der Naturwissenschaft geprägt. Was vielleicht den Genius, die Großartigkeit der westlichen Zivilisation seit den Griechen ausmacht, ist die Klassifikation. Wenn Sie irgendein naturwissenschaftliches oder soziologisches Buch nehmen, finden sie nur Einteilungen und Verteilungen: Ohne Klassifikation bliebe nur Chaos. Aber zwei Dinge können prinzipiell nicht in die Klassifikation eingehen: Erstens das Kriterium der Klassifikation. Das Kriterium aber ist pragmatisch und gefährlich. Tibet und die Schweiz würden ineinanderfallen, wenn das Kriterium einfach die Gebirge wären; nicht aber, wenn es Geld ist.

Auch ein zweites kann nicht in die Klassifikation eingehen – und das ist mein eigentliches Anliegen: der Klassifikator. Ich, der Mensch, der klassifiziert, kann nicht in die Klassifikation eingehen. Und wenn der Mensch doch in die Klassifikation eingeht, ist seine Menschlichkeit und seine Würde und, was er eigentlich ist, verloren. Wenn ich mich in einer Klassifikation gefangennehmen lasse, wo liegen dann noch meine Würde, mein Selbstbewusstsein, meine Freiheit?

Jeder von uns ist unklassifizierbar! Alles von uns kann klassifiziert werden: DNA und Blut und alles, mit Ausnahme von diesem Kern, der ich selbst bin. Der wirkliche Mensch verschwindet in der Klassifikation. Der Gegenstand des Denkens ist nur eine Abstraktion, der Gegenstand des Willens nur eine Projektion.

Wollen die Ökologen nun die Natur mit dem Denken zähmen, wie die Technokraten sie auszunützen versuchen?

Das ist eine Haltung, die ich polemisch die Jägerepistemologie nenne: Du musst ein Subjekt werden und alles andere zum Objekt machen. Du musst deine Untersuchungen ganz genau machen, auf die Jagd nach einem konkreten Ziel gehen. Und wenn du das gefunden hast, dann kannst du die Flinte anlegen, abschießen und ins Schwarze treffen. Dann kannst du daraus Schlüsse ziehen. – Und dann klagen wir darüber, dass wir alle gewalttätig sind.

Wir sind im allgemeinen so erzogen, dass wir unsere Vernunft als eine Waffe benutzen: damit ich recht habe, damit ich dich überzeuge, damit ich Macht über dich habe. Der Gebrauch der Vernunft als einer Waffe steht wahrscheinlich hinter allem anderen, was uns schädlich ist und uns plagt. Die wahre Natur der Vernunft besteht aber nicht darin, Siegerin zu sein. Es ist wichtig, sich der zerfressenden Macht des abstrakten Denkens bewusst zu werden. Wenn Sie eine Sache denken, durchdenken und ausdenken, verschwindet sie. Die Subjekt-Objekt-Denkweise ist für die Frage nach dem Umgang mit der Natur unzulässig.

Unzulänglichkeit naturwissenschaftlicher Kategorien

Sie sind nützlich für vieles – ich bin beileibe nicht gegen die Naturwissenschaften. Sie haben Platz. Aber nicht hier, denn naturwissenschaftliche Kategorien sind unzulänglich, um die Natur zu erkennen. Erkennen heißt mehr als Wissen um Verhaltensweisen.

Die neuzeitliche Naturwissenschaft muss notwendigerweise die Objektivierbarkeit und Messbarkeit der Natur voraussetzen. Und letzten Endes setzt sie ein mechanistisches Weltbild voraus. Sie ist monokulturell und kann sich nur universalisieren, wenn sie alle anderen Kulturen vertreibt. Vielleicht ist dies das Schicksal des Planeten.

Aber diese Naturwissenschaft ist weder allgemeingültig noch universal. Sie gehört wesensmäßig zu einer bestimmten Kultur, die zweifelsohne eine gewisse Wahrheit in sich enthält. Wenn wir die anderen Kulturen nur aus romantischen Gründen zulassen, dann wird es höchste Zeit, dass wir ein Museum für sie machen und sie verschwinden lassen. Kultur ist nicht Folklore. Jede Kultur hat ihre unverwechselbare Eigenart und ist ein Ganzes, in dem Politik, Religion und Wirtschaft ihren Platz haben.

Naturwissenschaft kann Verhaltensweisen der Natur nur voraussagen, weil sie gemessen und daraus Verhaltensgesetze abgeleitet hat. Um den Unterschied mit anderen Kulturen zu beleuchten, seien, ohne jetzt auf ihren Wahrheitsgehalt einzugehen, drei Grundmetaphern zitiert, die in verschiedenen Kulturen als Grundmetaphern der Realität vorgestellt worden sind.

         (1) Am Anfang war der “Big Bang”, eine Energieexplosion; das macht Sinn nur in einem mechanischen Weltbild.

         (2) Am Anfang war das kosmische Ei (Hiranyagarbha, Anaximander usw.); das ist nur plausibel innerhalb eines lebendigen Weltbildes, wo das Universum lebendig ist (vgl. die anima mundi-Theorie).

         (3) Am Anfang war das Wort (dies sagen bereits die Veden acht Jahrhunderte vor dem Johannesevangelium); das ist nur plausibel innerhalb eines Universums, das intelligent und lebendig ist; sonst hat das keinen Sinn. Die drei Grundmetaphern sind nur plausibel innerhalb des jeweiligen verschiedenen Weltbildes. Ist die Natur etwas mehr als eine große Maschine, so ist die Naturwissenschaft für eine solche Erkenntnis der Natur unbefugt.

Erkennen der Natur

Wirkliches Erkennen erfordert eine Verwandlung in das Erkannte. Wahres Erkennen ist unmöglich ohne Liebe. Die menschliche Natur ist Kultur; und Erkennen ist die menschliche Art, Natur zu sein und nicht die Natur zu kontrollieren, vielmehr uns in sie zu verwandeln: “connaissance = naître ensemble” (Erkennen, “con-naître“, als “zusammen geboren werden“).     

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung stand in einer Anzeige. “Wir brauchen die Kernkraft nicht zu lieben”. Das ist das Problem? Es wird uns zugemutet, wir müssten mit etwas leben, das wir nicht lieben. Das ist das Verhängnis der heutigen Zeit: Dass wir mit vielen Sachen leben müssen, die wir nicht zu lieben brauchen. Das Feuer ist gefährlich, aber wir lieben es. Es ist liebenswürdig.

Es geht nicht darum, die Natur romantisch zu betrachten, sicher nicht. Es geht auch nicht darum dass wir in ununterschiedener Weise uns als nur natürlich betrachten. Denn die menschliche Natur ist Kultur, und das heißt Kultivierung. Kultivieren heißt pflegen, schöner machen, zur Vollkommenheit bringen, aber nicht durch Herrschaft und Kontrolle, sondern dadurch, dass wir die Schöpfung Gottes pflegend gestalten und gestaltend bewahren. Das sind andere Grundhaltungen.

Ökosophie: die Kunst des Umgangs mit der Natur

Nicht unser Know-how über die Erde oder Materie, sondern Ökosophie im Sinn eines Genitivus subjectivus: die Weisheit der Erde selbst, die wir anzuerkennen und zu erkennen haben. Das ist die Symbiose mit der Natur, wobei jeder seine eigene Rolle übernimmt.

Aber wir leben im Kriegszustand mit der Natur, gegen die Natur, und wir glaubten, wir seien die Sieger: “maîtres et possesseurs de la nature” (Descartes), “dissecare la natura” (Galilei). Mittlerweile fangen wir an zu erkennen, daß wir die Besiegten sind. Vor ein paar Jahren fand ein Symposium in Assisi statt unter dem Motto: “La terra non può aspettare” (die Erde kann nicht mehr warten). Mein Beitrag hieß: “La terra può; gli homini non possono” (die Erde kann warten, die Menschen können es nicht).

 Ökologie im gewöhnlichen Sinn ist nur Waffenstillstand: die Natur ein bisschen besser behandeln, damit sie uns noch ein bisschen länger dient und nützt. Aber das reicht nicht.

Die Weisheit der Natur zu erkennen ist natürliches Menschenwerk. Der Mensch ist es, der die Weisheit der Natur sein soll. Also kein romantisches Weltbild. Wir sind – wenn wir das sind, was wir wirklich sind – die Weisen der Natur, wenn wir die Natur nicht vergewaltigen und nicht nur verobjektivieren wollen. Wir sind aus der Natur, in der Natur, mit der Natur und auch über der Natur, weil wir nicht nur Natur sind. Wir sind die Weisen der Natur, die wissen können, wie in der Natur alles ist, und mit ihr eine Symbiose etablieren können, die uns allen das Leben ermöglicht.

Die Emanzipation von der Technokratie

Die Aufgabe ist politisch und spirituell: eine Befreiung von der Technozentrik, damit wir wirklich frei werden. Die kosmotheandrische Schau bietet diese neue Grundhaltung für das Leben in Frieden in und mit dieser Welt. Dazu noch einige Ansatzpunkte:

(1) Die Befreiung des Menschen von der Zwangsjacke der Technokratie geschieht durch die die Kunst, und nicht durch die Maschine. Im großen und ganzen sind unsere Befreiungsmittel heute die Maschinen. Aber die Befreiung des Menschen kommt durch den Menschen, nicht durch die Maschine. Ich betone ausdrücklich: Ich bin nicht gegen Werkzeuge (Technik ersten Grades). Sie sind sozusagen eine Verlängerung des Menschlichen. Wo sind, in diesem Sinn, unsere heutigen Ingenieure, die Techniken erfinden, welche eine Verlängerung des Menschen und des Menschlichen, nicht dessen Verdrängung sind?

(2) Die Unterscheidung zwischen Werk bzw. Tätigkeit und Arbeit, labour und work, ist wichtig. Arbeit heißt: Vermietung unserer Kräfte und Talente für etwas, was uns nicht unmittelbar angeht, und dafür kriegen wir Geld, d.h. etwas, für das man alle anderen Dinge bekommt. Bei einer Gesellschaft, die auf diese Weise die menschlichen schöpferischen Kräfte entfalten will, ist es kein Wunder, dass sie 30.000.000 Soldaten braucht. Der Mensch muss wirken, schaffen, tätig sein, aber das muss eine schöpferische Tätigkeit sein, nicht ein Dienst an der Megamaschine.

(3) Es geht wieder um den Primat der Kunst, im Sinn der aristotelischen Poiesis, was nicht nur Praxis ist: Wir sollen das machen, was uns Freude, Befriedigung und Verwirklichung schenkt. Eine kleine Geschichte: Auf dem Zócalo, dem zentralen Tempel-Platz von México-Distrito Federal. Vor zwanzig Jahren. Diesmal kein Nordamerikaner, sondern ein Spanier. Er sieht einen Mann, der Stühle macht und bemalt, auf mexikanische Weise. Da er sein Haus einrichten will, fragt er: “Wieviel kostet ein solcher Stuhl?” “10 Pesos”, lautet die Antwort.

“Ich will sechs Stühle, sechs Stühle genau wie diesen. Ich gebe dir 50 Pesos.” “Nein”, sagt der Mann, “75 Pesos!” – “Was für ein ungebildeter Mensch! Du hast nie im Leben 50 Pesos zusammen gesehen und weißt nicht, wie viel das sind. Ich bezahle dir 50 Pesos für die sechs Stühle, und nicht 75.” “Nein”, sagt der Mann, “nur für 75 Pesos.” “Also ich zahle dir 60, oder gar nichts.” “Nein”, erwiderte er, “75 Pesos.” “Aber kannst du mir wenigstens erklären, wie du auf 75 kommst, wo doch 6 mal 10 nur 60 sind?” “Warum? Wer bezahlt mich für die Langeweile, alle Stühle gleich zu machen!” Wir Menschen handeln schon wie die Maschinen. Unser Menschsein ist schon mechanisiert. Für Maschinen gilt: 6 mal 10 ist 60, aber nicht für uns Menschen.

Ökosophie, die Weisheit der Erde!

Und freier Raum für provisorische Alternativen! Das setzt Vertrauen voraus. Es gibt keine Alternative, aber es gibt die Möglichkeit freien Raums für provisorische und mehrere Alternativen. Preußen und Bayern, Afrikaner und was immer: freier Raum für dezentralisierte Alternativen.

In einem Wort: metánoia. Aber metánoia bedeutet drei Dinge, von denen zwei genügend unterstrichen worden sind. Das erste ist Buße und Reue, das zweite Bekehrung, also eine Änderung der Mentalität. Aber zum dritten bedeutet metánoia nicht nur Änderung des Denkens; es meint auch die spirituelle und geistige Entdeckung, dass wir nicht Denkmaschinen oder  auch nur denkende Lebewesen sind, sondern mehr, nicht weniger! Diese Art Umdenken heißt, uns selbst und die Natur zusammenzudenken. Wir haben dasselbe Schicksal.


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Liebe – Urquelle des Kosmos:
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von Raimon Panikkar (Autor), Hans-Peter Dürr (Autor), Roland R. Ropers (Hg.) (Autor)

Können die Naturwissenschaften das Rätsel des Daseins und der Welt restlos aufklären? Der berühmte Quantenphysiker Hans-Peter Dürr und der indisch-spanische Religionsphilosoph und Mystiker Raimon Panikkar treten hier in ein spannendes Gespräch über die letzten Geheimnisse der Wirklichkeit ein.

 

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27.10.2022
Roland R. Ropers
Religionsphilosoph, spiritueller Sprachforscher, Buchautor und Publizist

www.KARDIOSOPHIE-NETWORK.de


Über Roland R. Ropers

Ökosophische Bewusstsein Ropers Portrait 2021

Roland R. Ropers geb. 1945, Religionsphilosoph, spiritueller Sprachforscher,
Begründer der Etymosophie, Buchautor und Publizist, autorisierter Kontemplationslehrer, weltweite Seminar- und Vortragstätigkeit.
Es ist ein uraltes Geheimnis, dass die stille Einkehr in der Natur zum tiefgreifenden Heil-Sein führt.

>>> zum Autorenprofil

Alle Beiträge des Autors auf Spirit Online

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von Roland R. Ropers und
Andrea Fessmann, Dorothea J. May, Dr. med. Christiane May-Ropers, Helga Simon-Wagenbach, Prof. Dr. phil. Irmela Neu

Die intellektuelle Kopflastigkeit, die über Jahrhunderte mit dem Begriff des französischen Philosophen René Descartes (1596 – 1650) „Cogito ergo sum“ („Ich denke, also bin ich“) verbunden war, erfordert für den Menschen der Zukunft eine neue Ausrichtung auf die Kraft und Weisheit des Herzens, die mit dem von Roland R. Ropers in die Welt gebrachten Wortes „KARDIOSOPHIE“ verbunden ist. Bereits Antoine de Saint-Exupéry beglückte uns mit seiner Erkenntnis: „Man sieht nur mit dem Herzen gut“. Der Autor und die sechs Co-Autorinnen beleuchten aus ihrem individuellen Erfahrungsreichtum die Vielfalt von Wissen und Weisheit aus dem Großraum des Herzens.

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