Das versteckte Selbst und die Wahrnehmung
Im Film WAKING UP & GROWING UP spricht der integrale Philosoph und Mystiker Ken Wilber darüber, warum es so schwer für uns ist, das wahre Selbst zu entdecken. Auch wenn es in der Frage nach dem wahren Selbst sicher nicht mit einer Antwort getan ist, so zeigt Wilber hier einen bedeutsamen und überraschenden Aspekt auf, wenn es darum geht, in eine fühlbare Verbindung mit dem Urgrund allen Seins zu kommen und warum dieser für uns dennoch so schwer zugänglich scheint.
Eines der Probleme in Bezug auf das wahre Selbst, so Wilber, liegt darin, dass unser Gehirn im Lauf der Evolution gelernt hat, Empfindungen und Eindrücke, die nicht dauerhaft wichtig und gefährlich erscheinen, als unbedeutend wahrzunehmen und demnach auszublenden. Das heißt unsere Aufmerksamkeit wird von dem angezogen, was uns möglicherweise bedroht, wie z.B. ein angreifender Tiger. Wenn das Ereignis dann nicht mehr wichtig erscheint, hört unser Gehirn bereits nach 15 Sekunden auf, sich näher damit zu befassen, und schon nach ca. 15 Minuten wird es das Ereignis, wenn es uns nicht mehr problematisch erscheint, gänzlich ausgeblendet haben.
Im Zusammenhang mit dem wahren Selbst,
so Wilber weiter, ist das ein ernstzunehmendes Problem. Vor allem, wenn wir das wahre Selbst, als reines Bewusstsein, als die reine Wahrnehmung hinter allen Erscheinungen verstehen. Denn dieses Selbst ist seinem Wesen nach grenzenlos und unveränderlich. Da es reines, zeitloses Bewusstsein ist, reiner Geist, das unmittelbare Gewahrsein, wird in vielen spirituellen Traditionen auch vom Zeugen- oder Beobachterbewusstsein gesprochen. Dieses ist sich aller Wahrnehmungen und Erscheinungen voll bewusst, ist aber selbst nicht ihrer vergänglichen Dynamik unterworfen, weil es dasjenige ist, was „schaut“.
Also die reine Wahrnehmung, das reine Gewahrsein, noch bevor sich irgendein Inhalt davor schiebt und daran anhaftet. Wenn nun das Gehirn dieses unveränderliche Beobachterbewusstein beobachtet, so wie es in Meditationserfahrungen der Fall ist, dann wird der oben beschriebene Reflex bald dazu führen, dass das Gehirn dieses Bewusstsein als unwichtig erkennt, weil es sich einerseits nicht verändert und gleichzeitig keine Gefahr darstellt.
Insofern wird das Gehirn beginnen, das Ereignis und die Wahrnehmung des wahren Selbst auszublenden:
Wir kennen das nur allzu gut, wenn sich in die geistige Ruhe kontemplativer Versenkung, plötzlich und wie uneingeladen, Alltagsgedanken mischen. Das Gehirn beginnt, die Erfahrung des wahren Selbst zu überschreiben, und so legt sich eine Art Schleier über unser wahres Selbst. Das erklärt auch das viel zitierte Paradoxon, das vielen spirituell ausgerichteten Menschen bekannt ist. Dass die Natur des wahren Selbst zu einfach ist, um sie zu erkennen. Dass wir es also nicht mit eigenem Wollen oder eigener Absicht erreichen können.
Wenn wir unter dem wahren Selbst das verstehen, was uns zur Wahrnehmung befähigt, dann ist es in jedem Moment einfach da, ganz egal, ob wir es bemerken oder nicht. Um es fühlbar zu bemerken, müssten wir innerlich still werden, müssten wir zum Grund vordringen, auf dem das stattfindet, was unser Gehirn fortwährend mit der Realität verwechselt. Nun geht es nicht darum, die oberflächliche Gedankenrealität abzulehnen, aber vielmehr zu erkennen, dass sie auf einem tieferen und immerwährenden Grund basiert – ein Seins-Grund, der uns zu unserem wahren Selbst führt.
Und so ist die Wahrnehmung und die Fähigkeit zur Wahrnehmung selbst wie ein versteckter Schlüssel, der uns das Tor zu unserem wahren Selbst öffnet und über den wir in eine fühlbare lebendige Beziehung bis hin zu einem Eins-Sein im Selbst geführt werden können. Dieses Sich-Einlassen auf die reine und ureigene Wahrnehmung (noch vor jeder Interpretation) führt uns zu einem immer genaueren Spüren von Ablenkungsmechanismen und dem oben zitierten Ausblenden und Verdrängen des wahren Selbst, das so weit gehen kann, dass wir uns gefühltermaßen gänzlich davon getrennt wahrnehmen.
CHRONISCHE ABLENKUNG
Eine von einer chronischen Ablenkungsmaschinerie überschwemmte Gesellschaft mag Indiz genug dafür sein, wie weit wir uns äußerlich und folglich auch innerlich schon abgetrennt haben von dem, was uns im Innersten ausmacht und zusammenhält. Wenn diese Wiederanbindung an unser wahres Selbst mehr und mehr geschieht, dann beginnt ein neues Da-Sein in Form einer Seins-Durchdringung, die sich nunmehr spürbar von der Ur-Quelle speist.
Insofern können wir die reine Wahrnehmung als wichtigen und unbedingt not-wendigen Schritt zur Ganzwerdung betrachten, sozusagen der Fels, auf den wir uns stützen können. Und von dieser Warte aus können wir Neu-Werden, weil wir uns wieder verbunden und angebunden fühlen, ohne dafür unsere Persönlichkeit einzubüßen. Vielmehr wird unsere persönliche Essenz erst wirklich spürbar, wenn wir über die reine Wahrnehmung wieder zu uns selbst gefunden haben und der vormals schlafende und später passive „Zeuge“ in uns zum aktiven Leben erwacht. Wer es aushält, drei Minuten auf eine scheinbar unveränderliche Szene zu blicken und sich so mit seiner eigentlichen Wahrnehmung zu verbinden, wird einen ersten Geschmack davon erhalten.
DAS TOR ZUM SELBST
Warum wir in der unmittelbaren, spontanen und mühelosen Wahrnehmung unser wahres Selbst finden.
In diesem Kern, in dieser Ur-Quelle bin ich der Ozean, der Wald, die Lebewesen, die Erde, der Kosmos. Ich erlebe alle Phänomene als mein eigenes Innenleben ungetrennt von meiner Wahrnehmung. Alles erscheint als Inhalt meiner Wahrnehmung und meine Wahrnehmung selbst ist davon niemals auch nur ansatzweise betroffen. Es sind große Wogen, die sich auftürmen, gleich den Bildern in Träumen – sodass ich sehen kann, ohne in der Essenz auch nur im Geringsten berührt oder verletzt zu werden.
Sich dem hinzugeben, ist die größtmögliche Befreiung und die augenblickliche Beendigung allen Leidens. Weil jedes Leiden aus einer Form der entfremdeten Selbst-Wahrnehmung entspringt. Ich nehme mich selbst als getrennt von meiner Wahrnehmung wahr, indem ich die Objekte meiner Wahrnehmung zum Teil ablehne oder zum Teil begehre, zum Teil interpretiere oder mich mit ihnen identifiziere.
Die reine mühelose Wahrnehmung, die in jedem Moment einfach da ist, ist jedoch frei von jeglichem Urteil und jeglicher Anhaftung oder Ablehnung – weil jedes Urteil, jede Anhaftung und jede Ablehnung ein Inhalt meiner Wahrnehmung sind und als solche kein eigenständiges, selbstschöpferisches Gewahrsein besitzen. Es sind Regungen und Reflexe, die in unserem Bewusstsein aufsteigen, und jede davon kann mit unserem Gewahrsein und unserer Wahrnehmung vollständig „gesehen”, durchdrungen und somit wieder aufgelöst werden. Damit erkennen wir ihre letztendliche und in den spirituellen Traditionen so oft zitierte „Substanzlosigkeit“ – und somit sind all diese Regungen da und gleichzeitig auch nicht da.
Auf der relativen und vergänglichen Ebene sind sie ganz eindeutig da.
Auf der absoluten und zeitlosen Ebene haben sie ganz eindeutig keinen Bestand, dort sind sie in sich leer. Das Einzige, was dort bestand hat, ist der Ur-Kern, die Ur-Quelle, der lebendige Ur-Sprung, in Form der reinen Wahrnehmung, die in jedem Moment vollkommen gegenwärtig ist – ganz ohne unser Zutun ist und war sie sie schon immer da. Deswegen existiert sie auch außerhalb der Zeit, weil das Entstehen der Wahrnehmung nicht an einen Moment in der Zeit gebunden sein kann. Denn dann wäre sie zerstückelt, unterbrochen und fragmentiert.
Die Wahrnehmung an sich ist aber ein sich selbst gebierendes (Bewusstseins-)Kontinuum und so durchwandert sie das ganze Spektrum unseres Bewusstseins – vom Wachzustand, über den Schlaf- und Traumzustand bis hinein in den Tiefschlaf. Ohne jede Absicht und Anstrengung ist sie einfach da – in reinster Bedingungslosigkeit.
Denn wie wir ganz einfach erkennen können, ist die Fähigkeit zur Wahrnehmung an keine Bedingungen gebunden. Sie verschwindet nicht, wenn wir uns schlecht fühlen oder wenn wir andere schlecht behandeln, sie verschwindet oder verändert sich auch nicht, wenn wir uns gut fühlen oder uns angemessen verhalten.
Auf allen Ebenen des Bewusstseins und des Ausdrucks bildet sie immer schon und unveränderlich die Grundlage all unserer Erfahrungen und Zustände.
Und so können wir ganz natürlich unser Erleben innerhalb der Wahrnehmung anpassen und verändern, uns mehr zentrieren, gelassener und freundlicher werden – aber nie aus einem Zwang heraus, sondern aus dem natürlichen Bedürfnis, das in einem Menschen aufsteigt, wenn er den Kern seines Selbst in dieser einfachen und grenzenlosen, alles umfassenden Wahrnehmung erkennt, in der es kein Außen und kein Innen mehr gibt, sondern Innen und Außen nur mehr die Spiegel von ein- und derselben Wirklichkeit sind.
Diese Wahrnehmung übersteigt dann die Grenzen der individuellen Wahrnehmung (die wir als Interpretations- und Wahrnehmungsfilter erleben) und man sieht, wie man selbst als Inhalt dieser ursprünglichen Wahrnehmung erscheint und von Moment zu Moment auch wieder vergeht.
Im selben Maße, wie all die Situationen, die wir erleben, vergänglich sind und als innerer Film vor unserem geistigen Auge ablaufen können: eine Ereigniskette, die wir beobachten und wahrnehmen können – aber von der unsere Fähigkeit zur Beobachtung und Wahrnehmung nicht im Geringsten betroffen ist. Und aus dieser Perspektive können wir Einfluss nehmen auf die Bilder, Situationen, Stimmungen und Erfahrungen, mit denen wir uns selbst und unsere Wahrnehmung anreichern. Da ist authentische Entspannung und Gelassenheit zugänglich, wo vieles möglich ist, aber nichts mehr erreicht werden muss. Das ist die Wahlfreiheit innerhalb der manifesten Wirklichkeit, die selbst zur Gänze ein Inhalt unserer Wahrnehmung ist.
Denn die absolute Grenze ist deine eigene Wahrnehmung –
du wirst niemals etwas tun oder erfahren können, was außerhalb deiner Wahrnehmung stattfindet, und insofern hast du dich selbst gar nie verlassen, du hast dich immer schon gefunden, du warst immer schon im Zentrum und bist nur vorübergehend und scheinbar ausgezogen, indem du die Erfahrungen, die Reise, das Hinausschauen in die Welt, für dich selbst gehalten hast: Nun ist die Zeit gekommen, die immer schon da war und für die es nie zu spät ist.
Das ist befreiende Hingabe, nicht an ein Konzept, ein externes Objekt oder Subjekt unserer Fantasie und Vorstellung, sondern an die pure und augenblickliche Lebendigkeit deiner ureigensten Wahrnehmung, die als alles verbindende Quelle die Wahrnehmung von jedem von uns ist. Sie geht soweit zurück, bis jeder und alles in dieser einen, ungetrennten Wahrnehmung auftaucht und Raum findet. Diese Qualität der Wahrnehmung an sich – die noch keinen Inhalt hat – ist das Eine, das ICH BIN, das in der zeitlosen Ewigkeit des Hier und Jetzt in leuchtender Klarheit die gesamte manifeste Welt in sich trägt und alles Leiden, alles Streben, alles Glück und alle Erfüllung zum Leben erweckt und zum Sterben wieder preisgibt, in nicht-unterscheidender Gleichheit. Das ist seine Natur – dieses Alles, im nicht-unterscheidenden Raum.
Und wenn Unterscheidung auftaucht, dann taucht sie einfach in der Wahrnehmung auf, wird zur individuellen Wahrnehmung, als diese ausagiert oder auch nicht und dann wieder Teil der größeren Wahrnehmung, des größeren Traums, der größeren Einheit, des Einem in Allem.
Diese Möglichkeit ist uns immer gegeben, als Prozess unserer Entwicklung, als Prozess des Erwachens zu uns selbst, in uns selbst.
Wir erleben nichts anderes, als unseren ur-eigenen Traum, von Moment zu Moment, von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr, vom Leben zum Sterben – alles ist der eine Traum, ohne Ursprung und Konsequenz. Echte Wahrnehmung ist ohne Anfang und ohne Ende, ungeboren und unsterblich, denn in ihr sind Anfang und Ende, Leben und Tod aufgehoben und im zeitlosen Jetzt, im raumlosen Hier verankert. Im Jetzt und Hier dieses einen, unveränderlichen Moments der reinen, mühelosen Wahrnehmung.
Inspiration: Die meditative Kurzfilm-Serie MIND SLOWING CINEMA ist eine gute Möglichkeit um dieser Form der einfachen und unmittelbaren Wahrnehmung nachzuspüren. wegezumselbst.at/mind-slowing-cinema
20.03.2021
©Ramon Pachernegg
WEGE ZUM SELBST-Gründer, moderner Mystiker, Filmemacher und Heilströmer
Bild- und Textnachweis:
Text: ©Ramon Pachernegg
Bild: Serie MIND SLOWING CINEMA / ©Ramon Pachernegg
Filmlink: WAKING UP & GROWING UP mit Ken Wilber | wegezumselbst.at/wakingup
Website: wegezumselbst.at
Ramon Pachernegg
(geb. 1978) Er ist Vater einer Tochter, WEGE ZUM SELBST-Gründer, moderner Mystiker, Filmemacher und Heilströmer (nach der in Österreich zertifizierten Methode Impuls-Strömen®). Die intensive Durchdringung der integralen Theorie Ken Wilbers, jahrelange Meditationspraxis und die Erforschung transpersonaler Bewusstseinsräume (auch in vielen eigenen Erfahrungen) haben 2016 zur Gründung des Vereins und der Webseite WEGE ZUM SELBST geführt. Auf WEGE ZUM SELBST finden sich spirituelle Erfahrungsräume für erwachende und erwachte Menschen.
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