Buddhistische Palliativschwester erzählt über den Tod

Roland Ropers Dorothea Mihm Tod gehört zur Liebe hospice

Tod gehört zur Liebe  –  die buddhistische Palliativschwester Dorothea Mihm

Dorothea Mihm hat Tausende von Menschen im Sterben begleitet und lässt uns an ihrem umfangreichen Erfahrungswissen teilhaben, das für den Bereich der Palliativ- und Hospizpflege bisher ungeahnte Wege eröffnet, die mit den herkömmlichen schulmedizinischen Methoden der westlichen Welt nicht beschritten werden konnten. Elisabeth Kübler-Ross (1926 – 2004) hatte im Umgang mit Sterbenden eine Pionierarbeit begonnen, die nunmehr von Dorothea Mihm aufgrund ihrer zahlreichen Aufenthalte bei spirituellen Meistern in Indien und Tibet auf ein erstaunlich hohes Bewusstseins- und Wahrnehmungsniveau gebracht wurde. Der Tod gehört zur Liebe. 

Der Tod gehört zur Liebe und zum Leben dazu

„Mein ganzes Leben ist durchzogen von Begegnungen mit sterbenden Wesen. Menschen, Tiere, Kreaturen. Bis heute. Der Tod ist mein Begleiter, aber auch mein Widerpart. Ich überlasse ihm nicht so einfach die Macht. Ich gehe ihm nicht zur Hand. Ich helfe ihm nicht. Aber er ist auch nicht mein Feind. Ich kämpfe nicht gegen ihn an. Der Tod gehört für mich zur Liebe und zum Leben. Denn es gibt kein Leben ohne ihn. Das eine bedingt das andere. Es ist ein ständiger Kreislauf von Werden – Sein – Vergehen.

Dieser Dreiklang bestimmt unsere Welt, unser Leben. Jeder Atemzug produziert Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Das, was war, ist, sein wird…    Tod gehört zur Liebe

Dieses Buch handelt auch von der Kraft, die alles überspannt: der Liebe, dem Mitgefühl. Wo der Tod ein Zeichen für das Vergängliche, das Sterbliche ist, steht die Liebe für den göttlichen Funken, für das Ewige, Unzerstörbare, Bleibende. Die Liebe ist die einzige Kraft, die dem Tod und der Angst überlegen ist, die unsere Hoffnung nährt und damit unser Leben stärkt.“

Dorothea Mihm – die buddhistische Palliativschwester

Dorothea Mihm kommt am 12. März 1958 in Hünfeld/Rhön zur Welt. Bereits im Mutterleib begegnete sie dem Tod; ihre Mutter hatte Leberkrebs im Endstadium als Folge einer schweren Hepatitis im Alter von 34 Jahren. Die Eltern stammten von Bauernfamilien aus benachbarten kleinen Dörfern. Dorotheas Mutter Hedwig war das älteste von vier Kindern, drei Mädchen und ein Junge. Vater August, Jahrgang 1916, wuchs mit vierzehn Geschwistern auf. Der elterliche Hof, auf dem Dorothea streng katholisch aufwuchs, war ein mittelgroßer Betrieb mit drei Pferden, zehn Milchkühen, sechs Bullen, vierzig Schweinen und zwanzig Hühnern. Die Mutter arbeitete hart auf dem Feld und im Haus quälte sie sich noch acht Jahre mit ihrer schweren Erkrankung und starb plötzlich im Oktober 1966 vor den Augen ihrer Tochter während des Abendessens.    Tod gehört zur Liebe

„In dieser Zeit legte sich eine unsichtbare Glocke über mich. Ich war wie betäubt. Mit dieser Glocke schützte ich viele Jahre mich und mein Inneres. Wie notwendig das war, würde ich erst viel später begreifen…

In den folgenden Tagen begann ich, alles aufzusammeln, was tot war, vor allem Ratten und Mäuse, um sie alsbald aufzuschneiden und die Seele zu suchen. Ich sezierte wie eine Wilde, aber eine Seele fand ich nie. Von da an war mir klar: Ich möchte Krankenschwester werden, Operationsschwester. Ich dachte: Wenn ich die Seele bei Toten oder gerade Verstorbenen nicht finden kann, dann muss man eben in den lebenden Körper hineinschauen, dann wird man sie schon erkennen können. So hatte ich meinen beruflichen Lebensweg schon als Achtjährige vor Augen…”

Nach dem Tod der Mutter

legte sich eine unsichtbare Glocke über Dorothea.    Tod gehört zur Liebe

Nach dem Tod der Mutter begannen sehr schwere Jahre für Dorothea, die Beziehung mit dem Vater war kaum existent; sie wurde völlig ignoriert und empfand dies als seelische Gewalt. Erst wenige Tage vor seinem Tod im Jahr 1996 gab es eine beglückende Wandlung.

Eine Stiefmutter machte Dorothea das Leben zur Hölle. Sie machte zwei Suizidversuche, verfiel in Alkoholexzesse. Endlich, im Oktober 1976 beginnt sie ihre Ausbildung zur Krankenschwester – weit weg von ihrem belasteten und belastenden Elternhaus.  Tod gehört zur Liebe

Ihr erster Freund Stefan inspirierte sie zum Lesen anspruchsvoller Literatur und gab ihrem Leben eine neue Orientierung. Sie las Hermann Hesses „Siddharta“, die „Bhagavad Gita“ (den göttlichen Gesang Indiens), „Der Weg der weißen Wolke“ von Lama Anagarika Govinda (1898 – 1985). Und entschied sich für eine Alkoholentziehungskur und sammelte als junge Berufsanfängerin ihre ersten Erfahrungen auf einer Intensivstation. Sie machte ein glänzendes Examen, zusätzlich eine Ausbildung zur Heilpraktikerin.

Mit zunehmendem Reifungsprozess wechselten auch ihre Partnerschaften. Ganz auffällig sind das ausgeprägte Wahr- nehmungsvermögen von Dorothea Mihm und ihre Engelsgeduld am Sterbebett von Menschen – oftmals stundenlang in schweigender, bedingungsloser Präsenz und Liebe. Sie erlebt, dass vielen Todkranken aus Bequemlichkeit zu häufig übergroße Medikamentendosen verabreicht werden.

Basale Stimulation als Möglichkeit des Kontaktes von Herz zu Herz

„Selbst mit Patienten, die schon viele Wochen lang im Koma lagen, konnte ich in Kontakt kommen. Je häufiger ich die erlernte Basale Stimulation anwandte, desto besser verstand ich die Reaktion der Patienten. Meine Arbeit erhielt eine völlig neue Wertigkeit, zu der mir kein noch so tolles Lob meiner Vorgesetzten hätte verhelfen können. Es waren die Patienten selbst, die mich für all den Aufwand mehr als fürstlich entlohnten. Nicht materiell, sondern durch ihre Reaktionen, weil sie mir erlaubten, mit ihnen in Kontakt zu treten. Für mich ist das jedes Mal von neuem ein Geschenk, ein Dialog von Herz zu Herz. Es ist weniger Kommunikation als Kommunion, ein heiliger Austausch der Gaben. Tiefste Menschlichkeit. Liebe in reinster Form…“

Dorothea Mihm hatte in mehreren Kliniken gearbeitet und ihre Erfahrungen gesammelt. Der Chefarzt einer herzchirurgischen Abteilung (nicht ein Anästhesist oder Intensivmediziner) war tief beeindruckt von ihrer Arbeit und würdigte sie sogar im Jahresbericht der Klinik. Auf die Empfehlung des Herzchirurgen wurde ihr die Teilnahme an einem großen Kongress über „Sterben und Tod aus spiritueller Sicht“ in München ermöglicht.  Tod gehört zur Liebe

Sterben und Tod aus spiritueller Sicht    Tod gehört zur Liebe

Dorothea Mihms Weg führte nach Nepal und Tibet, wo sie in eine neue Dimension ihres Lebens eintauchen konnte. Lopön Tenzin Namdak Rinpoche (geb. 1926) wurde ihr spiritueller Meister und ist es nach vielen Besuchen und Retreats bis heute geblieben. Inzwischen ist die ehemalige Katholikin eine überzeugte Buddhistin. Sie kultivierte die Herzensliebe und dokumentiert in ihrem einzigartigen Buch eindrucksvoll ihren Umgang mit Sterbenden in jeder Altersstufe.

„Der Tod gehört zur Liebe. Der Tod gibt uns die Möglichkeit, unser wahres Selbst zu erkennen, das, was unser Inneres ausmacht. Er schenkt uns auch die Erkenntnis, dass die wahre, tiefe Liebe weit über den Tod hinausreicht.“      Tod gehört zur Liebe

Das Buch „Die sieben Geheimnisse guten Sterbens“ ist ein großes Geschenk und wesentlicher Beitrag für das Medizin- und Therapieverständnis im 21. Jahrhundert, wo der Abschied von einem mechanistischen Weltbild des Westens dringend erforderlich ist. Die Gedanken der Palliativschwester wurden von der in Hamburg lebenden Diplom-Biologin, Journalistin und erfolgreichen Sachbuchautorin Annette Bopp großartig zusammengefügt als wunderbare Einladung zu einer Lebens- und Lesereise.

Im Januar 1997 eröffnet Dorothea Mihm ihre eigene Naturheilpraxis Adarsha mit Schwerpunkten der Sterbevorbereitung und Trauerarbeit im Sinne der ganzheitlich tantrischen Lehre des tibetischen Buddhismus.

Menschen im Sterbeprozess begleiten ist Verbundensein mit dem Leben

Im April 2014 führte ich mit Dorothea Mihm ein langes Gespräch, das mich sehr beeindruckt hatte. Damals begann der Sterbeprozess des Quantenphysikers und engen Freundes Hans-Peter Dürr, den ich fast täglich begleitete. Er starb am Sonntag, 17. Mai 2014 im 85. Lebensjahr in München. Die Erfahrungen von Dorothea Mihm waren mir eine große Hilfe.

Gespräch zwischen Roland R. Ropers und Dorothea Mihm

Roland R. Ropers: Ende März 2014 erschien im Münchner Kailash-Verlag Ihr beeindruckendes Buch „Die sieben Geheimnisse guten Sterbens – Erfahrungen einer buddhistischen Palliativschwester“, das Sie zusammen mit der in Hamburg lebenden Diplom-Biologin und Sachbuchautorin Annette Bopp geschrieben haben. Mit dieser Publikation haben Sie einen bedeutenden Meilenstein im und Maßstäbe für das 21. Jahrhundert gesetzt, wo die medizinische Wissenschaft vor gewaltigen Veränderungen steht und sich von dem herkömmlichen mechanistischen Weltbild verabschieden muss. Mehr als 30 Jahre haben Sie als ausgebildete Krankenschwester Tausende von Menschen im Sterben begleitet und dabei außergewöhnlich Erfahrungen gesammelt. Ist der Tod die Fortsetzung eines „ewigen Lebens“ – ein Szenenwechsel im kontinuierlichen Prozess der Veränderung?

Die sieben Geheimnisse guten Sterbens Dorothea Mihm    Tod gehört zur LiebeDorothea Mihm: Für mich sind Sterben und Tod, wie das Leben selbst, nur Zwischenbereiche eines großen Kreislaufs. In diesem Kreislauf gibt es keinen Anfang und kein Ende, eben, weil es ein Kreis-Lauf ist. Wir alle wandeln in diesem Kreislauf umher, sind ständigen Veränderungen ausgesetzt, und interessanterweise wundern wir uns immer darüber. Es scheint im Verständnis der Menschen eine große Sehnsucht nach Beständigkeit zu geben.

Diese Sehnsucht hindert uns daran, in der Gegenwart zu leben.

Wir verhaften uns an Altem und hoffen darauf, dass möglichst alles bleibt, wie es war. Wenn dann aber Sterben und Tod in unser Leben treten, erleben wir das als tiefe Erschütterung. Denn das erinnert uns jäh daran, dass wir nichts festhalten können, dass nichts bleibt, wie es ist, dass alles im Leben Veränderung bedeutet, und dass wir im Tod alles loslassen müssen, was wir liebten und was uns wichtig war.

Roland R. Ropers: Bemerkenswerterweise setzen Sie der Angst die Liebe gegenüber. Ist die Angst – oftmals vielleicht nur latent – ein Lebensphänomen schlechthin, das sich in der Todesstunde nochmals dramatisch zeigt? Haben wir möglicherweise die wesentliche Bedeutung von Liebe falsch verstanden?

Dorothea Mihm: Angst ist eines der wichtigsten Gefühle, die wir in uns tragen. Sie schützt uns vor Gefahren. Das ist die eine, die eher oberflächliche Seite. Angst zu haben, bedeutet aber auch, dass ich von einem Selbst ausgehe, einer Wesenheit, die wir das Ich oder das Ego nennen. Nur dieses Ego kann Angst erfahren. Im tibetischen Buddhismus gehen wir davon aus, dass es im Idealzustand aber kein Ich, kein Ego gibt – nur bedingungslose Liebe. Dann gibt es auch niemanden mehr, der Angst haben kann oder muss. Nach diesem Zustand streben wir. Und bis wir ihn erreichen, müssen wir eben viele, viele Zyklen durch verschiedene Leben gehen – und dabei auch immer wieder Angst erfahren.

Angst ist eines der wichtigsten Gefühle  Der Tod gehört zur Liebe

Roland R. Ropers: Mit großer Geduld und Ruhe hören Sie Ihren Patienten oft stundenlang und mit großer Aufmerksamkeit zu bzw. nehmen sie in ihren verschiedenen Ausdrucksmöglichkeiten wahr, wenn sie nicht mehr sprechen können. In der Regel werden schwer kranke oder sterbende Menschen wegen starker Schmerzen oder psychischer Verwirrung mit Medikamenten ruhig gestellt, sediert. Macht man es sich dabei zu leicht und zu bequem? Ist die Arbeit einer liebevollen Begleitung, die ja vielleicht die Sedierung erübrigen könnte, heute gar nicht zu leisten?

Dorothea Mihm: Zunächst einmal: Es ist ja unklar, was unter „psychischer Verwirrung“ zu verstehen ist. Häufig handelt es sich dabei ja um Zustände, die die moderne Medizin mit ihrem mechanistischen Menschenbild nicht versteht. Wenn man den Menschen mit anderen Augen ansieht, werden auch solche Zustände „normal“ und nachvollziehbar.

Zum anderen halte ich es in einem so reichen Land wie der Bundesrepublik Deutschland für einen Hohn, wenn gesagt wird, dass wir keine Zeit haben, um uns für unsere Mitmenschen in ihrer großen Not im Sterbeprozess angemessen zu kümmern. Natürlich ist es bequem und personalsparend, einen Sterbenden medikamentös einfach ruhig zu stellen. Was aber tut man damit? Man nimmt diesem Menschen die Möglichkeit, den Sterbeprozess bewusst und liebevoll begleitet zu durchleben. Wenn ein Mensch tatsächlich eine solche Sedierung wünscht – dann ist das seine Entscheidung. Die meisten werden aber ja gar nicht gefragt. Und viele würden sich dagegen entscheiden, wenn sie wüssten, dass sie auch auf diesem schwierigen Weg angemessen begleitet würden.

In bestimmten Lebensphasen brauchen wir eine zuverlässige,

liebevolle Begleitung an unserer Seite.    Tod gehört zur Liebe

Dorothea Mihm Tod gehört zur Liebe
(c) Dorothea Mihm

Es ist doch wie bei der Geburt: Eine Schwangere, die weiß, dass sie eine kompetente Hebamme an ihrer Seite hat und einen erfahrenen Geburtshelfer im Hintergrund, hat keine oder kaum Angst vor der Geburt. Es würde uns auch nicht in den Sinn kommen, eine Gebärende bewusstlos zu spritzen, damit sie den Geburtsprozess nicht erleben kann, wenngleich wir heute mit der hohen Rate an medizinisch unnötigen Wunsch-Kaiser-schnitten schon gefährlich weit auf diesem Weg sind.

Wir sind mit der Palliativmedizin und der Hospizbewegung schon weit gekommen,

was die Enttabuisierung des Sterbens betrifft  –  aber noch lange nicht weit genug. Denn gerade die letzte Lebensspanne, wenn der Mensch in die aktive Sterbephase eintritt, wird bei uns sträflich vernachlässigt und nach wie vor tabuisiert. Weil nur wenige sich richtig damit auseinandersetzen, was in dieser Phase passiert. Deshalb haben wir diesem Prozess in unserem Buch auch so viel Raum gegeben.

Roland R. Ropers: Die Palliativmedizin hat zweifellos Fortschritte gemacht. Stehen wir aber nicht erst am Anfang einer humanen Sterbebegleitung? Ist der selbstbestimmte Tod eine von Verzweiflung bestimmte Ausweglösung?

Dorothea Mihm: Ja, ich glaube schon, zumindest in der Mehrzahl der Fälle. Wenn jemand Sterbehilfe für sich in Anspruch nimmt, liegt es ja meistens daran, dass er nicht abhängig und hilflos sein möchte. Dass er sein Leben bis zum Schluss selbst bestimmen möchte. Das ist nachvollziehbar, wenn wir uns die Situation in unseren Pflegeheimen und Krankenhäusern anschauen. Diese Missstände sind ja schon vielfach angeprangert worden – aber geändert hat sich nichts.

Anstatt die Sterbehilfe zu legalisieren,

wäre es aber sinnvoller, diese skandalösen Zustände zu beenden, mehr qualifiziertes Pflegepersonal einzustellen und eine würdige Sterbebegleitung anzubieten. Hier haben wir noch einen weiten Weg vor uns, auch auf den Palliativstationen und in den Hospizen.    Tod gehört zur Liebe

Roland R. Ropers: Worin liegt die Funktion des Arztes bei Sterbenden? Hat er genügend Zeit, sich den Patienten zu widmen, ihnen zuzuhören?

Dorothea Mihm: Der Arzt als Heiler und Priester – das war früher einmal. Heute gibt es leider vorwiegend Mediziner und kaum noch Ärzte. Natürlich hat der Arzt als Begleiter und Helfer im Sterbeprozess eine wichtige Aufgabe. Er muss sein Wissen und seine Kompetenz zur Verfügung stellen, um dem Patienten Leid und Schmerzen zu ersparen – neben der Pflege und anderen Therapeuten. Leider nehmen sich die meisten Ärzte heute kaum noch die Zeit, um sich über das Verordnen von Medikamenten hinaus angemessen um einen Patienten im Sterbeprozess zu kümmern, ihm zuzuhören, ihm beizustehen.

Es ist doch ein Armutszeugnis schlechthin, wenn ein Arzt zu einem Patienten sagt: „Ich kann nichts mehr für Sie tun.“ Ein Arzt kann immer etwas tun, bis zum letzten Atemzug des Patienten. Und sei es, ihm die Hand zu halten, die Füße einzureiben oder einfach da zu sein. Das erfordert aber eine bestimmte innere Haltung. Und daran fehlt es heute vielen Ärzten, den meisten. Leider.

Wir können immer etwas für einen anderen Menschen tun

Roland R. Ropers: Sie haben offensichtlich wiederholt beobachten können, dass Menschen, deren EEG eine Nulllinie aufwies, die also hirntot waren, noch Reaktionen zeigten, die eine weitere non-verbale Kommunikation ermöglichten? Haben Sie dies so häufig erlebt, dass Sie sagen können, die endgültige Feststellung des Todes bedarf einer völlig neuen Methode?    Tod gehört zur Liebe

Dorothea Mihm: Die Definition des Hirntods als Todesbeweis steht heute ja in der Diskussion, und das ist sicher berechtigt. Bei jedem Hirntoten, den ich pflegen durfte, konnte ich nach einer gewissen Zeit deutliche Reaktionen erleben – es waren Antworten eines Bewusstseins, das sich eben nicht über die neuralen Kommunikationskanäle mehr äußern kann, aber durchaus noch als Bewusstsein dieser Individualität spürbar und wahrnehmbar vorhanden war. Ich gehe davon aus, dass es in uns mehrere Bewusstseinsebenen gibt. Und wenn die kognitive Bewusstseinsebene unseres Gehirns zerstört oder funktionsunfähig ist, gibt es immer noch tieferliegende Bewusstseinsebenen, die mit uns kommunizieren können. Wir brauchen lediglich die passenden Wahrnehmungsinstrumente dafür. Die „Basale Stimulation in der Pflege“ ist dafür eine wunderbare Methode.

Roland R. Ropers: Wie gestalten Sie eine solche non-verbale Kommunikation?

Dorothea Mihm: Das kann ich nicht pauschal angeben, es ist immer ein sehr individueller Dialog auf verschiedenen Ebenen.

Was wissen wir über Nahtoderfahrungen?    Tod gehört zur Liebe

Roland R. Ropers: Für wie bedeutsam oder bedenklich halten Sie die Publikationen über Nah-Tod-Erfahrungen? Was macht die Menschen so neugierig?

Dorothea Mihm: Diese Berichte zeigen vor allem, dass das Leben mit dem Tod eben offenbar wirklich nicht vorbei ist, sondern dass es eine andere Ebene gibt, in der wir weiter existieren – als Geist, als Seele, als Ich, wie immer Sie das nennen wollen. Für mich ist es positiv, dass es diese Berichte und Bücher gibt. Auch weil sie eine positive Sicht auf das Sterben und den Tod eröffnen.

Roland R. Ropers: Warum ist die spirituelle Schulung, die Sie bei einem buddhistischen Lama bekommen haben, für Ihre Arbeit so wichtig? Was lehren uns die östlichen Meister und Weisen, das unsere westliche technokratische Wissenschaft nicht vermitteln kann?

Dorothea Mihm: Ich denke, wir haben hier im Westen nicht nur technokratische Wissenschaftler. Es gibt ja auch ein Europa und anderswo ein lebendiges Geistesleben, sogar in den Kirchen und in anderen Glaubenszusammenhängen. Ich persönlich habe dort aber nicht die Antworten gefunden, nach denen ich gesucht habe, wohl aber im tibetischen Buddhismus. Er lehrt uns eine große Offenheit. Und er lehrt uns vor allem, Liebe und Mitgefühl in unserem Leben zu kultivieren. Indem ich mich intensiv mit diesem jahrtausendealten Wissen auseinandergesetzt habe, auch mit den Schriften über Sterben und Tod, habe ich extrem viel gelernt und viele Bestätigungen für meine Beobachtungen erfahren. Und ich habe auch einen Gutteil meiner Angst und Ohnmacht, meiner Zweifel und Unsicherheit, meiner Aggression und Hilflosigkeit dem Sterben und Tod gegenüber verloren.

Der Buddhismus lehrt uns große Offenheit, Liebe und Mitgefühl

Roland R. Ropers: Erlebt ein in Frieden sterbender Mensch Freude und Klarheit in seinem Innersten, auch wenn er nach außen hin von Schmerzen geplagt und verwirrt erscheint?

Dorothea Mihm: Das wissen wir so nicht. Und das ist sicher bei jedem Menschen verschieden. Wenn der Schmerz dominiert, kann der Tod kaum friedvoll sein. Es kommt aber darauf an, um welchen Schmerz es sich handelt. Es gibt den körperlichen Schmerz und den seelischen oder geistigen Schmerz. Und ebenso gibt es unterschiedliche Mittel, um diese Schmerzen zu lindern. Stirbt ein Mensch in vollem Bewusstsein, mit friedlichem Geist und frei von störenden Körpersymptomen, ist es durchaus möglich, dass er in Freude und Klarheit sterben kann. Das kann man lernen, zu Lebzeiten. Das zu vermitteln, war ebenfalls ein Grund, warum wir dieses Buch geschrieben haben.

Roland R. Ropers: Welche Bedeutung hat die Atmosphäre der Stille in der Umgebung eines Sterbenden?

Dorothea Mihm: Sie ist sehr wichtig. Weil er so intensiv damit beschäftigt ist, sich von allem zu lösen, was sein irdisches Leben ausgemacht hat.

Stille ist sehr wichtig   Tod gehört zur Liebe

Roland R. Ropers: In Ihrem Buch haben Sie etwas Wunderbares geschrieben: „Der Tod gehört zur Liebe. Der Tod gibt uns die Möglichkeit, unser wahres Selbst zu erkennen, das, was unser Inneres ausmacht. Er schenkt uns auch die Erkenntnis, dass die wahre, tiefe Liebe weit über den Tod hinausreicht.“ Bringen Sie damit zum Ausdruck, dass wir mit Hilfe der Liebe die Unendlichkeit des Lebens erfahren können?

Dorothea Mihm: Ja, das kann man so interpretieren. Und das bestätigen uns alle spirituellen Meister jeglicher Glaubensrichtung, die je auf Erden gelebt haben oder derzeit leben.    Tod gehört zur Liebe

 

02.09.2021
Roland R. Ropers
Religionsphilosoph, spiritueller Sprachforscher, Buchautor und Publizist

www.KARDIOSOPHIE-NETWORK.de


Roland-Ropers-Portrait-2021Über Roland R. Ropers

Roland R. Ropers geb. 1945, Religionsphilosoph, spiritueller Sprachforscher,
Begründer der Etymosophie, Buchautor und Publizist, autorisierter Kontemplationslehrer, weltweite Seminar- und Vortragstätigkeit.
Es ist ein uraltes Geheimnis, dass die stille Einkehr in der Natur zum tiefgreifenden Heil-Sein führt.
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Dorothea Mihm Tod gehört zur Liebe
(c) Dorothea Mihm

Buch Tipp:

Die sieben Geheimnisse guten Sterbens
Erfahrungen einer buddhistischen Palliativschwester

von Dorothea Mihm

Wie wird es sein, wenn uns nicht mehr viel Zeit bleibt? Dorothea Mihm hat ihr Leben der Aufgabe gewidmet, Menschen ein Sterben in Würde zu ermöglichen. Von den ersten Anfängen an begleitete sie die Entwicklung der Palliativmedizin und kam SterbendenDie sieben Geheimnisse guten Sterbens Dorothea Mihm  Tod gehört zur Liebe in ihren letzten Tagen und Stunden so nah wie nur wenige Menschen. Zusammen mit der Medizinjournalistin Annette Bopp zeigt sie: Wir können dem Tod zwar nicht entgehen, doch wir können uns und andere vorbereiten, um ihm angstfrei und friedvoll entgegenzusehen. Ein berührendes Buch voller hilfreicher und praktischer Informationen über einen neuen, hoffnungsvollen Umgang mit dem Tod.

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