Wechselseitige Transformation – Die Intelligenz der Herde
S. 99-112 KAPITEL ZWEI aus dem Buch: Die Intelligenz der Herde
Wechselseitige Transformation
Kein Zweifel, ein Pferd gut zu reiten ist eine Kunstform. Doch als ich aus dem Sattel stieg, um meinen Pferden zu helfen, ihren Nachwuchs zu gebären, als Herde zusammenzuleben und ihre Kinder zu sozialisieren, damit sie sich in der Interspezies-Kultur entfalten konnten, die wir gemeinsam schufen, erlebte ich, wie von Moment zu Moment eine erstaunliche Vielfalt von relationalen, psychologischen, emotionalen und hormonellen Faktoren auf mich einwirkte.
Mehr als zwanzig Jahre lang schwelgte ich täglich im Oxytocin-Fluss von Vertrauen und Zuneigung, sowohl mit Stuten und neugeborenen Fohlen als auch in ruhigen Momenten mit meinem Hengst und seinen Söhnen. Jedes Mal, wenn ich widerborstigen Heranwachsenden und dominanten männlichen Tieren Paroli bot, fühlte ich den Vasopressin-Schub, der mir Selbstvertrauen und Durchsetzungsvermögen verlieh.
Bei mehreren Gelegenheiten motivierte mich eine noch dramatischere Welle des Mutes und der Sorge dazu,
mein Leben aufs Spiel zu setzen, um die Pferde zu beschützen (wie etwa bei Vorfällen, in die ein Bär oder einige rauflustige Stiere involviert waren).
Zu anderen Zeiten stand ich entgeistert da und beobachtete Rasa dabei, wie sie Rinder und aggressive Pferde von mir wegtrieb. In der Vorzeit bewirkte ein rapider Anstieg biochemischer und verhaltensbezogener Wirkstoffe einen Evolutionssprung bei zahlreichen Spezies.
Nicht weniger wirksam ist es, wenn moderne Menschen aus ihren isolierten Häusern heraustreten und die Einladung der Natur annehmen, diese Transformation am eigenen Leib zu erfahren.
Auf Augenhöhe mit der Herde zu sein –
danach zu streben, ebenso agil, wachsam und sozial kompetent zu sein wie die Tiere selbst – ist wesentlich erfüllender, als sich auf Zwänge und extreme Beschränkungen zu verlassen, um jede Bewegung eines großen Pflanzenfressers zu kontrollieren.
In dem Maße, wie Menschen ausgeklügelte Führungsmethoden und soziale Kompetenzen von den Tieren lernen, verwischen sich die Grenzen zwischen den verschiedenen Spezies und ein paradoxes Gefühl von Macht, Demut, Ehrfurcht und Wertschätzung wird zur Ausgangsbasis für neue Abenteuer in Sachen Verbundenheit und Innovation.
Aber da ist noch etwas anderes, etwas, das ans Mystische grenzt:
Verhalten und Bewusstsein zu koordinieren, kann es manchmal erschweren zu sagen, wer wen hütet – wer lehrt, wer lernt, wer führt, wer folgt, wessen Idee es ist, dieses oder jenes zu tun. Manchmal ist der menschliche Part gefordert, die maßgeblichere und offensivere Rolle zu spielen. Viehhirten aus zahlreichen Traditionen betonen jedoch, dass man ein treuer Schüler und Beobachter der jeweiligen Spezies, der jeweiligen Herde und der Individuen, aus denen diese Herde besteht, sein muss, um zu verstehen, wann und wie man tätig werden muss.
Das bedeutet, dass man den größten Teil seiner Zeit damit verbringt, das entspannte, aber dennoch geschärfte Bewusstsein eines Wächters mit dem intimen Wissen zu kombinieren, das entsteht, wenn man wie ein vertrauter Unterstützer/Gefährte handelt und nicht wie ein strenger und arroganter Diktator.
Diese naturbezogene Weisheit wurde mir allmählich bewusst,
als ich Führungsqualitäten und soziale Intelligenz durch pferdegestütztes Lernen und schließlich auch in Workshops ohne Pferdebeteiligung unterrichtete. Um dies besser in Worte fassen zu können, trug ich sämtliche Forschungsergebnisse zusammen, die ich in die Finger bekommen konnte.
Mein Ziel war es, zu verstehen, was das Zusammenleben mit Herden großer Pflanzenfresser unsere Vorfahren gelehrt hatte. Die archäologischen Zeugnisse waren lückenhaft, aber aus Studien moderner mongolischer, afrikanischer, sibirischer, nahöstlicher und europäischer Hirtenkulturen konnte ich eine unglaubliche Fülle an Informationen gewinnen; unter anderem darüber, wie diese Interspezies-Gesellschaften geschickt die Rollen des Leaders, Dominanten, Wächters, Unterstützers/Gefährten und Raubtiers verwenden, um sich in bisweilen fruchtbaren, bisweilen aber auch lebensfeindlichen Landschaften zurechtzufinden.
In späteren Kapiteln werden wir uns die Gaben und Herausforderungen,
die diese Rollen bereithalten, ansehen und herausfinden, wann und wie man sie am effektivsten nutzen kann. Doch zunächst möchte ich beschreiben, wie in Hirtenkulturen eine ausgeglichene Herangehensweise an die Verwendung all dieser Rollen entstand, in denen Meisterherdenführer täglich mit den entsprechenden Fertigkeiten jonglierten, um große und potenziell gefährliche Tiere ohne Zäune zusammenzuhalten und dabei gleichzeitig auf möglichst wenig Zwangsmaßnahmen zurückzugreifen. (Für eine ausführlichere Diskussion von Hirtenkulturen vergleiche The Power of the Herd.)
Fulani-Hirten
In ihrem 1979 erschienen Artikel „Applied Ethology in a Nomadic Cattle Culture“
(„Angewandte Verhaltensforschung in einer nomadischen Rinderkultur“) beschreiben Dale F. Lott und Benjamin L. Hart, welche Erkenntnisse sie beim Studium der afrikanischen Fulani-Stämme gewonnen haben. In diesem „Zwei-Spezies-Sozialsystem“ betrachteten sie die ungewöhnlich ausgefeilten Techniken der Herdenhaltung der FulaniStämmen „vor dem Hintergrund des Sozialverhaltens von Rindern.“
Die Autoren unterstreichen, dass sesshafte Kulturen ihre Herden vorrangig mit technischen Mitteln kontrollieren – mit Zäunen, Stallboxen, Halftern, Jochen, Stricken und Kandaren, welche „die Tiere der meisten Alternativen berauben, die nicht den menschlichen Wünschen entsprechen.“
Die Massentierhaltung ist das ultimative Beispiel hierfür.
Denn Hühner, Schweine und Mastkälber werden eingesperrt und wie Gemüse im Treibhaus geerntet, ohne dass man ihre Bedürfnisse als fühlende, soziale Wesen in Betracht zieht.
Eine Alternative zu solchen Zwangsmaßnahmen besteht darin, „aktiv das gewünschte Verhalten aus dem tiereigenen Repertoire auszuwählen und dieses Verhalten dann zu evozieren.“
Das bedeutet, dass man von der Herde beeinflusst worden sein muss, bevor man überhaupt nur daran denken kann, sie zu beeinflussen – ein erstaunlicher Vorschlag für jeden, der in einer anthropozentrischen Kultur lebt.
Deshalb, so schreiben Lott und Hart, beschränkt sich
„in der europäischen und nordamerikanischen Landwirtschaft die Verwendung dieses Ansatzes hauptsächlich auf Einschüchterung und Unterordnung, wobei der Mensch die Tiere kontrolliert, indem er die Rolle des sozial Dominanten einnimmt.“
Lott und Hart zeigen, dass ein Fulani-Hirte
„als jemand betrachtet werden kann, der eine soziale Rolle wie die eines Dominanten oder Herdenführers annimmt. Möglicherweise wäre es jedoch präziser zu sagen, dass sie die Neigung der Rinder ausnutzen, einem Dominanten nachzugeben und einem Leader zu folgen.“
Das mag überflüssig klingen, doch denke daran: Der „Dominante“ und der „Leader“ sind buchstäblich unterschiedliche Tiere. Fast jeder kann eine dominante Kuh oder einen dominanten Bullen in Aktion erkennen. Diese Tiere behaupten ihre Autorität, indem sie andere Tiere von etwas Begehrenswertem fernhalten: von Nahrung, Wasser, brünstigen Weibchen und so weiter.
Dominante reagieren auf den geringsten Hinweis von Respektlosigkeit mit unmittelbaren und bisweilen befremdlichen Richtigstellungen. Positiv zu vermerken ist, dass sie sich auch Respekt verschaffen, indem sie bei Auseinandersetzungen zwischen Herdenmitgliedern dazwischengehen.
Aber manchmal kommt es vor,
insbesondere wenn es sich um heranwachsende Dominante handelt, dass sie andere auch ohne ersichtlichen Grund attackieren und alle ein wenig in Atem halten. Die Gruppe gibt solchen Tieren viel Raum und schaut weg, während sie zugleich darauf vorbereitet ist, sich zu entfernen, sobald sich die freche Kuh oder der große schlimme Bulle nähert.
Das jedoch macht es dem Dominanten schwer, irgendjemanden irgendwohin zu führen. Auf der anderen Seite weisen Herdenmitglieder, die in der Lage sind, die Truppen zu versammeln, Eigenschaften eines „passiven Leaders“ auf, wie Pferdetrainer Mark Rashid ihn nennt, obwohl dieser Begriff ein wenig irreführend ist (wie ich in anderen Büchern erörtert habe). Der passive Leader erscheint nur demjenigen passiv, der mit den schillernden, angsterzeugenden Einschüchterungstaktiken aufgewachsen ist.
Taktiken, die am aggressivsten von heranwachsenden Alpha-Männchen an den Tag gelegt werden,
die in den meisten Fällen aus der Herde vertrieben werden, bis sie gelernt haben, sich zu beruhigen und andere zu respektieren. Deshalb streifen in der Natur junge Hengste, Bullen und Elefantenmännchen in Junggesellengruppen umher, die aus schwer von Narben gezeichneten Tieren bestehen.
Sogar in den erfahrensten Hirtenkulturen werden männliche Tiere, die nicht lernen, ihr Temperament zu zügeln, daran gehindert, sexuelle Reife zu erlangen, und sie werden zu Wallachen, Ochsen, Stieren – oder zu Abendessen. Ein männliches oder weibliches Tier, das die Auszeichnung eines Leaders oder einer Leaderin verdient, ist ein wesentlich ausgeglicheneres Individuum, das sich Energie für echte Notfälle aufspart.
Wie ich in The Power of the Herd erläutert habe:
Sicherlich kein Schwächling weiß er oder sie, wie man Grenzen setzt, ohne anderen unnötigen Stress zu bereiten. Ein solches Tier zeigt häufig früh im Leben sein Potenzial durch eine paradoxe Kombination aus Unabhängigkeit und Geselligkeit – nur dass es sich in diesem Fall tatsächlich um eine eher passive Geselligkeit handelt.
Andere fühlen sich zu diesem ruhigen, aber dennoch charismatischen Herdenmitglied hingezogen und kreisen wie Monde um dieses Individuum, das eine äußerst faszinierende Mischung aus Neugier, Ausgeglichenheit und gutmütiger Wachsamkeit (im Gegensatz zu Hyper-Wachsamkeit) in sich vereint.
Doch während der Leader Gesellschaft genießt,
zeigt er oder sie auch eine Art Mach-doch-was-du-willst-Haltung in Bezug auf die Herdendynamik, in die andere so stark involviert scheinen, zufrieden damit, träge davonzuziehen, um etwas Neues zu untersuchen, woraufhin andere angetrabt kommen, um zu überprüfen, was sein oder ihr Interesse geweckt hat, und den Rest der Herde dazu bringen, zu gegebener Zeit zu folgen.
Auch wenn Lott und Hart nicht die entsprechende Terminologie für die Rollen des Wächters und Unterstützers/Gefährten verwendet haben, hat das Forschungsteam Fulani-Hirten dabei beobachtet, wie sie einen großen Teil ihres Tages damit verbrachten, die Tiere zu bewachen und
„sich zwischen den Rindern in den Lagern zu bewegen, ihnen den Kopf, den Nacken und die Innenflächen ihrer Hinterbeine zu streicheln. Die Rinder unterbrechen das, was sie gerade tun, um still für dieses Fellpflegen dazustehen, und kommen sogar näher, um sich für die Fellpflege und für Liebkosungen zu ‚präsentieren‘. Besonders interessant ist dabei das Abreiben der Innenseite der Hinterbeine. Ausgewachsene Rinder berühren einander dort nur selten, aber Kälber werden von ihren Müttern in der Stillphase regelmäßig in diesem Bereich geleckt. Anscheinend nutzt der Hirte eine Verhaltensweise aus, die bis ins Erwachsenenleben hinein existiert, normalerweise jedoch dazu dient, die Bindung zwischen Mutter und Kalb zu stärken.“
Da die Fulani ihre Herden nicht vom Pferderücken aus lenken,
ist es wirklich verblüffend, Fotos von männlichen oder weiblichen Stammesangehörigen zu sehen, die gemütlich zwischen diesen massigen Rindern mit ihren ungewöhnlich langen und durchdringenden Hörnern herumspazieren – ganz zu schweigen davon, dass sie sie striegeln, melken und führen, sie aus den Feldern der Bauern heraushalten, Kämpfe zwischen den Bullen zu verhindern suchen und aggressives Verhalten, das sich gegen Menschen richtet, vereiteln.
In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass die Rolle der/des Dominanten – vorausgesetzt, sie wird durch andere Aktivitäten, die nährender und pflegender sind, ausgeglichen – in zwei zentralen Bereichen unbedingt erforderlich ist: um die Sicherheit von Menschen zu gewährleisten und um die Rinder davon abzuhalten, in alle möglichen Schwierigkeiten zu geraten.
Raufereien zwischen Tieren zu beenden ist einer der gefährlichsten,
wenn auch am meisten Erfolg versprechenden Wege, um sich als sozial Dominanter den Respekt der Herde zu verschaffen. Zugleich schützt dies die Tiere vor Verletzungen, die sich leicht entzünden könnten, denn Nomaden haben nur begrenzten Zugang zu Tierärzten.
Um eine sichere Beziehung zu Bullen zu unterhalten, die für ihr kühnes, unvorhersehbares Verhalten bekannt sind, müssen Fulani-Hirten auch Dominanz einsetzen. Das heißt, bei der geringsten Spur von aggressivem Gehabe unmittelbar und bisweilen auch drastisch einzugreifen, vor allem dann, wenn es gegen einen Menschen gerichtet ist.
Jungen, die noch keine zehn Jahre alt sind, wird beigebracht,
das Präsentieren der vollen Breitseite des Körpers und andere, subtilere Anzeichen dafür zu erkennen, dass ein Bulle vorhat anzugreifen. Wenn sie solch ein Zeichen sehen, sind die jungen Hirten gezwungen, mit erhobenem Hütestab und einem Schrei zu reagieren, der sich schnell zu einem zackigen Kommando und kräftigen Stockschlägen zuspitzt, wenn das massive Tier mit den langen Hörnern nicht sofort zurückweicht.
Wenn man sich die Größe, das Tempo und die Kraft eines gereizten Bullen vor Augen hält, dann muss unterwürfiges Verhalten erzielt werden, bevor das Tier beschließt anzugreifen. Andernfalls ist die Hoffnung für den Menschen gering, eine solche Begegnung zu überleben. Vergiss nicht, die Fulani lenken ihr Vieh zu Fuß und nicht zu Pferd.
Sogar noch eindrucksvoller ist die Fähigkeit der Fulani-Hirten, die Kontrolle über große Gruppen ohne Halfter, Stricke und andere Hilfsmittel zu behalten. Gegen Ende der Trockenzeit, wenn in der nicht kultivierten Savanne nahezu kein Blattwerk mehr vorhanden ist, erlauben die Hirten den Tieren das Grasen bis zum äußersten Rand der nicht eingezäunten landwirtschaftlichen Flächen genau zu dem Zeitpunkt, wenn dort schmackhafte Maissprösslinge und andere Feldfrüchte zu wachsen beginnen.
Weil Herdenführer wissen, dass sie in der Lage sind,
in wohlwollender Absicht dominant aufzutreten, verlassen sie sich vorrangig auf verbale Eingriffe und gehen nur vereinzelt auf verirrte Tiere los, um sie von den äußerst begehrten Ackerflächen fernzuhalten.
Im scharfen Gegensatz dazu beobachteten Lott und Hart „mehrere Gelegenheiten, bei denen Rinderhirten, die keine Fulani waren, große Schwierigkeiten damit hatten, auch nur mit einer Kuh fertigzuwerden.“
Diese hoch entwickelte Fähigkeit, eine ganze Herde zu lenken,
hängt jedoch weniger von Übung ab als von einer Interspezies-Sozialisierung über viele Generationen hinweg. Vom ersten Tag an lernen Fulani-Kälber, respektvoll auf subtile Veränderungen in der Körpersprache beider Spezies zu reagieren. Wie ich bereits erwähnt habe, müssen Stammesangehörige beiderlei Geschlechts mutig, durchsetzungsfähig und wachsam in Gegenwart von Tieren sein, die zehnmal so groß sind wie sie selbst, und die Rinder müssen sanft und respektvoll gegenüber Kindern sein, die kleiner sind als ihre eigenen Neugeborenen.
In Afrika leben die Fulani unter den mächtigsten Raubtieren der Erde, sodass es ein zentrales Anliegen für sie ist, ihre Kälber zu beschützen. Einige Stämme gehen sogar so weit, dass sie ihre Jungtiere im Lager beaufsichtigen, während die erwachsenen Rinder losziehen, um außerhalb zu grasen. Abends werden die Kälber von beiden Spezies genährt und beschützt. Morgens hingegen werden die vierbeinigen Kinder des Stammes, nachdem sie etwas zu fressen bekommen haben, von ihren Müttern weggeführt und an einen Kälberstrick gebunden.
Nachdem die Kühe und die Bullen abgezogen sind,
werden sie wieder losgebunden, damit sie sich während des Tages frei unter den Frauen, Kindern und den älteren Stammesmitgliedern bewegen können. Zugleich lernen sie durch diese Kombination aus lockeren informellen Begegnungen und gezielter Zügelung (wenn sie mit dem Kälberstrick gesichert werden), mit Menschen zu interagieren.
Auf diese Weise entwickeln sich soziale Kompetenzen und sich wechselseitig unterstützende emotionale Bindungen zwischen den Spezies. Im Alter von sechs Jahren lernen Fulani-Jungen, ihre temperamentvollen Rinder-Pendants anzutreiben. Indem sich diese noch unerfahrenen Hirtenjungen abmühen, jeden Morgen anfänglich unkooperative Kälber von ihren Eltern zu entfernen, erlernen sie auch die Weisheit, wie sie ihre eigenen wilden Impulse beherrschen und kontrollieren, und gewinnen gleichzeitig an Stärke, Mut und Selbstvertrauen.
Gleichzeitig lernen leicht zu beeindruckende junge Rinder,
zweibeinige Geschöpfe zu respektieren, die mit jedem Tag, der vergeht, kleiner zu werden scheinen: In den ersten zwei Lebensjahren verdoppelt sich die Größe der Kälber, während ihre menschlichen Gefährten nur ein paar Zentimeter wachsen. Schließlich entspannen sich die Tiere inmitten ihrer halbnomadischen menschlichen Betreuer und richten sich in einer zyklischen, vorhersehbaren, aber dennoch abwechslungsreichen Lebensweise ein.
Obwohl Dürreperioden hart und anstrengend sein können, genießen Erwachsene beider Spezies das abwechslungsreiche Gelände, während sie ihre Bahnen um die Lager herum ziehen, die ihnen nach ihrer Rückkehr Ruhe, Sicherheit und Gemeinschaft bieten.
In dem Wissen, dass alle bei Sonnenuntergang wieder zusammenkommen werden, zeigen Kälber nicht derlei übertriebene Angstreaktionen, wie sie Fohlen und Hengste in den Vereinigten Staaten aufweisen.
Ihr unnötig hektisches Verhalten, dass Menschen bei jungen Pferden als normal ansehen,
ist eine Folge davon, dass sie plötzlich entwöhnt und dauerhaft von ihren Müttern getrennt wurden. Sogar unter den Fulani selbst beobachten Lott und Hart jedoch, dass nicht erkennbar ist, wie Hirten in die Lage versetzt werden, als Leader zu fungieren.
Einige hatten das Gefühl, dass die Rinder ganz von selbst einem Anführer folgen und genauso bereitwillig einen Fulani-Herdenführer wie einen Artgenossen in derselben Rolle akzeptieren würden. Andere Fulani sagten, dass sie der Herde beibringen müssten, Führung zu akzeptieren. Das sah dann so aus, dass ein Hirte die Herde rief, während er langsam wegging und ein anderer Hirte sie von hinten antrieb.
Letzten Endes führt diese Technik – bei der es sich um eine kooperative Führungs- beziehungsweise Hütemethode handelt, die von mindesten zwei Menschen ausgeübt wird – zu verlässlichem Gruppenverhalten, das von einem einzigen Hirten initiiert wird.
Lott und Hart schreiben:
„Sobald [der Hirte] die Aufmerksamkeit der Rinder hat, wendet er sich ab und fängt an zu gehen oder sogar zu laufen, während er die Rinder weiter ruft.
Die Rinder folgen ihm in einer einzigen Reihe oder in Zweierreihen, wobei sie manchmal Laute von sich geben.“
Wenn alle Tiere bei Anbruch der Dunkelheit zu ihren Kindern zurückkehren, ist der Reiz, mit dem Herdenführer zu kooperieren, offensichtlich. Doch die Fähigkeit eines einzigen Herdenführers, diese Tiere mit einem einmaligen Ruf zu versammeln und sie zu anderen Tageszeiten in eine spezifische Richtung zu führen, ist beeindruckend.
Im Gegensatz dazu setzen Cowboy-Teams im Westen Amerikas Dominanz ein, um zu Pferd Rinder von hinten anzutreiben und die Herde auf beiden Seiten in Schach zu halten.
Wie Lott und Hart folgern:
„Der adaptive Wert, einem Anführer zu folgen, liegt wahrscheinlich darin, dass diejenigen, die folgen, vom Wissen des Anführers über das Terrain, Nahrung und Wasserquellen sowie über Raubtiere profitieren. Zumindest begünstigt er den Gruppenzusammenhalt, während die Tiere umherziehen.“
27.07.2020
Linda Kohanov
Vita von Linda Kohanov:
Linda Kohanov, Autorin des Bestsellers „Das Tao des Equus“, lehrt und hält Vorträge auf internationaler Ebene.
Sie gründete Eponaquest Worldwide um das heilende Potential der Arbeit mit Pferden zu ergründen.
Sie bietet außerdem Kurse zu den Themen emotionale und soziale Intelligenz, Leitung, Stressreduktion, Kindererziehung und Achtsamkeit an.
Sie lebt in Tucson, Arizona.
Mehr unter: eponaquest.com
Buchtipp:
Die Intelligenz der Herde
von Linda Kohanov
Linda Kohanov, die Autorin des Bestsellers ‚Das Tao des Equus‘, wandelt in diesem Buch die von ihr gesammelten Einsichten aus ihrer Arbeit mit Pferden in nützliche Tools für die Entwicklung teamorientierter Führungsmethoden und Veränderungsprozesse um.
Sie hat es geschafft, das jahrtausendealte System des Führungsverhaltens, dass auf dem Wissen nomadischer Hirtenkulturen beruht, auf das 21. Jahrhundert zu übertragen und nutzbar zu machen.
Danke für den interessanten Artikel, wir haben seit einigen Monaten Schafe, ich verbringe derzeit viel Zeit auf ihrer Weide und bin beeindruckt, welche Beziehung entsteht und welche Wirkung es auf mich hat, wenn die Schafe mich beim Wiederkäuen in ihre Mitte nehmen.