Fabio Polly Interview – Wahrheit und Wahrhaftigkeit in Medien

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Beitragsbild-Fabio-Polly-logo-spirit-rap Fabio Polly – Wahrheit und Wahrhaftigkeit in Medien

Fabio Polly – Journalist beim Österreichischen Rundfunk

Wahrheit und Wahrhaftigkeit in Medien … Ein Widerspruch in sich?
Die Medien stehen in laufendem Umbruch immer wieder im Kreuzfeuer der Kritik. Sie werden in Mainstream und in Alternativ eingeteilt. Beides gilt gemeinhin als antagonistisch und unvereinbar. Überlagert wird alles von einer Instantversorgung mit Informationen.

Wir haben nicht zu wenige Informationen, doch wahrscheinlich zu wenig richtig gute, verlässliche, belastbare Informationen. Und – das Unterscheidungsvermögen vieler Leserinnen und Leser ist zu wenig geschult. Sogen. Medienskandale wie der Fall Relotius beim Spiegel tragen auch nicht unbedingt zu einer Erhöhung des Vertrauens an Medien bei. Umso wichtiger ist der verantwortungsvolle Umgang mit Information, gilt sie doch mit Zeit als die Ware der Gegenwart und Zukunft. Kann man da als Journalist verantwortlich agieren? Man kann, doch es braucht einiges dazu. … Fabio Polly gilt als einer der profiliertesten Journalisten im deutschsprachigen Raum. Sowohl die Außen- als auch die Innenpolitik sind ihm bestens vertraut. Mehrere Auslandsengagements für den Österreichischen Rundfunk in mehr als 40 Jahren, zahllose Interviews und Radiosendungen, TV-Auftritte und eine große Offenheit für neue Medien, die, wie er im Gespräch meint, gar nicht mehr so neu sind. Andrea Riemer im Gespräch mit einem jener Journalisten, die sich und ihre Aufgabe erkannten und konsequent wahrhaftig leben – und damit dem Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit mit Verantwortung nachkommen.

Die Medien – oft unspezifiziert – stehen ob der zahlreichen Fake News im Kreuzfeuer der Kritik. Was hat sich Deiner Meinung nach vor allem durch die sozialen Medien in der Medienlandschaft verändert?

Das Wesentliche, das mir auffällt, ist, dass die Glaubwürdigkeit der sogenannten etablierten Medien – soziale Medien gibt es auch schon einige Zeit, sodass man nicht mehr von neuen Medien sprechen kann – also von Radio, Fernsehen, Zeitung, immer geringer wurde. Ich glaube, dass viele Menschen durch die sozialen Medien begonnen haben, über Dinge nachzudenken, über die sie vorher gar nicht nachgedacht haben. Dabei gingen sie in die Falle, Quellen, aus denen sie ihre Informationen bezogen, plötzlich in Frage zu stellen.

Überspitzt gesagt: man glaubt nur das, was man selbst gesehen hat oder wo man selbst dabei war. Das ist, wenn man es zu Ende denkt, natürlich blanker Unsinn, weil diesen Anspruch niemand erfüllen kann. Ich versuche es mit einem Beispiel zu erklären: Beweisen Sie mir, dass die Erde rund ist. Das ist eigentlich ganz einfach, und doch kann es kaum jemand. Es gibt aus den 1970er Jahren ein Fernsehstück von Carl Sagan, in dem das ganz simpel erklärt wird – und doch kann es keiner auf die Schnelle in ein paar Sätzen nacherzählen.

Durch diese simple Frage finden sich die Menschen genau in jener Position, in die sie die Medien versetzen, wenn sie den Medien nicht glauben. Ich drehe damit die Argumentation um, und übernehme auch die Diktion der Menschen, die den Medien vorwerfen, die Unwahrheit zu verbreiten. Wenn man Menschen zeigen kann, dass das Beweisen nicht immer so einfach ist, obgleich etwas evident ist, dann kann man damit vorführen, warum Medien oft in einer Art Zwickmühle sind.

Als Antwort auf die Frage, ob die Erde kugelförmig ist, bekommt man zu hören: das weiß man doch, denn es gibt Fotos davon. Und dann argumentiere ich – die sind doch gefälscht! Die NASA ist doch eine Erfindung. Die Amerikaner waren nie am Mond, und auch noch nie außerhalb der Erde. Das ist alles gefälscht. Diese Argumentation, die ja nur eine Behauptung ohne Beweis ist, kann man sehr schwer aushebeln.
So ähnlich geht es Medien.

Wenn mir das bei einem Beitrag passiert, dass jemand behauptet, das, was ich im Radio erzählt habe, stimmt nicht, dann habe ich Probleme, es zu widerlegen. Ich kann nämlich nicht jede Recherche bis ins kleinste Detail jederzeit bei jeder Geschichte offenlegen. Das ist faktisch unmöglich. Mit meiner etwas überspitzten Argumentation über die kugelförmige Erde führe ich Menschen zum Ausgangspunkt – man muss Quellen auch vertrauen und man muss wissen, welcher Quelle man vertrauen kann und welcher nicht. Man muss nicht allen und jedem vertrauen, doch es braucht ein Grundvertrauen. Kritisch zu sein ist wichtig. Doch die sozialen Medien haben dieses Grundvertrauen erschüttert und damit schwand es mehr und mehr, wohl auch weil auf den sozialen Medien viel Unsinn gemacht wurde. Unbeabsichtigt ebenso wie beabsichtigt, also mit Manipulationsintention.

Die Behauptung, das Fernsehen zeigt dieses und jenes nicht, das geht ganz schnell auf den sozialen Medien. Doch man müsste es auch beweisen, um tatsächlich Recht zu haben. Der Zugang „die verheimlichen uns etwas“, der zieht unglaublich stark. Es gibt eine große Gruppe von Menschen, die Medien gegenüber zwischenzeitlich sehr misstrauisch sind. Ich finde das schade, denn Misstrauen ist etwas anderes als etwas kritisch zu sehen.
Jeden Bericht kann ich kritisch sehen. Man kann aufzeigen, wenn etwas falsch war und man kann nach den Gründen dafür fragen. Dann stellt man zum Beispiel fest, eine Zeitungsseite ist nicht aus Gummi, sprich man muss kürzen. Es gibt Anfang und Ende, daher kann nicht alles erzählt werden, sondern eben nur ein Teil dessen, was Journalisten recherchieren.

Gleiches gilt für das Radio und das Fernsehen und teilweise auch schon in sozialen Medien und im Internet. Auch da ist der Platz nicht mehr ganz unbegrenzt. Zudem lesen viel weniger Menschen die „Zeit“ als die „Bild“. Man will sich nicht so lange mit Dingen beschäftigen. Daher ist es relativ leicht zu sagen, da fehlt etwas, die manipulieren und verheimlichen uns etwas. Real stimmt das oft gar nicht. Dieses Vertrauen in Medien, über die ich mich als Konsument aufrege, das hat sich am meisten verändert.

Wie geht man heute mit Information verantwortlich um – als Journalist und als Medienkonsument?

Der Unterschied ist relativ gering. Wenn ich etwas recherchiere für ein Qualitätsmedium, dann gibt es kaum einen Unterschied.
Der Leser kann viele verschiedene Medien zum gleichen Thema konsumieren. Dann kann er sich selbst leichter eine Meinung bilden, weil er verschiedene Standpunkte sieht.

Für einen Journalisten ist das das gleiche – nach dem Motto: check, re-check, double-check. Ich sehe mir die unterschiedlichen Standpunkte in einer Geschichte an, recherchiere und verifiziere nach Möglichkeit alles dazu, und mache daraus den besten Überblicksmix, den ich machen kann. Das machen Journalisten dann, wenn sie Menschen möglichst die Informationen an die Hand geben wollen, die Menschen ermächtigen, für ihr Leben gute Entscheidungen zu treffen. Das umfasst z.B. wo mache ich mein Kreuz bei der Wahl und geht bis dahin, dass mir ein Film empfohlen wird, der in einem Kino läuft.

Und dann stellt sich heraus: der Kinoeigentümer ist der gleiche ist wie der Medieninhaber. Ich kann mich dann nicht darauf verlassen, dass das eine vernünftige Filmkritik ist, sondern es könnte eine sein, die mich in das Kino treibt, damit der Eigentümer mehr Geld verdient.

Theoretisch unterscheidet sich der Medienkonsument also kaum vom Journalisten, wenn er mehrere Quellen für qualifizierte Informationen haben will. In der Praxis ist es so, dass viele Menschen nur eine Zeitung lesen, was ich für schlecht halte. Mehrere Standpunkte zu sehen ist wichtig und es gibt genügend Zeitungen, die das ermöglichen. Ich weiß jedoch, dass das im Lebensalltag schwierig ist, weil es zeitaufwendig ist. Wenn man sich mit einem Thema wirklich beschäftigen will, ist es eine Grundnotwendigkeit, sich mehrere unterschiedliche Standpunkte anzusehen und dann daraus die eigene Meinung zu bilden.

Wir als Journalisten, wenn wir in einem anständigen Medium arbeiten, haben durchaus das Privileg, dass wir uns stundenlang mit so etwas beschäftigen dürfen und ich finde das nach wie vor spannend. Konsumenten können das im Lebensalltag meist nicht. Doch der faktische Unterschied zwischen Journalist und Konsument ist kaum mehr vorhanden, wenn es um qualitätsvolle Information geht.

Was bedeuten Wahrheit und Wahrhaftigkeit für Dich – als Mensch und als Journalist?

Beides sind für mich relativ hohe Güter. Ich halte sie im persönlichen Leben für wichtig. Und sie sind auch im Journalismus wichtig. Deswegen arbeite ich in einem Qualitätsmedium und nicht bei einem Boulevardblatt. Wobei ich nichts gegen Boulevardblätter habe. Jedes Medium, das existiert, hat seine Berechtigung.

Wahrheit ist nicht immer und in jedem Fall ganz leicht erreichbar. Journalistisch gesprochen – wir können versuchen, uns der Wahrheit so gut wie möglich anzunähern. Das wäre ein Bemühen. Würden das alle Journalisten machen, dann würde die Welt vielleicht ein bisschen anders aussehen. Auch im Privatleben hat die Wahrheit eine große Bedeutung, weil sie einem ermöglicht, ein humanistisches, anständiges Leben zu führen. Salopp gesagt: ich will mich in der Früh beim Zähneputzen und Rasieren in den Spiegel schauen können.

Für Wahrhaftigkeit gilt Ähnliches – privat und beim Journalismus. Es macht alles authentisch. Journalistisch bedeutet das für mich, dass ich keine Geschichten erzähle, von denen ich nicht überzeugt bin. Erstens von den Inhalten. Zweitens davon, dass genau diese Geschichte wichtig und richtig ist. Manchmal kann man diesen Anspruch jedochnicht zu 100% erfüllen.

Man muss gelegentlich als Journalist Geschichten erzählen, die einem nicht so prickelnd erscheinen. Das gehört zum Geschäft, zur Professionalität dazu. Doch es muss überwiegend so sein, dass man die Geschichten erzählt, die dem genannten Anspruch genügen. Es kann jedoch auch so sein, dass die Redaktion einmal anderer Meinung ist. Und sie kann durchaus Recht haben – und nicht der einzelne. Den Anspruch meine ich also nicht apodiktisch.

Im persönlichen Leben ist Wahrhaftigkeit ein ganz wichtiger Baustein für Authentizität. Das gehört zusammen – und dann muss ich mich auch um die Wahrheit bemühen. Nun mache ich eine kleine Einschränkung mit der berühmten Notlüge, die sogar das Christentum erlaubt. Man ist weder im Leben noch im Journalismus immer ausschließlich hundertprozentig. Mir geht es darum, sich zu bemühen und ein hohes Ziel zu erreichen. Das ist eine humanistische Annäherung. Da gibt es auch Ausnahmen, die ihre Berechtigung haben. Sich stets strebend zu bemühen, das steht als Motto dahinter. Das macht auch die Anständigkeit im Leben aus, die auch gesellschaftspolitisch so wichtig ist. Wir sehen leider viel zu oft, dass es viele erfolgreiche Menschen gibt, die sich genau daran nicht halten und das genaue Gegenteil tun. Deswegen ist es wichtig, als Einzelner dagegenzuhalten.

Wohin entwickeln sich Medien im Rahmen der Wahrhaftigkeitsdebatte? Könnte 2020 ein Schlüsseljahr sein, vor allem in den USA?

Ich fange am Ende an – vor allem in den USA, 2020 ist ein Schlüsseljahr, definitiv. Eine wirklich genaue Vorhersage zu den anstehenden Präsidentenwahlen im Herbst 2020 getraue ich mir nicht zu machen. Warum? Wegen des laufenden Impeachmentverfahrens gegen den aktuellen Präsidenten.

Es geht um die Frage, ob das Verfahren erfolgreich sein wird – nicht dass der Präsident aus dem Amt gejagt wird, das ist aus meiner Sicht unwahrscheinlich, da die Republikaner im Senat die Mehrheit haben. Es geht darum, dass das Verfahren Auswirkungen darauf haben wird, ob und wie der jetzige Präsident eine Wiederwahl schafft. Das wird u.a. an den Medien hängen, und nicht nur an den sogenannten Etablierten. Deswegen meine ich, dass 2020 ein Schlüsseljahr ist. Schafft der Präsident die Wiederwahl, dann stehen uns vier noch kompliziertere, schwierigere Jahre bevor als die letzten vier Jahre waren. Oder gibt es einen anderen, der sich durchsetzt und das Ruder herumreißt, weil der jetzige Präsident im Umgang mit Wahrheit und Wahrhaftigkeit ja eines der großen Negativbeispiele ist.

Für die Medien wird das viel bedeuten. Auch das kann man nach verschiedenen Seiten durchspielen und ich weiß nicht, in welche Richtung die Knochen fallen werden, wenn man sie werfen würde. Es kann sein, dass die Medien, da sie vom jetzigen Präsidenten als Feind gebrandmarkt werden, weiter profitieren. Die großen Qualitätsmedien wie Washington Post und New York Times profitieren schon jetzt davon. Sie haben eine noch treuere Leserschaft und steigende Verkaufszahlen. Es kann jedoch auch das genaue Gegenteil passieren. Beide Möglichkeiten bestehen auch, wenn der Präsident keine Wiederwahl schafft. Dann kehrte ein Normalzustand ein, der die Berichterstattung dieser Medien, die sehr kritisch ist gegenüber dem aktuellen Präsidenten, weniger interessant macht. Damit auch diese Medien selbst.

Das ist die Krux für alle Medien auf der ganzen Welt. Geschichten müssen interessant erzählt werden. Das ist nicht leicht. Es gibt mittlerweile so viele Medien, die ihre Geschichten dadurch interessant machen, dass sie große Headlines schreiben, hinter denen nichts steckt. Das gilt auch für die sozialen Medien. Sehr spitz gesagt: dumme Fragen stellen, die sich gar nicht stellen dürften.

Der ökonomische Druck, der auf den Medien lastet, ist enorm. Es gibt wenige Medienmäzene, die es sich leisten, ein Medium zu haben, um die Welt in einem humanistischen Sinn besser zu machen. Die meisten Medienbesitzer wollen viel Geld verdienen. Es geht um den eigenen Benefit und nicht um den Benefit der Gesellschaft. Das war früher anders. Viele Qualitätsmedien kommen dadurch extrem unter Druck, können daher sehr oft auch nicht mehr die Qualität in der Berichterstattung anbieten, zu der sie eigentlich fähig wären, was ich sehr schade finde.

Sich humanistisch um das Beste zu bemühen, ist Teil meines Lebensmottos. Ich fände es so viel schöner, wenn sich viel mehr Medien um Wahrheit und Wahrhaftigkeit bemühten und das auch in Qualität ummünzten. Wir wissen aber, mit immer geringeren Budgets für Redaktionen, immer weniger Journalistinnen und Journalisten und immer größer werdenden PR-Budgets und Manipulationsabteilungen auf der Gegenseite ist das ein unglaubliches Ungleichgewicht geworden. Journalisten, die sich bemühen, kommen mit ihrer Arbeit nicht mehr nach.

Die schnelle und erste Meldung oder die solide recherchierte Story…wie bekommt man da die berühmte Kurve?

Das ist einfach: die schnelle, erste Meldung muss sein. Nur darf es nicht dabei bleiben. Es muss die dahinterliegende, gute Geschichte recherchiert werden. Es ist ja nicht alleine die Schnelligkeit, um die es geht, sondern auch die Qualität ist wichtig. Schnell muss es sein – jedoch stimmen muss es auch. Zumindest die Basisrecherche muss auch hinter der ersten, schnellen Meldung stehen.
Schlicht sich fragen: stimmt das überhaupt? Ich muss einfach nachsehen und fragen – oder werde ich aufs Glatteis geführt.

Welche gesellschaftliche Verantwortung haben Medien im Zeitalter der Allverfügbarkeit von Information?

Medien sollte eine Funktion für die Gesellschaft erfüllen. Einerseits sollen sie Menschen Entscheidungen ermöglichen, die auf guten Fakten basieren. Medien haben auch die Funktion, auf Missstände und Ungereimtheiten hinzuweisen. Beiden Funktionen kommen Medien nicht so voll umfänglich nach, wie ich es mir wünsche.

Zugleich leben Medien im Spannungsfeld, dass sie eben nicht ein komplettes Abbild der umfassenden Realität sein können. Sie sind ein Ausschnitt. Eine Zeitungsseite ist begrenzt, gleich wie groß die Seite ist. Eine Internetseite ist durch den Platz auf einem Server begrenzt. Eine Radiosendung ist durch die Zeit genauso begrenzt wie eine Fernsehsendung.

Man kann von einem einzelnen Medium nicht erwarten, dass es einen wirklich kompletten Überblick über die gesamte Realität bietet, die wir eigentlich erkennen können. Das ist systemimmanent. Dem entkommt man auch nicht. Das bedeutet jedoch, dass man als Medium sehr sorgfältig sein muss mit der Auswahl seiner Geschichten. Die Kriterien dafür kann man unterschiedlich bewerten.

Welche kritischen Größen kann man in den Informationsdarstellungsprozessen einbauen, um der Wahrhaftigkeit zu entsprechend?

Kriterien sind z.B: was ist für die Menschen unmittelbar wichtig? Was ist für die Menschen emotional wichtig? Was sollten Menschen wissen können, um Entscheidungen zu treffen. Die BBC – Mutter aller öffentlich-rechtlichen Qualitätsmedien – definiert das übrigens ganz genau.

Nähe, Nutzen, Neuigkeitswert – das sind drei Kriterien, die viele Medien mittlerweile für die Auswahl von Geschichten nutzen. Nähe ist auch emotionale Nähe, nicht nur örtliche Nähe. So sind die Brände in Australien zwar weit weg von uns – räumlich, doch im Zusammenhang mit dem Klimawandel gibt es eine emotionale Nähe. Man zeigt durch die Berichterstattung, wie es für das Publikum in ein paar Jahren sein könnte.

Dann gibt es das Spannungsfeld, was man überhaupt in die Berichterstattung aufnehmen kann – das wird durch Redaktionslinien vorgegeben. Die dürfen, wenn sie nicht geheim gehalten werden, um zu manipulieren, auch ideologischen Schemata folgen. Man kann ein linkes, ein rechtes Medium als solchen positionieren. Das ist an sich nicht falsch oder verwerflich, auch wenn sich die ideologischen Grenzen mittlerweile sehr verwässert haben. Das einzige, wo ich persönlich Probleme habe, ist, wo es an die radikalen Ränder geht.

Das sehen wir zum Teil bei Boulevardmedien, die sich nicht um Qualität und um menschliche Werte scheren. Das ist so. Das muss man zur Kenntnis nehmen. Man kann es als einzelner nicht ändern, doch man kann darauf hinweisen, dass es nicht in Ordnung ist.

Wohin können wir uns entwickeln, als Informationsprovider und als Informationskonsument … Verantwortung und Unterscheidungsvermögen?

Das ist eine gesellschaftspolitische Frage, und dazu habe ich eine prononcierte Meinung. Ich fürchte, dass sich die Gesellschaft in vielen Bereichen in eine Richtung bewegt, die nicht besonders gut ist. Stichwort Radikalismus. Wer nicht für mich ist, ist gegen mich. Schwarz-Weiß-Denken anstatt in Grauschattierungen. Ich habe eine qualifizierte Vermutung, warum das so ist.

Ich meine, dass unsere Bildungssysteme seit vielen, vielen Jahren nicht so funktionieren, wie sie funktionieren sollten. Es gibt bislang keinen vernünftigen Unterricht zu Medien und dem Umgang damit. Es gibt marginal Unterricht zu Computern. Da kennen sich die Kinder oft besser aus als die Vortragenden. Da gehört ganz, ganz viel gemacht.

Die Gesellschaft im Globalen braucht einen dramatischen Schwung an Schulung im Umgang mit Information. Wir gehen jedoch – auch finanziell – in eine gespaltene Gesellschaft. In die, die haben und in jene, die nicht haben. Das zählt für Bildung genauso wie für Geld. Diese Spaltung halte ich für grundsätzlich schlecht, weil es auch Entsolidarisierungseffekte mit sich bringt. Jede Spaltung der Gesellschaft ist schlecht, weil Konfrontationsstellungen nie zu wirklich positiven Fortschritten in der Geschichte führten.

Es gibt natürlich jene, die sagen, erst durch Kriegsvorbereitungen entstanden viele Dinge, die wir heute haben. Ich kontere darauf immer mit der Atombombe. Deren Erforschung ist zwar toll und wichtig gewesen. Was man daraus machte, ist jedoch verheerend.

Die Spaltung der Gesellschaft wird auch von den Medien zum Teil betrieben, zum Teil auch zum eigenen Geschäftsmodell genutzt. Das gefällt mir nicht. Mir ist eine inklusive Entwicklung immer lieber, wo man die Gesellschaft als Ganzes mitnimmt, wo man leichter auf die Ränder der Gesellschaft schauen kann, um sie wieder mehr hereinzuholen. Das halte ich für sehr wichtig. Es gibt einzelne Initiativen, die sich darum bemühen.

Faktum ist jedoch, dass diese Initiativen von ihrer Zahl her zu wenig sind. Hier müssten alle mitmachen. Dann würden sich die Medien auch ändern. Sie würden diese Tendenzen zur Spaltung und zur schnellen Schlagzeile statt zur soliden Story mehr hintanstellen, wenn die Menschen nicht darauf hereinfallen. Es ist ein Teufelskreis. Je weniger gebildet man ist, umso schneller fällt man auf etwas herein. Das bewegt die Medien dazu, nicht wirklich viel Bildung zu vermitteln.

Wie kann man diesem Anspruch aus Verantwortung und Unterscheidungsvermögen gerecht werden? Als Journalist und als Konsument?

Die Konsumenten trifft ein bisschen die Pflicht, mit den Medien als Informationsquellen sorgsamer umzugehen. Der Gratiszeitung in einem öffentlichen Verkehrsmittel alles zu glauben, das reicht nicht. Das heißt nicht, dass diese Zeitungen nur Quatsch schreiben. Man muss nur nicht alles auf den ersten Blick glauben. Das tun wir übrigens auch nicht in unserem täglichen Leben. Warum es psychologisch bei Printprodukten so funktioniert, ist eine eigene Frage.

Die Verpflichtung aller Journalisten wäre es, auch der Boulevardjournalisten, auf Niveau zuzuspitzen. Der Boulevard müsste dazu umdenken. Dazu könnte man den Boulevard zwingen, indem man ihm weniger Geld am Silbertablett serviert. Jedoch wer von den Gewaltigen und Mächtigen will das schon?

25.09.2020
Außerordentl. Honorarprofessorin Dr.habil. Dr. Andrea Riemer, Ph.D.
Zur Autorin finden Sie alles Wissenswerte unter:
www.andrea-riemer.de

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Fabio Polly – Copyright by Fabio Polly

Fabio Polly

Fabio Polly Geburtsjahrgang 1958,
nach der Matura „zum Journalisten gescheitert“, weil er nicht das richtige Studium für sich gefunden hat.
Seit 1980 Journalist, hauptsächlich für das Radio, dem auch seine professionelle Liebe gehört.
Sportfan (Tennis, Laufen, Schifahren), liebt Geschichten über den Kosmos (obwohl er davon wenig versteht), liest gerne (von Krimis bis zu Science Fiction).
Familienvater, verheiratet, zwei Kinder.


Veranstalterin Andrea Riemer

Andrea Riemerandrea-riemer-2020 hat es nach einer 25 Jahre umfassenden, internationalen wissenschaftlichen Karriere in Strategie und Sicherheitspolitik gemeistert, sich seit 2012 als gefragte Autorin und Beraterin in Fragen zu Bewusstsein und Achtsamkeit zu etablieren.
Sie gilt mit ihren Arbeiten als Vordenkerin, die abstrakte Überlegungen mit praktischen Übungen für den Alltag gekonnt verbindet. Bewusstsein und Achtsamkeit sind für lebendiges Leben.
Lernen Sie bei einer, die es Ihnen vorlebt.

 

 

 

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