Gab es einen Anfang?
Bereits für die Philosophen der Antike spielte die Frage nach dem Anfang eine große Rolle. Die Vorsokratiker stellten die Frage nach der Arché, also dem Anfang alles Seienden, im Sinne eines Urstoffes, einer Art geistig gedachten Stoffes, aus dem alles besteht bzw. hervorging oder vielleicht auch eher in einer Art unaufhörlichen Prozesses ständig hervorgeht. Schon dieses Urprinzip als Gesetzlichkeit vom Entstehen der Welt verweist auf eine Dualität ‒ Geist und Materie, Innen und Außen, oben und unten.
Als Anfang bezeichnen wir in der Regel einen zeitlichen oder räumlichen Ausgangspunkt eines Vorganges oder einer Sache. Auf das Phänomen der Zeit bezogen entspricht ein Anfang quasi dem Ursprung in einem linearenZeitverlauf, wobei der Zeitpfeil vom Anfang zum Ende zeigt. Weniger linear erscheint uns die zyklische Betrachtung der Zeit, in der auch sich wiederholende Anfänge möglich sind ‒ zum Beispiel der Jahresanfang.
Doch auch hier verbirgt sich eine gewisse Linearität. Deutlicher wird die sich wiederholende Entwicklung in der Natur im Verlauf der Jahreszeiten, die sich wiederum quasi endlos aneinanderreihen, zumindest in unseren Breiten. Weniger klar erscheint uns oft der räumliche Beginn einer Sache, der meist nur bei linearen Objekten wie zum Beispiel Straßen offensichtlich ist. Vom Anfang der ganzen Welt berichten die Schöpfungsmythen, die jeglicher Religion zu eigen sind, und innerhalb der Naturwissenschaften beschäftigt sich die Kosmologie mit dem Beginn unseres heutigen Universums.
So soll am Anfang der Urknall die Entstehung von Raum und Zeit ermöglicht haben. Doch über den Anfang selbst, also vor der sog Planck-Zeit als dem ersten Augenblick nach dem Urknall können keine klaren Aussagen getroffen werden. Und dennoch scheint es einer Eigenart des Menschen zu entsprechen, dass er gesammelte Lebenserfahrungen ‒ also irdisch Erlebtes ‒ auf den Kosmos überträgt. So kommt er zum Schluss, im Kosmos funktioniere alles so wie hier auf Erden.
Mythologisches vom Anfang
In den meisten alten Religionen und Seins-Lehren steht zuoberst eine Gottheit oder auch eine ganze Gruppe von Göttern, oft mit menschlichen oder menschenähnlichen Zügen. Man verehrte in ihnen überirdische unsterbliche Wesen, die mit ihrem göttlichen Verstand allerdings nach Menschenart dachten, planten, Dinge schöpften, Vorgänge begannen und beendeten. Und so hatte alles, was der Mensch zu kennen glaubte, das ganze All, alles Sein, durch eine Gottheit ins Leben gerufen worden zu sein. Zuweilen war man der Ansicht, dass diese bestimmte Gottheit den Kosmos aus ihrem eigenen inneren Wesen heraus geformt hatte.
Auch dachte man in früheren Zeiten, dass die Schöpfung aus einem Chaos heraus entstanden sei, oder auch aus einem Nichts, aus welchem sich die Götter zuerst selbst geboren hätten, um danach die anderen Formen des Seins zu schöpfen. Nach bestimmten Kosmogonien wurde dem Chaos oder dem Nichts bereits eine positive Natur zuerkannt, ein wie auch immer geartetes qualitatives Attribut an sich ‒ und sei es in Form einer reinen Potentialität, aus der alles Existierende hervorgehen sollte. Man vermutete einst, dass aus dem formlosen Zustand, den das Chaos, das Nichts oder die Leere als unmanifestierte Fülle darstellte, sich ein Kraftfeld herauskristallisiert hätte, welches dem Sein zur Geburtsstunde verhalf. Doch steht dies im Widerspruch zu dem, was wir uns heute unter dem Nichts vorstellen, nämlich die Abwesenheit von etwas.
Im Alten Testament schuf Gott im Anfang Himmel und Erde,
und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe und der Geist Gottes schwebte über den Wassern. Gab es also doch einen Anfang? Vielleicht eher eine Art Beginn, denn vor diesem soeben zitierten Anfang gab es bereits Gott, denn Er schuf ja… Schöpfung heißt Wandel aus dem Urgrund allen Seins oder auch das In-Form-Bringen von etwas bereits Bestehendem. Ziehen wir in Betracht, das in den alten Sprachen Zahlen und Buchstaben ein- und dasselbe waren, so wird klar, dass die biblische Schöpfung nicht aus dem Nichts entstand, sondern lediglich die zweite Stufe der Entstehung beschreibt.
Wie oben so unten heißt es schon im Gesetz der Entsprechung, dem zweiten der sogenannten Hermetischen Gesetze, die Ihren Ursprung im Alten Ägypten haben sollen. Bereits der mytische Begründer Ägyptens soll dieses ihm aus Atlantis überlieferte Gesetz gekannt haben, dessen Aufzeichnung für Nachwelt Hermes Trismegistos zugeschrieben wird. Nach diesem Prinzip bringt der Mensch Ordnung in seine Welt. Der Mensch betrachtet sich dabei nach dem Verursacher-Prinzip als im Zentrum befindlich und als Impuls gebend für das Geschehen, das sich um ihn herum abspielt. Mit dem Beginn einer Handlung oder Aktion nimmt sie ihren Anfang. Doch vor dem Anfang einer bewussten Handlung liegt eine Entscheidung.
Nachdem der Mensch als denkendes Wesen anfänglich eine Handlung bewusst beginnen und auch willentlich beenden kann, ist er der Ansicht, dass auch der Kosmos nach dem Verursacher-Prinzip einen Anfang gehabt haben müsse. Dementsprechend spricht das erste der Hermetischen Gesetze vom Prinzip der Geistigkeit. Das All ist Geist, das Universum ist geistiger Natur ‒ und der Ursprung liegt in einer reine Mentalität und Rationalität übersteigenden Geistigkeit. Der Mensch, zumindest der äußere Mensch, denkt sich immer einen Anfang, auch wenn er diesen auf eine andere Ebene verlagert. Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde oder Im Anfang war das Wort sind Vorstellungen aus dem Alten bzw. neuen Testament.
Im Anfang war die Tat, heißt es bei Goethe. Immanuel Kant schreibt in seiner Kritik der reinen Vernunft: Der Anfang ist ein Dasein, vor welchem eine Zeit vorhergeht, darin das Ding, welches anfängt, noch nicht war. Es bleibt uns also lediglich übrig, Nicht-Sein in unserem Vorstellungsvermögen zu bilden, und zwar in Form der Abwesenheit von etwas, einer Art Absenz ‒ als Gegenpol zu unserer Fähigkeit, Seiendes als Gegenwärtigkeit zu erfahren.
Anfangsloser Beginn allen Seins
Schwieriger wird es, sich mit der gedanklichen Vorstellung von einem absoluten Nicht-Sein anzufreunden, also einem absoluten Nichts, quasi ‘vor‘ jeglicher Schöpfung. Es kann doch eigentlich einfach nichts da sein kann, dort wo Nichtseiendes ist. Wenn nun das Nichtseiende aber wirklich existiert, dann ist dieses doch bereits ein Seiendes. Falls nicht, wie verhält es sich dann mit der Existenzgrundlage für das Nichtseiende?
Wäre es uns möglich, einen Zustand des Nicht-Seins zu erkennen, ihn als solchen zu identifizieren, so trüge dieser ja bereits ein charakterisierendes Merkmal, weil er uns zu einem Erlebnis verhelfen würde, nämlich dem Erlebnis des Gewahrwerdens. Wenn etwas aus einem so genannten Nichts hervorkommen kann, dann ist dieses so genannte Nichts bereits ein Etwas. Ein Zustand des Nichts könnte durch sich alleine nicht existieren‚ ohne bereits etwas zu sein ‒ eben ein bestimmter Zustand, und sei es der eines Nichts.
Logischerweise und auch philosophisch hat das Sein nie einen Anfang gehabt.
Es ist seit immer gewesen; denn von woher hätte es kommen sollen? Würde man dem Sein einen Ursprung, einen Quell zuweisen, dann wiese dieser bereits Merkmale einer Bedingung oder eines Zustandes auf, er würde sich irgendwie qualifizieren, und dies entspräche bereits einem Sein. Ebenso wenig kann es natürlich ein Ende des Seins geben. In was würde sich das Sein, der Kosmos oder was auch immer auflösen, in was würde er einmünden oder verschwinden? Sein kann nicht zerstört oder beendet werden, würde dies doch ein seiendes Nichts voraussetzen, das an Stelle des Seins träte.
Doch ein Nichts existiert nicht und das Sein ist stets in irgendeiner Art. Das Sein ist in einem steten Wandel begriffen und die Dinge sind ständig im Werden, so sagt schon der altgriechische Philosoph Heraklit vor zweieinhalbtausend Jahren. Und doch merkt der Mensch oft nicht, dass sich Dinge vor ihm ereignen, denen er einen Anfang des Geschehens oder Entfaltens und Abwickelns derselben zuschreibt, und dabei übersieht, dass es hier gar keinen Anfang gibt, sondern sich der vermeintliche Beginn bei genauerem Hinsehen lediglich als Wandel eines vorherigen Zustandes in einen anderen – nun eben gegenwärtigen – herausstellt. Das absolute Sein ist nicht etwa Ur-Materie, aus der sich die Dinge formen und wieder zurückbilden. Das absolute Sein ist Essenz, dank welcher die Dinge überhaupt erst werden können.
Es braucht natürlich eine gewisse Überwindung, sich ein Ewiges Sein vorzustellen, das es immer gab und das nie einen Anfang hatte.
Ebenso heikel ist es, verstehen zu wollen, was Selbst-Erzeugung, Selbst-Entwicklung bedeutet, denn unser irdisches Leben verwehrt uns die entsprechenden Erfahrungen hierzu. Ein Verursacher-Prinzip, eine Ursache soll hinter allen Dingen, Zuständen und Phänomenen stehen, auch hinter dem Absoluten Sein und hinter dem Kosmischen Selbst. Das scheint uns plausibel ‒ natürlich gestützt auf unseren begrenzten irdischen Erfahrungsreichtum.
Der äußere Mensch vermag es nicht, sich ein ewiges Sein vorzustellen, da er ein solches auf dem ihm vertrauten irdischen Plan mit seinem ihm eigenen beschränken Bewusstsein ‒ also oberbewusst ‒ noch nie irdisch unmittelbar erlebt hat. Entsprechend entbehrt er der notwendigen Erfahrung. Und dennoch ist dieses ewige Sein der Seele des Menschen wohl vertraut. Und so heißt es in einem Ritual der Rosenkreuzer:
Das Sein hat niemals einen Anfang gehabt, denn aus dem Nichts kann auch nichts entstehen. Dunkelheit war überall, bevor das Licht kam. Doch das Licht kam nicht aus der Dunkelheit, denn die Dunkelheit ist das Nichtsein des Lichtes. Licht aber ist eine Eigenschaft des Seins.
24.01.2021
Dr. rer. nat. Alexander Crocoll
Bild und Text (c) AMORC
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Vita des Autors:
Dr. rer. nat. Alexander Crocoll, geb. 1966. Während seiner wissenschaftlichen Tätigkeit Publikation von Arbeiten zur Genetik molekularer Embryologie. Er beschäftigt sich seit frühester Jugend mit spirituellen Fragen, ist seit drei Jahrzehnten AMORC-Mitglied und arbeitet heute als Sekretär in der deutschen AMORC-Zentrale.
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