Der Schlüssel liegt in einer geschulten Wahrnehmung
Wie wir das Gespür für unsere Erde zurückgewinnen
Vor vielen Jahren hatte ich das Glück, einen der wohl größten Geomanten Deutschlands kennen zu lernen: Hans Jörg Müller. Die Kurse, Schulungen und Ausbildungen, die er über seine Akademie „Axis Mundi“ anbot, waren immer gut besetzt und die Inhalte fesselnd. Hans Jörg Müller hatte im wahrsten Sinne der ursprünglichen Bedeutung des Wortes Geomantie ein „Gespür für die Erde“. Im Frühjahr 2019 starb er plötzlich an einem Schlaganfall. Gerade in dieser besonderen Zeit, in der schmerzlich deutlich wird, dass uns als Gesellschaft das Gespür für unsere Erde längst abhandengekommen ist, wiegt der Verlust dieses charismatischen Wegbereiters schwer. Bis heute klingen viele seiner Aussagen in mir nach – Voraussagungen, die mich schon beim ersten Hören vor vielen Jahren aufhorchen ließen.
So prognostizierte er unter anderem, dass wir gesamtgesellschaftlich in eine tiefe Vitalitätskrise geraten würden. Das Wissen um die Erschließung von Vitalität wäre in den alten Weisheitslehren an den heiligen Orten dieser Welt verborgen, und als Kollektiv hätten wir den inneren Schlüssel zum Verständnis dieses Wissens weitestgehend verloren.
Gespür für unsere Erde – Eine innere Umkehr vollziehen und sich dem Wachstumsauftrag zuwenden
Das Ausmaß der Erschöpfung, das die Gesellschaft durchzieht, gibt Hans Jörg Müller schon lange recht. Längst sind die unzähligen Burnout-Symptomatiken nicht mehr allein über die enorme Arbeitsüberlastung und den Geschwindigkeitsdruck einer Gesellschaft zu erklären, die sich permanent selbst überholt.
In vielen Gesprächen, die ich mit zutiefst erschöpften hochsensiblen Menschen geführt habe, zeigte sich: Da gib es einen inneren Anteil ihres Wesenskerns, den sie in einem permanenten Anpassungsdruck fortlaufend verdrängen oder verleugnen mussten, und die Anstrengung, genau das zu tun, wurde immer größer. Tatsächlich war es also das wachsende Ausmaß dieser inneren Trennung von sich selbst, das im Laufe der Zeit schwerer wog als die eigentliche Alltagsbelastung. Meistens bemerkten diese Menschen diesen inneren Prozess jedoch erst, als ihnen ein Burnout die „Muße“ aufzwang, eine innere Umkehr zu vollziehen und sich ihrem wirklichen Wachstumsauftrag im Leben zuzuwenden. Genau dafür wird jenes Wachstumswissen, von dem Hans Jörg Müller sprach, wie eine Art innere Landkarte gebraucht, um jenseits persönlichkeitsorientierter psychologischer Hilfe dem Seelenlicht wieder Raum zu geben.
Gespür für unsere Erde – Wachstumswissen – eine Weisheit jenseits des Verstandes
Um uns den Begriff des Wachstumswissens anzunähern, können wir uns die verschiedenen Möglichkeiten vor Augen führen, einen mystischen Text oder eine Passage aus der heiligen Schrift zu interpretieren. Ein Bild aus der Bibel können wir zum Beispiel als eine historische Begebenheit betrachten und uns fragen, ob das Beschriebene tatsächlich so passiert sein kann. Das wäre eine rein exoterische Betrachtungsweise. Ich kann das Bild jedoch auch aus einer inneren Weisheit heraus übertragen und beginnen, es esoterisch, das heißt in seiner Symbolkraft, zu verstehen.
Nehmen wir zum Beispiel die drei Kreuze auf Golgatha, an denen Jesus und zwei weitere Verurteilte gekreuzigt wurden – dann ist das zunächst einmal die Erzählung der Kreuzigung Jesu. Schaue ich hingegen zum Beispiel im kosmologischen Verständnis der esoterischen Astrologie darauf, stellen diese drei Kreuze auch die Menschheitsentwicklung dar, die auf diesen drei Kreuzen unterschiedlich verläuft. Auf diese Weise offenbart sich mir eine Art Landkarte inneren Wissens. Habe ich mich mit diesem intuitiven Wissen, mit dem mich diese Brille verbindet, jedoch nie befasst, bleibt mir diese Landkarte verborgen und ich kann nur das betrachten, was ich offenkundig sehe. Sie wird solange verborgen bleiben, wie die persönliche Entwicklung benötigt, um sie wirklich zu verstehen – sonst ließe sich dieses Wissen auch gar nicht (aus)halten.
Das ist in anderen Glaubensrichtungen nicht anders. Im tibetischen Buddhismus etwa gibt es fünf zentrale Übertragungen: Verse, die mit dem Verstand allein nicht verstanden werden können. Du kannst erst beginnen, sie vollends zu erfassen, wenn du ihren tiefen Wahrheitsgehalt auch fühlen kannst. Für dieses Wachstumswissen braucht es etwas, das an den heiligen Stätten verfügbar war – eine mündliche Überlieferung und persönliche Unterweisung eines Lehrers, denn das Wachstumswissen selbst war und ist nicht „aufschreibbar.“ Sein Geheimnis gibt sich erst zu erkennen, wenn es ein persönliches Erleben dazu gibt. Erst dann gibt es die Möglichkeit eines inneren Erfassens des Gesamtgewebes eines heiligen Textes. Sein buchstabengetreuer Wortlaut ist wie die Mauer um einen geheimen Garten, dessen dornige Rosenhecke erst dann den Blick auf die Tür ins Allerheiligste freigibt, wenn der Suchende sie auch in sich gefunden hat. Von Eichendorff schrieb dazu seinen berühmten Vierzeiler „Wünschelrute“:
„Schläft ein Lied in allen Dingen, die da träumen fort und fort. Und die Welt hebt an zu singen, triffst du nur das Zauberwort.“ Dieses Zauberwort aber ruht in uns selbst und es ist höchste Zeit, dass wir uns dessen erinnern!
Gespür für unsere Erde – Eine geschulte Wahrnehmung bildet die Grundlage für neue Erkenntnisse
Viele Menschen sind gerade in dieser Zeit auf der Suche. Auf ihrem Weg begegnen ihnen viele Praktiken zur Bewusstseinserweiterung. Damit besteht das Risiko, sich mit einer dieser zahlreichen Möglichkeiten zu identifizieren und damit genau jenen weiten Raum zu verpassen, der ein spontanes Erinnern des „schlafenden Liedes“ ermöglichen würde. Die zuweilen fanatischen Verfechter des „einen Weges“, der ihnen ganz persönlich tiefe Erkenntnisse ermöglicht hat, sind aus meiner Sicht ein wesentlicher Grund, warum der Begriff der Esoterik In Verruf geraten ist. Dabei beschreibt er eigentlich selbstverständlich und natürlich die innere Seite unseres äußeren Erlebens.
Hans-Jörg Müller habe ich als einen großartigen „Magier“ erlebt. Als solcher war er zutiefst vertraut mit vielen Praktiken aus dem alten Wissen. Jedoch hat er dieses „Handwerkszeug“ niemals mit dem Weg verwechselt, sondern es als eine Möglichkeit zur Kommunikation mit einer feinstofflichen Welt genutzt, die sich uns zu erkennen geben möchte. Wir brauchen diese Kommunikationsmöglichkeit dringend, um wieder in eine gute Beziehung zum Wesen unserer Erde treten zu können.
Es entsprach daher seiner langjährigen Erfahrung in Schulung und Begleitung von suchenden Menschen im Bereich der Geomantie, dass er in einem hausinternen Workshop bei Aurum Cordis ausdrücklich und vehement die zentrale Bedeutung einer professionell geschulten Wahrnehmung betonte. Für viele Hochsensible ist genau das ein äußerst wichtiges Thema. Um von den „Seismographen der Gesellschaft“ – Menschen, die auf das „Zuviel“ der Reize vermeintlich keine Wahl haben und in der Folge heftig bis hin zum besagten Burnout darauf reagieren – zu „Pionieren des Wandels“ zu werden, brauchen sie genau das: eine geschulte Wahrnehmung. Sie benötigen die Möglichkeit, in Distanz zum jeweiligen Reiz zu treten und sich innerlich zu orientieren, bevor sie eine informierte Entscheidung treffen können – und sich so selbst auch davor schützen, der Faszination der oft beglückenden Signale aus einer feinstofflichen Welt zu erliegen.
Aus einer vernetzten Wahrnehmung heraus werden andere Erkenntnismodi erschlossen als jene, die für den größten Teil der Menschen die Entscheidungsgrundlage bilden. Doch erst ein geschulter Umgang mit dem Bewusstseinsfokus, sowie ein Bewusstsein für die Sprache der einzelnen Sinne, die sich auf unterschiedlichen Bewusstseinsebenen auch unterschiedlich zu erkennen geben, bildet zum einen die Fähigkeit für komplexe Erkenntnisprozesse in einer immer komplexer werdenden Welt aus – und verbindet uns andererseits auch wieder mit der tiefen Quelle unserer Kreativität und unserer Lebendigkeit.
Die tiefgreifende Botschaft der Krise erfassen
Wachstumswissen ist somit auch ein Teil des Prozesses der „Menschwerdung“, im Sinne des Erwachsenwerdens und der Reife. Eine Reife, die benötigt wird, um ganz persönlich Vitalität in diesen erschöpfenden Zeiten erhalten zu können. Eine Reife, die wir auch brauchen, um in einer Zeit, in der auf Grundlage eines linearen Denkens alle Türen verschlossen scheinen, der daraus entstehenden Angst den Mut einer desidentifizierten Offenheit entgegenstellen zu können.
Beziehen wir diesen Zusammenhang auf die aktuelle Situation der „Tiefenkrise“, die wir weltweit erleben, so wird deutlich, dass Zukunftskompetenz um eine bisher kaum beachtete Komponente erweitertet werden muss: Es geht nicht mehr allein darum, hervorragend ausgebildet zu sein und zugleich wichtige Softskills auf emotionaler Ebene entwickelt zu haben. Vielmehr wird eine reife und geschulte Wahrnehmung von essenzieller Bedeutung sein: Die Fähigkeit zu einer souveränen, aus einer Synopsis der Wahrnehmungskanäle geborenen Erkenntnis brauchen wir nicht allein, um das Geheimnis der Mystik für uns zu einer inneren Erfahrung werden zu lassen. Wir brauchen sie gerade heute mehr denn je, um die tiefgreifende Botschaft der aktuellen Krise zu erfassen und – und vor allem anderen – an ihr wachsend die Welt positiv zu verändern. Das ist modernes Wachstumswissen.
Wir müssen den Blick weiter werden lassen
Dabei möchte ich keinesfalls floskelhafte Aussagen bemühen, wie etwa „Krisen als Chance begreifen“. Solche Sätze empfinde ich mittlerweile als respektlos all jenen gegenüber, die mit der Krise ihre wirtschaftliche Existenz eingebüßt oder den Verlust eines oder mehrerer geliebter Menschen zu beklagen haben. Tatsächlich umfassen die Auswirkungen der Pandemie international alle Bereiche des gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens. Angesicht dieses Leids müssen wir den Blick weiter werden lassen. Wir kommen nicht daran vorbei, zu erkennen, dass wie in einem Brennglas deutlich wird, wo wir als Menschheit egoistisch über alle Grenzen eines lebendigen Systems gegangen sind.
Viel zu lange sind wir einem exoterischen Verständnis einer Bibelstelle erlegen, die besagte, dass wir uns die „Welt untertan machen sollten.“ Was wäre, wenn damit ein Verständnis gemeint sein sollte, wie es zum Beispiel Pietro Archiati skizziert: ein unglaublicher Bewusstseinsprozess, in dem es um eine gegenseitige Durchdringung von Geist und Materie geht. Demnach wäre es die Aufgabe des Menschen, als ein sich geistig entwickelndes Wesen sich auch der Erde wandelnd zuzuwenden. In diesem Sinne würde sich uns die „schlafende Natur“ zur Verfügung stellen, damit wir sie Kraft unserer eigenen geistigen Entwicklung „erwecken.“ Am Ausmaß ihrer Zerstörung jedoch können wir unser grandioses Scheitern in diesem Auftrag ablesen.
Viren sind seit Jahrmillionen Teil unseres inneren Ökosystems. Die unkontrollierbare Ausbreitung und Bedrohung durch ein Virus zeigen auf ein dramatisches Ungleichgewicht. Die „Schlacht“ werden wir vielleicht mit Hilfe von Impfungen und strikter Disziplin gewinnen. Den Krieg jedoch, den wir in unserer Blindheit begonnen haben, können wir nur befrieden, wenn wir der nonverbalen Sprache der Natur wieder zu lauschen beginnen und uns selbst in den Dienst einer übergeordneten Gemeinschaft stellen, um unseren angemessenen Platz darin wieder einzunehmen.
Genau für diesen Prozess brauchen wir Stille und eine gewisse Demut vor der Größe des Geschehens, um mit der Kraft des eigenen inneren Wachstums und einer geschulten Wahrnehmung unsere Rolle eines Zuhörers wieder einnehmen zu können. Es geht um die Frage, was gebraucht wird, längst nicht mehr um das, was wir uns im Außen wünschen würden. Unser Wunsch nach Rückkehr zu einer gewohnten Normalität ist unerheblich geworden.
Was passiert, wenn wir im Außen keine Ideen mehr haben?
Martin Buber hat gesagt „Wir werden am du zum ich“. Eine tiefe Wahrheit, der wir uns wieder öffnen müssen, wenn wir wirklich etwas verändern möchten. Unser Verhalten spiegelt sich in der Natur, spiegelt sich letztendlich auch in der gnadenlosen Ausbreitung des Virus.
Wenn sich die äußeren Maßnahmen als nicht hilfreich erweisen sollten, bleibt uns zunächst einmal nichts anderes, als uns dieser radikalen Erkenntnis zu stellen.
Heilung beginnt mit dem Schritt einer radikalen Akzeptanz dann, wenn wir endlich aufgegeben haben. An diesem Punkt liegt die Umkehr und damit auch die Besinnung auf das, was uns Menschen eigentlich ausmacht. Wir sind bewusste, lernfähige, wandlungsfähige und liebesfähige Wesen. In uns schlummert das Potenzial zum Umgang mit dieser gigantischen Herausforderung, wenn wir den Blick in den Spiegel aushalten und als Reflexionsmöglichkeit nutzen.
Stattdessen schauen wir nahezu nur auf „die Zahlen“, auf Inzidenzwerte und Infektionsstatistiken. Unzählige Talkshows und Diskussionsrunden, besetzt mit hochkarätigen Experten tun nichts anderes, als Szenarien aus Zahlenmodulationen abzuleiten. Wir beobachten genau, ob sich jemand richtig verhält oder nicht, aber der Schwenk in die Innenschau und den möglichen Gewinn daraus, den vollziehen wir nicht. Wir stellen fest, dass immer mehr Menschen in die Depression gehen, dass Kinder und Familien extremen Situationen ausgesetzt werden, dass immer mehr Unternehmen dem Bankrott entgegen steuern.
Wir blicken auf das, was die Pandemie im Außen hervorruft. Wir schauen nach Außen, und wie wir Verhalten ändern oder maßregeln müssen – letztlich immer aus dem tiefen Wunsch, dass die Dinge doch wieder so werden mögen wie vor der Pandemie. Wir hören noch immer nicht zu und werden so das „Zauberwort“ nicht treffen!
Für mich ist es alternativlos, uns umgehend Reflektionsfähigkeit auf- und auszubauen. Um das zu tun, müssen wir zwingend unsere Wahrnehmung schulen. Dafür wiederum brauchen wir Menschen, die darin erfahren sind, und nicht in die Identifikation mit einem der möglichen Ausgänge dieser Krise gehen. Nur auf diese Weise können wir zurückgewinnen, was auch Hans Jörg Müller so sehr am Herzen lag: ein wahrhaftiges Gespür für unsere Erde.
28.01.2021
Jutta Böttcher
Autorin, Gründerin des deutschlandweit ersten Kompetenzzentrums für Hochsensibilität Aurum Cordis
www.aurum-cordis.de
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Gründerin Jutta Böttcher
Autorin, Gründerin des deutschlandweit ersten Kompetenzzentrums für Hochsensibilität Aurum Cordis
Jutta Böttcher gründete im Jahre 2008 das erste Kompetenzzentrum für Hochsensibilität, Aurum Cordis, dessen Geschäftsführerin sie ist und in dem sie seither zugleich hochsensible Menschen begleitet.
Auf dem Weg zum heutigen Aurum Cordis begegneten ihr viele Menschen , die sie inspirierten und deren Impulse sie aufnahm und verwandelte – immer in einem fließenden Wachstumsprozess befindlich. Dabei wurde ihr immer deutlicher, wie wichtig es wäre, Hochsensibilität als Persönlichkeitsmerkmal nicht allein in seinen Auswirkungen auf individueller Ebene zu betrachten, sondern seine gesellschaftliche Bedeutung in Zeiten des Wandels und großer Umbrüche zu verstehen.
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Jutta Böttcher ist Herausgeberin und Mitautorin des ersten Fachbuchs Hochsensibiltät.
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