Auf dem Hoffnungs-Weg zum Homo Oriens
Der römische Dichter Horaz ermahnte im Jahr 20 vor Christus das Volk:
„Sapere aude!“ („wage es, weise zu sein!“)
Der „homo sapiens“, der wissende und weise Mensch steht zur Disposition und mutiert zu einem „homo demens“ anstatt die Transformation zu einem „homo oriens“ ins Auge zu fassen. Die zunehmende Digitalisierung verwandelt den Menschen in einen Roboter bedrohlichen Ausmaßes.
Noch bevor es der industriellen Revolution gelang, den überlegenen praktischen Nutzen der Naturwissenschaft unter Beweis zu stellen, hatten diese kulturelle Entwicklungen auf die Vorzüge einer wissenschaftlichen Sicht der Dinge verwiesen. Die wissenschaftliche Revolution war inmitten des Chaos und der ungeheuren Zerstörungen der Religionskriege entstanden, die auf die Reformation folgten und Europa im Namen konkurrierender christlicher Absolutheitsansprüche in eine über ein Jahrhundert dauernde Krise gestürzt hatten. Solche Umstände waren dazu angetan, nicht nur die Glaubwürdigkeit des christlichen Verständnisses in Zweifel zu ziehen, sondern auch seine Fähigkeit, Sicherheit und relativen Frieden zu schaffen – von universeller Nächstenliebe ganz zu schweigen.
Das Selbstbild des modernen Menschen
wurde im Verlauf des wissenschaftlichen Fortschritts nicht nur radikal in seine räumlichen und zeitlichen Schranken verwiesen, es erfuhr auch eine qualitative Entwertung seines wesentlichen Charakters. So wurde das menschliche Bewusstsein zu einem bloßen Epiphänomen der Materie, einer Sekretion des Gehirns, einer Funktion in einem biologischen Befehlen Folge leistenden elektro-chemischen Schaltsystem.
Das cartesianische Programm der mechanistischen Analyse ging dazu über, seine ursprüngliche Unterscheidung zwischen „res cogitans“ und „res extensa“, dem denkenden Subjekt und der materiellen Welt, hinfällig werden zu lassen.
Die Erkenntnis leitende Hypothese, dass die Komplexität der Welt und der menschlichen Erfahrung im weiteren Verlauf des Fort-schritts eine abschließende Erklärung allein aufgrund naturwissenschaftlicher Prinzipien finden werde, nahm zunehmend – wenn-gleich oft unbewusst – den Status eines wohlbegründeten, wissenschaftlichen Prinzips an, obwohl es sich genau genommen nur um eine Hypothese handelte.
Mir ist bewusst geworden, dass das dynamisches Schöpfungsgeschehen,
die „creatio continua“, ein Werden ist, welches aus dem ruhenden Urgrund, dem Sein, hervorgeht. Am Meeresgrund selbst findet man keine unruhigen Wellenbewegungen; je mehr man aus der Tiefe schöpfend (Kreation, Schöpfung kommt immer aus dem Urgrund) an die Oberfläche gerät, bekommt der Ozean, das Meer als herausragende Welle Existenz; lat.: exsistere = hervortreten. Diese Existenz ist nur eine Teilwirklichkeit des ganzen Lebens, vom dem der größere Teil unsichtbar und verborgen ist. Der Baum wächst von unten nach oben und nicht in umgekehrter Richtung. Die Wurzeln unserer Existenz sind tief verankert. Daher kommen ja unsere Ausdrücke:
- „einer Sache auf den Grund gehen“,
- „das Leben ergründen“,
- „tiefe Gefühle haben“,
- „zutiefst erschüttert sein“,
- „Ursache“,
- „Grund-Motiv“,
- „gründlich“,
- „aus gutem Grunde“.
Der tief verborgene und für alle Wesen gemeinsame Urgrund ist ein Beziehungsfeld von bedingungsloser Liebe.
Das Beobachten der Natur hat sich in fataler Weise zu einem Beherrschen entwickelt,
womit die Trennung vom Urgrund immer größer wird. Das lat. Wort observare (beobachten), engl.: to observe bedeutet, Diener des Objektes (servus obiectus) zu sein und nicht dominus obiectus. Auch ein spirituell Übender bleibt immer Beobachter des Atems, des kosmischen Lebensgeschehens. Der Mensch mag die physiologischen Vorgänge von In- und Exhalation beherrschen und manipulieren, aber den Atem (Sanskrit: Atma, lat.: spiritus) wird er niemals kontrollieren können.
Bildung im Sinne von Erziehung (Zerren, Ziehen, Training von lat. trahere) ist leider ein wenig brauchbarer Begriff. Das englische Wort education (lat.: educere = herausführen) sagt uns, worum es geht. Die Herausführung aus einem Dickicht an Daten und Fakten in den Urbereich des Wissens.
Ayurveda = das Wissen vom Leben ist uns verlorengegangen. Wissenschaft wird mit Wissen verwechselt.
Wir leben in einem Bombenhagel von täglichen Informationen – mit Wissen hat das kaum etwas zu tun.
Je intensiver der moderne Mensch danach strebte, die Natur durch das Verstehen ihrer Prinzipien zu kontrollieren, sich von ihrer Macht zu befreien, von ihren Notwendigkeiten abzukoppeln und über sie zu erheben, desto umfassender verwies ihn seine eigene Wissenschaft wieder zurück an die Natur.
Die Wissenschaft erlebte im 19. und frühen 20. Jahrhundert ihr Goldenes Zeitalter:
außergewöhnliche Fortschritte auf allen wichtigen Feldern; eine breite akademische wie industrielle Forschung; praktische Anwendungen, die sich auf der Grundlage von Wissenschaft und Technik schnell verbreiteten. Der Optimismus der Zeit stand im unmittelbaren Zusammenhang mit einem geradezu grenzenlosen Vertrauen in das Vermögen der Wissenschaft, den Stand des Wissens, die Gesundheit und das allgemeine Wohlergehen der Menschheit immer weiter zu verbessern.
Im Verlauf des 20. Jahrhunderts häuften sich die Grabgesänge auf den Niedergang und den Fall, die Dekonstruktion und den Zusammenbruch jedes einzelnen der großen intellektuellen Systeme und kulturellen Projekte des Westens. Die aufklärerisch-wissenschaftliche Seite des modernen Geistes hatte sich durch ihre eigenen intellektuellen Fortschritte unterminiert und durch ihre wissenschaftlichen, technischen und politischen Folgen radikal in Frage gestellt.
Doch jetzt im 21. Jahrhundert sind wir auf dem Wege,
die Welt in ihrem ursprünglichen Zauber wiederzuentdecken.
Das autonome, individuelle Selbst wird wieder eins bzw. nicht-zwei (Sanskrit: Advaita) mit dem Grund des Daseins.
Der Mensch selbst, sein wahres Wesen, sollte stets Grund und Ziel jeder Reise sein. Das Wort Reise hat etymosophisch mit engl.: to rise (aufstehen, sich bewegen)) zu tun.
Reise, Orientierung, Auferstehung sind absolut identisch (lat.: sol oriens = der Sonnenaufgang).
Das lateinische Verb „oriri“ (hiervon kommt das Wort „Orientierung“) bedeutet: in Bewegung setzen, sich erheben, aufsteigen, sichtbar werden, entstehen, entspringen, geboren werden.
Die Lebensorientierung des Menschen sollte immer ein Emporstreben, der Weg zum Licht und nicht umgekehrt sein. Die Überwindung von Dunkelheit, Untergang und Tod gehören zu den Übungsaufgaben aller nach Gott oder nach dem Urgrund suchenden Menschen.
Der berühmte „Untergang des Abendlandes“ (Oswald Spengler) beschreibt die Vision einer möglichen „Okzidentierung.“
Das bedeutendste Symbol für unseren Lebens-Weg ist der Kreis,
der gleichzeitig die innere und äußere Welt darstellt, weder Anfang noch Ende kennt und für Vollendung steht. Viele gehen einen langen, dem Umfang eines Kreises folgenden Weg, um am Ende wieder bei sich selbst – doch durch die Reise verändert – anzukommen.
Als junger Mensch verlässt man das gewohnte Zuhause mit den vertrauten Denkweisen und begibt sich in die Fremde, auf zunächst unsicheres Terrain. Die neuen Eindrücke sind gewaltig und verwirrend – es gibt so viele Wege, Ideen, Lehren und Meinungen. Vielem wird man anfänglich blind glauben und vertrauen, weil der innere Grund für Sicherheit und Wissen noch nicht tief genug aufgespürt wird.
Zu viel noch spielen oberflächliche Sensationen eine Rolle – der Hunger nach Tiefgründigkeit ist aber immer latent vorhanden.
Das Ego ist mit Recht in der ersten Lebenshälfte – von Ausnahmen abgesehen – eine dominierende Kraft, die nicht leicht bezähmbar ist. Wer will schon loslassen, was er sich unter größten Anstrengungen erkämpft hat (Besitz, Wissen, Macht u.a.). Das Leben ist immer noch an unzählige Bedingungen gekettet.
Der Weg in die Bedingungslosigkeit (z.B. beten, ohne etwas zu erwarten) ist ein mühsamer Umkehrprozess. Die Absichtslosigkeit ist eine wesentliche Vor-aussetzung für den integrativen Ebenen-wechsel: von psyche zu pneuma, von anima zu spiritus, von Seele zu Geist, von Glaube zu Wissen. Solange ich absichtlich agiere (engl.: intention = Absicht, in Spannung sein), vollzieht sich nicht der Sprung in die Leere, wo die Fülle des Seins in der Gegenwart erfahrbar wird. Jede Form von noch so moderner Psychotherapie ruft zumeist schmerz- und leidvolle Emotionen, Bewegungen, hervor.
Das Drama der Bilderwelt kommt kaum zur Ruhe.
Im Zustand des Wissens, der Erleuchtung, wird der Glaube transzendiert, aber nicht aufgehoben. In der völligen Klarheit und Ruhe nach dem Eintritt in die Wirklichkeit unseres innersten Wesens werden alle bisherigen Eigenschaften unserer Natur von der vorangegangenen Trennung erlöst und integrierend miteinander versöhnt. Es gibt jetzt keine Grenzen mehr – der Geist ist sowohl Form als auch Leerheit des Kreises, auf und in dem ich mich bewege. Dieser Zustand ist mit dem individuellen Ego nicht identisch.
„Am Punkt des Geistes überschreiten wir unsere menschlichen Begrenzungen und werden uns der Gegenwart des Unendlichen, des Ewigen oder des Einen bewusst.“
(Mönch & Mystiker Dom Bede Griffiths, 1906 – 1993)
Beide Worte – Intuition wie Intellekt – haben mit dem inneren Universum des Menschen zu tun und führen zur Immanenz.
Bevor wir „intellektuell“ werden können, müssen wir „intuitiv“ sein. Das lat. Deponens „intueri“ bedeutet: hineinschauen, nach innen blicken. Die Stammformen sind: intueor (ich schaue hinein), intuitus sum (ich habe hineingeschaut).
Das logisch folgernde lat. Substantiv „intuitio“ existiert leider nicht, darum erlaube ich mir, es in die Sprache einzuführen.
Nachdem wir tief bei uns selbst innen hineingeschaut haben, können wir an der Quelle des Ur-Grundes die Edelsteine des Wissens aufsammeln: „intra legere“, im Inneren sammeln und lesen. „Collectio“ (deutsch: Kollektion) ist eine Sammlung von vielen Dingen.
Intellekt ist ein ständiges Sammeln an der Ur-Quelle
Wir verschreiben einander Heilmittel, die uns Seelenfrieden bringen sollen, und werden doch selbst von Ängsten aufgefressen. Wir entwickeln Pläne für die Abrüstung und den Frieden der Nationen und all unsere Pläne verändern nur die Art und die Methode der Aggression. Die Reichen haben alles, was sie sich wünschen, außer dem Glück, und die Armen werden dem Unglücklichsein der Reichen geopfert.
Diktaturen nutzen ihre Geheimpolizei, um Millionen von Menschen unter einer unerträglichen Last von Lügen, Gesetzlosigkeit und Tyrannei zu zermalmen, und diejenigen, die noch in einer Demokratie leben, haben vergessen, guten Gebrauch von ihrer Freiheit zu machen. Denn Freiheit ist eine Sache des Geistes, und wir sind nicht mehr fähig, für etwas anderes als für unseren Körper zu leben. Wie können wir Frieden, wahren Frieden, finden, wenn wir vergessen, dass wir keine Maschinen sind, deren Zweck es ist, Geld zu verdienen und auszugeben, sondern spirituelle Wesen, Söhne und Töchter des allerhöchsten Gottes?
Nur wenn wir uns selbst in unserem wahrhaft menschlichen Kontext sehen,
also als Mitglieder einer Rasse, der es bestimmt ist, ein Organismus und „ein Körper“ zu sein, werden wir die positive Bedeutung nicht nur unserer Erfolge, sondern auch der Unfälle und Misserfolge in unserem Leben zu verstehen beginnen. Meine Erfolge sind nicht meine eigenen. Der Weg zu ihnen wurde mir von anderen bereitet. Die Frucht meiner Anstrengungen ist nicht meine eigene: Denn ich bereite nur den Weg für die Errungenschaften anderer. Aber ebenso ist auch mein Versagen nicht mein eigenes. Es kann aus dem Versagen eines anderen hervorgehen, aber es wird auch durch die Errungenschaften eines anderen kompensiert.
Deshalb darf ich den Sinn meines Lebens nicht allein als die Summe meiner eigenen Errungenschaften betrachten. Er ist nur zu verstehen als die vollständige Integration meiner Errungenschaften und meines Versagens in die Errungenschaften und das Versagen meiner eigenen Generation und meiner Gesellschaft und meiner Zeit. Ich erkenne ihn vor allem in meiner eigenen tiefstinneren Integration.
Wir finden die „wahre“ Welt nicht nur dadurch, dass wir beobachten und messen,
was außerhalb von uns ist, sondern indem wir unsere innere Grundlage erforschen. Denn dort ist die Welt zuallererst: in meinem tiefsten Selbst. Doch dort erkenne ich die Welt als etwas ganz anderes als die obligatorischen Antworten.
Dieser „Urgrund“, diese „Welt“, in der ich auf geheimnisvolle Weise sowohl für mein eigenes Ich als auch für die Freiheit aller anderen Menschen präsent bin, ist keine sichtbare, objektive und festgelegte Struktur mit rigiden Gesetzen und Anforderungen. Sie ist ein lebendiges und sich selbst erzeugendes Mysterium, von dem ich selbst ein Teil bin und zu dem ich selbst eine einzigartige Pforte darstelle. Wenn ich die Welt in meinem eigenen Grund finde, kann ich ihr unmöglich entfremdet sein. Es sind gerade die obligatorischen Antworten – die darauf beharren, mir die Welt als etwas vorzuführen, das sich von mir und meinen Nachbarn unterscheidet – die mich mir selbst und meinen Nachbarn entfremden.
Die wahren Lösungen sind nicht diejenigen, die wir dem Leben nach Maßgabe unserer Theorien aufzwängen, sondern jene, die das Leben selbst jenen anbietet, die sich darauf vorbereiten, die Wahrheit zu empfangen.
Darum ist es unsere Aufgabe, uns von all denjenigen loszusagen,
die über Theorien verfügen, welche fest umrissene und unfehlbare Lösungen versprechen, und all solchen Theorien zu misstrauen – nicht in einem Geist der Negativität und der Vereitelung, sondern indem wir auf das Leben selbst vertrauen sowie auf die Natur.
Wir müssen jedoch zugeben, dass die gewohnheitsmäßigen und mechanischen Schlussfolgerungen einer bestimmten begrenzten Art christlichen Denkens die echten Wertperspektiven verfälscht haben, durch die wir die Welt als das, was sie ist, zu entdecken und uns für sie zu entscheiden vermögen. Behandelt man die Welt als eine bloße Ansammlung materieller Güter und Objekte außerhalb von uns selbst und verwirft diese Güter und Objekte, um andere zu suchen, die „innerlich“ und „spirituell“ sind, so verfehlt man damit in Wirklichkeit den springenden Punkt der herausfordernden Konfrontation der Welt mit ihrem ursprünglichen Seins- und Wesensgrund.
„Ohne aus der Tür zu treten,
kannst du die Wege der Welt kennen.
Ohne aus dem Fenster zu schauen,
kannst du die Wege des Himmels kennen.
Je weiter du gehst, desto weniger weißt du.
Die Weisen wissen, ohne zu reisen,
benennen, ohne zu sehen,
wirken, ohne zu handeln.“
(Lao Tse „TAO TE KING“, Kapitel 47)
25.05.2023
Roland R. Ropers
Religionsphilosoph, spiritueller Sprachforscher, Buchautor und Publizist
www.KARDIOSOPHIE-NETWORK.de
Über Roland R. Ropers
Roland R. Ropers geb. 1945, Religionsphilosoph, spiritueller Sprachforscher,
Begründer der Etymosophie, Buchautor und Publizist, autorisierter Kontemplationslehrer, weltweite Seminar- und Vortragstätigkeit.
Es ist ein uraltes Geheimnis, dass die stille Einkehr in der Natur zum tiefgreifenden Heil-Sein führt.
>>> zum Autorenprofil
Buch Tipp:
Kardiosophie
Weg-Weiser zur kosmischen Ur-Quelle
von Roland R. Ropers und
Andrea Fessmann, Dorothea J. May, Dr. med. Christiane May-Ropers, Helga Simon-Wagenbach, Prof. Dr. phil. Irmela Neu
Die intellektuelle Kopflastigkeit, die über Jahrhunderte mit dem Begriff des französischen Philosophen René Descartes (1596 – 1650) „Cogito ergo sum“ („Ich denke, also bin ich“) verbunden war, erfordert für den Menschen der Zukunft eine neue Ausrichtung auf die Kraft und Weisheit des Herzens, die mit dem von Roland R. Ropers in die Welt gebrachten Wortes „KARDIOSOPHIE“ verbunden ist. Bereits Antoine de Saint-Exupéry beglückte uns mit seiner Erkenntnis: „Man sieht nur mit dem Herzen gut“. Der Autor und die sechs Co-Autorinnen beleuchten aus ihrem individuellen Erfahrungsreichtum die Vielfalt von Wissen und Weisheit aus dem Großraum des Herzens.
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