Ich brauche Dich – Reflexionen zum Du Bezug in 5 Akten
Zweifellos ist es gnadenlos entsetzlich, wenn der Mensch über seinen „Gebrauchs.wert“ – wie bei Sachen und Gegenständen – definiert ist. Und doch macht es sehr nachdenklich, wenn für viele Menschen „Alt.sein“ gleichbedeutend ist mit „weniger wert sein“, mit „un.nütz sein“ UND mit „nicht mehr gebraucht werden“ – oftmals geben sie dann die Fahrkarte zum Leben durch einen Akt des Suizids freiwillig zurück. Es macht auch sehr betroffen, wenn ich eine Frau klagen höre: „Er braucht mich ja nicht, er macht ja alles alleine, ich bin Luft für ihn.“
Lebendig sein heißt: in Beziehungen stehen. Beziehungslos.igkeit ist der Tod des Menschen. Und eine der möglichen Beziehungen zum Anderen und zur Welt ist, dass man nötig (und wichtig) ist, dass man uns braucht und auch ge.braucht. Mir wird immer mehr klar, dass Lieben wesentlich auch heißt, sich zu brauchen und sich brauchen zu lassen – aber eben nicht symbiotisch zum puren Ge.brauch und Ver.brauch, sondern als Medium von Beziehungs.freude, von Freiheit und Kreativität im wachsenden Wissen um Anders.sein und Un.verfügbar.keit. Ich brauche Dich – die Geliebte, der Geliebte macht sich schutz.los, und beide gestehen, dass sie ohne einander nicht leben wollen und können. Ich meine, es ist größtes Vertrauen, das Liebende einander schenken können, wenn sie ihre (vermeintliche) Un.abhängig.keit und die eigene Autarkie aufgeben und sich in die Liebe des anderen flüchten. Und ich meine forciert: die Kälte des Lebens ist da hereingebrochen, wo man einander sagt: Ich brauche Dich nicht mehr!
Akt 1 Eine Geschichte
Bevor ich das Thema näher anleuchte, mag ich erst mal eine Geschichte erzählen, in die an ein paar Stellen durchaus auto.biographische Linien integriert erscheinen:
Er ist Mit.sechziger und erlebt auf hoher See seine Wieder.geburt durch den Anderen.
Dies ereignete sich inmitten von tiefster Trauer und Verzweiflung. Bernis Frau war, wenig jünger als er, an Krebs gestorben. Die beiden Kinder studierten auswärts. Berni flüchtete wild und geradezu un.bändig in seine Arbeit. Die abendliche Einsam.keit war grausam und un.erträglich. Er litt an einer schweren reaktiven Depression. Psychopharmaka milderten zwar die Antriebslos.igkeit und hellten die Stimmung während des Tages etwas auf, aber sie vermochten die Ursachen seines Herze.leids nicht zu beseitigen.
In dieser Situation riet ihm sein kluger Hausarzt, eine Kreuzfahrt zu machen, um sich abzulenken. Doch auch hier auf dem Schiff kapselte sich Berni von den anderen ab und verblieb in seiner Alleinsam.keit. Seine Sozio.phobie, die Angst vor den Anderen, lähmte ihn. Und da geschah es:
Am Tisch saß eine ungefähr gleichaltrige Frau, Damenboutiquebesitzerin und Yogina, zierlich, aber auch energisch und lebens.froh. Nennen wir sie Martina. Sie bat um einen Tanz, was Berni nicht ablehnen konnte – sie tanzte ruhig, ohne ein Wort zu sagen. Berni merkte, dass er das genoss, zumal sie sich so weich anfühlte und angenehm nach einem dezenten Parfum roch.
Bei einer Pause auf Deck – die Luft war warm,
die Sterne funkelten an einem wolken.losen Himmel –
brach alles aus Berni heraus und er erzählte vom Tod seiner Frau, von dem langen Krankenlager, den Heilungs.bemühungen, von der Bestattung und seiner zweijährigen Einsam.keit. Einige Stunden sprach er, und Martina hörte einfach nur zu, während sie während der ganzen Zeit ihren Arm um Berni legte. Als er weinte, streichelte sie ihn und wischte mit ihrem Taschentuch die Tränen ab. Obwohl so viel Trauer in Berni war, fühlte er sich irgendwie selig und wie ein Kind geborgen. Und als sie vorschlug, die Nacht bei ihm zu bleiben und ihn zu beschützen, und fragte, ob ihm das recht sei, nickte er bestätigend – sexuell passierte überhaupt nichts, sie hielten sich nur fest umschlungen, und auch Martina erzählte von ihrer traumatisierenden Ehe und Scheidung, und jetzt durfte Berni sie trösten … Heute sind die beiden verheiratet und tragen das Geheimnis dieser köstlichen ersten Nacht un.auslösch.lich in ihrem Herzen.
> … da wurden un.ausgesprochene Signale des “Ich brauche Dich” ausgesandt
> … da erlebte einer zutiefst die Wirklich.keit des chinesischen Sprichworts: “Ein Mensch allein ist noch kein Mensch
> … da fällt mir spontan der herrlich.be.rührende Vers von Rainer Maria Rilke ein: “Darin besteht die Liebe: dass sich zwei Einsame beschützen und berühren und mit.einander reden”
> … da bewahrheitet sich auch meine Philosophie, die keine des puren Selbst.bewusstseins ist, sondern dies ausdrücken will: Das in Wahrheit Mensch.liche und Geistige ist nicht das Zu.sich.(selbst)Kommen, sondern eigentlich das Aus.sich.Heraustreten, das Zum.Anderen.Kommen, was ich mit Viktor E. Frankl Selbst.transzendenz nenne, die wert.vollste aller menschlichen Fähigkeiten.
Wo begegne ich dem Anderen?
Eigentlich überall.
Und da mag einem jeden dann der Mut zuwachsen, dem Anderen zu sagen: “Ich brauche Dich” – und dies hieße auch, die Auf.gabe und die Chance wahrzunehmen, vom Ego.zentriker zum Allo.zentriker (griech. ho allos – der Andere) zu werden, d.h. sich liebend an Andere zu binden und Andere liebend an sich binden zu können. Wer sich im Alltag und im Eros an Andere bindet, der befreit sich von der Einsam.keit der eigenen Ego.zentrik, trotz der un.aufhebbaren Differenz in der Ich.werdung, die letztlich geschieht in der Verantwortlich.keit für den Anderen. So würde dann einer werden (dürfen): ein Ver.bundener und Ver.bündeter mit Anderen. Die „Stärke“ dessen, der „am mächtigsten allein“ ist, ist eher eine tödliche Stärke, sie ist eine Herrschafts.stärke, die etwas ausrichtet, aber nichts gebiert. Niemanden zu brauchen und sich nie brauchen zu lassen, ist aus meiner Sicht Lebens.geiz, nicht Lebens.reichtum.
Akt 2 Angewiesen.heit – wider Autonomie und Autarkie
Es soll aber doch Menschen geben, die – autonom.autark.selbst.bestimmt, wie sie zu sein vorgeben – es tatsächlich für ein Zeichen von Stärke halten, niemanden zu brauchen, und die dem chinesischen Sprichwort hartnäckig Paroli bieten: “Ein Mensch allein ist noch kein Mensch.”
Mir erscheint es aber als selbst.herrliche Arroganz und Un.kultur zu glauben, sich selbst zu genügen, sich nur auf sich selbst verlassen zu können, die Sehnsucht nach Bindung, nach Nähe und Zärtlichkeit unter.drücken zu sollen, es nicht nötig zu haben, mit anderen zu sprechen, sie zu sehen, sie zu berühren, ihnen das Gefühl zu geben (und es erwidert zu bekommen), dazu zu gehören.
Die Anderen sind das Lebens.elexier schlechthin, und ich weiß recht genau aus der Suizid.forschung, dass beispielsweise ein älterer Mensch extrem selbstmord.gefährdet ist, wenn die Zahl seiner monatlichen sozialen Kontakte unter zwanzig fällt. Ich wiederhole, was ich oben schon sagte: Lebendig sein heißt, in Beziehungen zu stehen – Beziehungslos.igkeit ist der Tod des Menschen. Und dort, wo Beziehung ist, da ist auch (in Demut und nüchterner Selbst.einschätzung!) der Mut zur Bedürftig.keit! Je erwachsener die Beziehung, desto symmetrischer auf gleicher Augenhöhe – desto mehr aber auch mit dem Mut, sich wechselseitig einander anzunehmen und die Rollen zu tauschen.
> Ich brauche Dich … geliebtes Gegen.über, weil ich im Spiegel nicht immer nur mich selber sehen will. Der dänische Philosoph Sören Kierkegaard spricht einmal von der Angst, es aushalten zu können/zu müssen, ein In.dividuum zu sein, ein total ver.ein.zeltes Ich, ein Mängel.wesen, das als einzige Kreatur des Planeten um seinen Tod weiß, das Glück erfahren kann, aber auch Kränkungen und Krisen sondergleichen und aller Art erdulden muss. Mag er da, der Mensch – und dies fort.während – alleine, quasi völlig autark, nur auf sich selbst verwiesen sein? „Vae soli“ – „Wehe dem einzelnen, welcher fällt, ohne dass ein zweiter da ist, um ihn aufzurichten“ – so heißt es schon in dem alttestamentlichen Buch des Predigers (Kohelet 4,9).
> Ich brauche Dich … denn der Sinn der Welt entspringt aus dem Sinn des Anderen. Die Hauptsache ist nicht das Selbst.bewusstsein, sondern das Verhältnis zum Anderen. Mensch.sein realisiert sich von Anfang an durch BEI.sein, durch MIT.sein, durch Vor.findlichkeit unter Anderen. Die Ich.werdung geschieht in der Verantwortlich.keit für den Anderen, und eine reine Philosophie des Selbst.bewusstseins, des Zu.sich.Kommens, möge sich transformieren in eine Philosophie des Aus.sich.Heraustretens, des Zum.Anderen.Kommens!
> Ich brauche Dich … weil es eine herrliche Kunst ist und eine Lust, sich zu verschwenden. Verschwenden hängt mit verschwinden zusammen. Aber man verschwindet gerade nicht, wenn man sich verschwendet!
> Ich brauche Dich … das ist eigentlich ein verkappter religiöser Satz, und wer ihn spricht, weiß, was Gnade ist. Sie ist nicht das Mittel, die Unterlegen.heit des einen vor dem Anderen zu über.brücken – sie ist die Gewährung des Ansehens und der Liebe der Angewiesenen untereinander. Eindrucks.voll.berührend ist die Vorstellung vom bedürftigen Gott: Eine der größten Dichterinnen gelebter Gottesbeziehung, Mechthild von Magdeburg, hört Gott zu sich sagen: „Du bist mein Lagerkissen,/ mein Minnebett, / meine heimlichste Ruhe, / meine tiefste Sehnsucht, / meine höchste Herrlichkeit. / Du bist eine Lust meiner Gottheit. / ein Trost meiner Menschheit, / ein Bach meiner Hitze.“ Da spricht ein förmlich verliebter Gott zum liebenden Menschen, und diese heilige Kommunion, dieses Liebesgeflüster zwischen Gott und Mensch dokumentiert zweierlei: Der glaubende Mensch entdeckt die Bedürftig.keit Gottes (“Gott hat an allen Dingen genug, nur allein die Berührung der Seele wird ihm nie genug“) – zugleich entfaltet der Mensch die Un.endlichkeit seiner Gottessehnsucht: “Mir schmeckt nichts, außer allein Gott“ – so die Sprache einer gott.verliebten Frau – „minne.siech“ – von Herz zu Herz. Mystikerinnen sind erwachsen gewordene Christinnen, und sie bekunden uns ihr Erfahrungswissen um die wechsel.seitige (!) Bedürftig.keit! Dieser Gott braucht den Menschen, ein solcher Mensch braucht diesen Gott – aber eben nicht symbiotisch und zwang.haft, sondern im lust.vollen Überschwang der Freiheit, in der Ekstase schöpferischen Verliebt.seins.
> Ich brauche Dich … liebe Oma, weil Du mich Mut und Un.gehorsam lehrst – Ich brauche Dich… liebe Enkelin, nicht nur, weil ich Dir meine Lieblingskleider schenken kann, sondern, weil Du mir die Welt neu zeigst und die Aussicht beruhigend ist, dass nichts verloren gehen wird von dem, was ich ge.lebt und er.lebt habe. Mein Wirken und Sein wirst Du weiter.tragen – es wird in Alltags.strukturen eingehen und mit Sicherheit dazu beitragen, Deine Zukunft (mit.) zu formen.
> Ich brauche Dich … mein Kind, weil ich nur durch Dich wurde, was ich jetzt bin: Mutter, Vater, und weil wir neu Anteil haben am Strom des Lebens, Grenzen erleben, Hindernisse spüren, kreative Lösungen finden und neue Wege zu beschreiten lernen. Es gibt so viele Geheimnisse des Lebens, die wir (erst jetzt) ent.decken, weil Du da bist…
> Ich brauche MICH … Mein Namenspatron, Bernhard von Clairvaux, hat im 12. Jahrhundert dies geschrieben:
“Gönne Dich Dir selbst. Ich sage nicht: Tue das immer; ich sage nicht: Tue das oft; aber ich sage: Tue das immer wieder einmal. Sei wie für alle anderen auch für Dich selbst da, oder jedenfalls sei es nach allen anderen … Wie kannst Du voll und echt Mensch sein, wenn Du Dich selbst verloren hast? Auch Du bist ein Mensch. Damit Deine Menschlich.keit all.umfassend und vollkommen sein kann, musst Du folglich nicht nur für alle anderen, sondern auch für Dich selbst ein aufmerk.sames Herz haben. Denn sogar im Fall, dass Du alle anderen Menschen gewinnen würdest – was würde Dir das nützen, wenn Du dabei ausgerechnet Dich selbst verlieren würdest? …Wem kann denn jemand gut sein, der mit sich selbst schlecht umgeht?“
Unglaublich viele Menschen lieben sich selbst nicht wirklich und haben gar keine richtige Beziehung zu sich selbst, geschweige denn einen soliden Stand in sich selbst – sie stehen und fallen mit der Aufmerksam.keit und Anerkennung durch Andere und sind entsprechend abhängig und manipulierbar.
> Ich brauche Dich … Schmerz, denn wer fähig ist, Leid zu ertragen, ist fähig zur Liebe. Wir alle müssen einüben, dass das Leiden ein zum Glück komplementärer Aspekt des Lebens in dieser Welt ist. Wer den Sinn des Lebens nur in Gesundheit und Glück, nicht aber auch in der Entsagung und den Leiden sucht und finden will, wird un.fähig zum Umgang mit der Ganz.heit und Wirklich.keit des Lebens und seinen Herausforderungen. Er wird es schwer haben, eigenes und fremdes Leiden zu bestehen, wird un.fähig zum Leiden und zur einfühl.samen Hilfe für leidende Menschen. Nur wer fähig ist, Leiden zu ertragen, ist fähig zur Liebe, die für den Anderen da ist, wenn er mich am nötigsten hat. Leidens.fähigkeit und Liebes.fähigkeit entsprechen im persönlichen Leben ebensoeinander, wie im gesellschaftlichen Leben die Leidens.fähigkeit die Grund.lage der Solidarität mit den Hilfs.bedürftigen ist.
> Ich brauche Dich … Tod. Darüber habe ich in meinen letzten zwei Büchern („Älter wird man in jedem Alter. Aussöhnung mit einer Selbstverständlichkeit“ – „In den Armen des Lebens. Reflexionen zum Mensch.sein“) viel und genug geschrieben, hier nur so viel: Der Tod ist kein Tod.feind
Wenn ich jemanden brauche, gebe ich zu, dass es nicht genug ist, mein eigener Souverän zu sein. Ich gebe (in Demut!) zu, dass ich angewiesen bin und mit mir allein nicht auskomme.
Diese ANGEWIESEN.HEIT auf Andere und anderes ist keine Schwäche, sondern Schönheit, Edel.mut, Bescheiden.heit und verrät Wirklichkeits.sinn. Ich finde, die eigentliche Größe des Menschen ist, diese Verwiesen.heit auf Andere (und anderes) zu bejahen und sich ihrer nicht zu schämen.
Ich halte es (daher) für ein Un.glück, von niemandem gebraucht zu werden. Und erneut: Lebendig sein heißt in Beziehungen stehen. Beziehungslos.igkeit ist der Tod des Menschen, und eine der möglichen Beziehungen zu Anderen und zur Welt ist, es nötig zu haben, dass man uns/mich braucht (und ge.braucht).
EIN GANZES LEBEN LANG SIND WIR ALLE ANGEWIESEN – auf die Luft, die wir atmen, auf Mit.menschen und Staat und auf Gegenstände wie Auto und Telefon und auf Versicherungen und Sympathie und Anerkennung usw. Keiner realisiert pure Autonomie und lebt aus sich selbst heraus und durch sich selbst – und keiner bringt sich selbst ins Da.sein!
Jedenfalls ist das Leben des Menschen von verschiedenen Ambivalenzen geprägt: so steht der Autonomie.fähigkeit manche Ab.hängigkeit, der Rationalität das weite Feld der Ir.rationalität gegenüber. Der Mensch lebt durchgehend in Dualitäten: Er atmet ein und aus, er ist tätig und ruhig, er spricht und er schweigt – sein Da.sein entwickelt sich und zer.fällt, der Mensch empfängt sich von irgendwoher (un.gefragte Vor.findlichkeit, Geworfen.heit!) und muss sich irgendwohin ent.lassen (Sterben, Tod!). Ich könnte diese Aufreihung noch weiterspinnen. Auf Eines will ich hinaus:
ES IST EINE GRUND.KONSTANTE DER MENSCHLICHEN EXISTENZ, DASS DER MENSCHLICHEN AUTONOMIE DIE ABHÄNGIGKEIT V O R A U S. L I E G T (man denke beispielsweise nur an das Verhältnis Säugling – Eltern!), und dass Autonomie nur möglich ist, wo diese Ab.hängigkeiten nicht nur wahrgenommen, sondern auch respektiert werden. Wer Ab.hängigkeiten negiert, irrt! So haben kluge Geister immer schon gewusst, dass eine absolute Freiheit, also Autonomie in Rein.kultur, etwas ist, das letztlich in die Un.freiheit führt.
Die entscheidende Dimension unseres Lebens ist wirklich nicht die ausschließliche Autonomie und Selbst.bestimmung des Menschen, sondern die LIEBE und Zuwendung, die wir von Anderen erfahren – d a r a u f sind wir alle angewiesen!
Akt 3 Mehrdeutig.keit der Sprache
Ich nehme alle Vor.behalte gegenüber dem Wörtchen “brauchen” durchaus ernst, wiewohl mir trotzdem die schlicht.demütig.”hilf.lose” Formel “Ich brauche Dich” sehr nach dem Herzen ist, gleicherweise wissend, dass das “brauchen” leicht abrutschen kann in ein bloßes “ge.brauchen”, in ein “miss.brauchen”, in ein “instrumentalisieren” des Anderen, was nichts anderes bedeutet, als ihn wie einen Gegenstand zu benützen, ihn also zu ent.würdigen.
Es ist nun einmal so, dass zwischen der Welt der klaren und deutlichen Begriffe und jener anderen Welt der lebendigen Anschauung ein tiefer Abgrund klafft, der den Philosophen seit jeher fasziniert und die Be.geisterten, Be.rührten und Be.wegten an die Grenzen ihrer Sprach.gewandtheit führt: Wie dürr sind beispielsweise die Worte und Formeln der Liebe angesichts der über.quellenden Empfindungen des Herzens! Fürwahr, das WORT vermag Großes, aber es gibt Größeres. Die wahre Wahrheit zwischenzwei Menschen kann nicht ausgesprochen werden:
Auch die Wendung “Ich brauche Dich” ist natürlich nicht frei von der Zwei.deutigkeit des mensch.lichen Sprechens. Doch ihre Zwie.fältigkeit ist eine ent.lastende. Wer halt NICHT hören will, was da einer in der Emphase seiner Gefühle Persönliches, ja Intimes sagt, nämlich dass er ohne den Anderen sich nicht vorstellen könne zu leben, der muss es nicht. Er kann den Satz auch verstehen als eine schlichte Aufforderung, zu Nutze zu sein. Die boshafte, gleichwohl folgerichtige Antwort auf die Annonce “Ich brauche Dich” wäre dann ein cooles “Wozu?”
Und doch ist es so, dass einer ohne den Anderen nicht sein kann und dass Menschen nur dann bei sich selbst sind, wenn sie in einem Anderen bei sich selber sind. Identität ist stets das Resultat eines Dia.logs. Doch Dia.loge enden nicht selten in der Sprachlos.igkeit. Wir brauchen einander – aber braucht auch ein bestimmter Mensch einen bestimmten anderen Menschen so drängend, dass davon abhinge, ob er zu sich selbst findet? Das zu glauben jedenfalls ist der Anlass zu den vielen hässlichen Varianten des “Ohne einander”, der Weg zu einer Gesellschaft, die am besten als Haifischbecken skizziert wird und zu Miss.gunst, lauernder Kriecherei oder verzweifelter Einsam.keit führt.
So sehr ich die Formel “Ich brauche Dich” mag, sie signalisiert nicht nur ein verlockendes Zusammen.sein, sie verrät auch, dass am Ende mit Freiheits.entzug bestraft wird, wer wider das Gesetz von Nähe und Distanz verstößt:
Sicherlich ist der Satz “Ich brauche Dich” keine genaue Übersetzung des Geständnisses von “Ich liebe Dich”. Beide Phrasen schließen sich aber NICHT (!) (unbedingt) aus.
Aber wo ist noch ein Fünkchen von Liebe im Mit.einander, wenn ich den Satz ins Negative wende und sage: “Ich brauche Dich – nicht” oder “Ich brauche Dich – nicht mehr”?
Für mich ist das Signal, einen Anderen zu brauchen, der Hinweis auf ein un.befragtes und un.gefährdetes ZU.HAUSE. Und die entsprechende Antwort müsste – statt nach dem Zweck, nach dem “Wozu” zu forschen – lauten: “WO?”
Es kommt nicht von ungefähr, dass die erste Frage nach dem Menschen, die im Alten Testament im Gottesgarten Eden vom Welten.eigner gestellt wurde, genau so formulieret ist: “Adam, wo bist Du?”
Es ist dies die Frage der Liebe, die sich wünscht, der Andere möge seinen Platz in der Nähe suchen: “Ich brauche Dich”.
Akt 4 Ein Mensch allein ist noch kein Mensch
Ich kann das “jemanden brauchen” auch an das “alleine.sein” anbinden, denn es ist nun mal so, dass der Mensch ganz Mensch ist erst im MIT.einander (das im besten Falle auch ein FÜR.einander mit ein.schließt).
Dieses kleine Wörtchen “MIT” ist vielleicht das kürzeste Wort, das Mensch.sein in meinem Verständnis kennzeichnet:
Mit.menschlichkeit und Mit.verantwortung,
* mit.gehen und mit.fühlen,
* mit.leiden, mit.trauern und mit.sein,
* mit.tragen und auch mit.freuen, mit.lachen.
Lapidar sagt der Philosoph Martin Heidegger:
“DA.SEIN IST MIT.SEIN”,
wobei das “Mit.sein” die Bedingung der Möglich.keit ist dafür, dass der andere einem begegnen, dass es überhaupt Geborgen.heit geben kann und dass Da.sein schon immer für andere sich öffnet, was die Voraussetzung ist für jedes Sich.offenbaren, jedoch auch für das Ver.schließen.
Die großartigste Erkenntnis der griechischen Antike fasst die todes.mutige Antigone aus Sophokles´ gleichnamiger Tragödie in diese Worte:
“NICHT MIT.ZUHASSEN, MIT.ZULIEBEN BIN ICH DA.”
Wir Menschen bedürfen einander unser Leben lang und soweit wir mit.einander leben, sind wir einander unterschiedliche Begleiter.
Der Mensch ist das Wesen der Beziehung und er kann nur als in Beziehung und damit in Bezügen stehend erkannt werden – daher geht (permanentes) Allein.sein, nicht endende
Einsam.keit und – wie ich diese Zuständlich.keit nenne: – Alleinsam.keit an wahrem Mensch.sein vorbei und lässt den Menschen letztendlich verkümmern, aus.trocknen, “ent.arten”.
Der Mensch ist erst Mensch MIT dem Menschen – freilich bedeutet dieses “MIT”, wie jeder immer wieder mal erleben kann, nicht nur pure Ein.tracht, sondern die zwischen ihr und der Zwie.tracht immer erneut zu erringende Mitte. Diese lebendige und sich fortwährend ändernde Mitte und der immer wieder erneut zu erhandelnde Ausgleich zwischen Personen, die in ihrem Person.sein gleich und ihrer Persönlichkeit un.gleich sind und bleiben, dieser “Ausgleich” kann also nicht Gleich.macherei bedeuten, sondern meint hier das Mindest.maß an einer jeweils “gemeinsamen Sache”, ohne die Personen gar nicht mit.einander handeln könnten.
Nur in einem von Toleranz und Achtsam.keit geprägten MIT.EINANDER UND FÜR.EINANDER, in einer ganz.heitlichen (liebenden) Wert.schätzung des Anderen und seiner Andersartig.keit, in der Akzeptanz der Einmalig.keit und Einzigartig.keit des Anderen ist eine Grundlage gelegt, (abseits arroganter und selbst.gefälliger Autonomie/ Autarkie) menschen.gemäß (d.h. im Verbund, im Du.bezug) zusammenzuleben.
Ich brauche den Anderen – um Mensch zu sein!
Jemand hat mir mal so wunder.voll gesagt: “Die Welt ist voll von so vielen schönen Seelen” – das mag wohl so sein, aber: finden musst Du sie erst! Wo sind sie im persönlich.individuellen Umfeld? Abgetaucht, versteckt? Oder gibt es sie gerade dort nicht? Gut denn, halt weitersuchen, und sei es in virtuellen Netzwerken, wo sie doch ab und an punktuell zu finden sind…
Wir brauchen das Gegen.über – und mit nur einem Flügel (also nur monadisch mit sich alleine) kann man nicht fliegen, wie dies so schön in folgenden Zeilen nachempfunden wird:
we humans are like angels
– with one wing though.
But note:
when we embrace we can fly …
= „Wir mensch.liche Wesen sind wie Engel, jedoch mit nur einem Flügel.
Aber bedenke:
Wenn wir einander umarmen,
können wir fliegen!“
Akt 5 Heimat. Wohnen in mir und bei Dir
“Ich brauche Dich” – natürlich gibt es hier auch falsche Auslegungen, und bereits Immanuel Kant, der große deutsche Philosoph, hat, um den Menschen vor Miss.brauch zu bewahren, gesagt, dass der Mensch “Zweck für sich” sei und niemals als Mittel für andere dienen darf. Letzteres hieße nämlich, ihn zu instrumentalisieren, ihn zu ent.würdigen. Ein Mensch existiert nicht, um (ausschließlich) einem anderen zu nützen, er darf allein für sich selber sein und nicht zum Gebrauch eines anderen, er darf niemals Mittel zum Zweck sein, denn hierbei käme es nicht auf die Person eines Menschen an, sondern auf die Funktion, die er ausübt – taugt er nicht mehr für bestimmte Zwecke, mutiert er zum überflüssigen Fresser und Schmarotzer und kann/muss eliminiert werden. Heute, in einer extrem konsum.orientierten Gesellschaft, in der ein Mensch vorwiegend nach seinem Nutzen, seiner Leistung, seinem Gebrauchs.wert bemessen wird, gewinnt dieser Gedanke, der Kant´sche Ansatz, wieder neu an Bedeutung.
Indes:
Ich brauche Dich, so wie Du bist, das ist – aus meiner Sicht – die Würdigung eines Du, das ich so lassen kann, wie es ist, und es ist auch die Würdigung der eigenen Person, die bereit ist, sich vom Anderen ge.brauchen zu lassen, etwas von sich herzugeben, sich zu verschwenden und dabei nicht ärmer, sondern reicher zu werden. Denn wer “Zweck für sich” ist, kann einem Anderen getrost nützlich sein, ohne dabei sich oder etwas zu verlieren:
Jedes NICHT schändende Gebraucht.werden hat etwas mit Liebe zu tun: ge.braucht werden als eine Möglich.keit, die Anderen zum Leben (und Weiter.leben, zum Über.leben) verhilft, ob man nun ge.braucht wird für Menschen oder für eine Idee oder ein Ziel, das menschen.würdig und menschen.fördernd ist. Wer bei sich selbst zu Hause ist, der vermag es, auch (ganz) nah beim Anderen zu sein. Wer liebt, ist gut zu ge.brauchen – wer sich selbst nicht mag, ist gut zu miss.brauchen.
Deshalb gehört es, will mir scheinen, zu den wichtigen Lektionen des Lebens, den Satz zu lernen: Ich brauche mich – ich darf, nein: ich muss die Fähigkeit entwickeln, bei mir selbst zu wohnen. Dieses “Wohnen bei sich selbst” darf aber nicht zur Selbst.genügsam.keit ent.arten, sondern es soll uns offen halten für die Ausrichtung auf den Anderen: Bei sich selbst in einem offenen Hause wohnen (wo der Andere reichlich Platz findet!) – so könnte ich das vielleicht umschreiben.
Heimat (und Geborgen.sein) ist eine Chiffre für Glück – und da draußen in der großen, weiten, struppigen Welt gibt es nichts Besseres, als zu wissen:
Mein Herz wohnt an einem Ort UND bei einem Menschen, der „niemals“ verloren geht, den ich fundamental nicht verlieren kann, bei und in dem ich mich be.heimat.et wissen/fühlen kann, wo ich (immer) an.kommen (Ad.vent!) darf. Ich kann´s – abschließend – auch noch so sagen:
Ich halte es nach wie vor für ein wunder.volles Glück in der Liebe oder in der Freundschaft, wenn ein Mensch (sich, sein „Haus“ zur Verfügung stellt und) sagt: Ich brauche Dich, Du darfst dort wohnen, mit.wohnen, mit.sein ….
3. Februar 2013
(c) Dr. Bernhard A. Grimm
Autor
Dr. phil. Bernhard A. Grimm
ist Philosoph, Theologe und Althistoriker und beschäftigt sich – nach seiner Tätigkeit in Lehre und Forschung an der Universität München und im Management eines mittelständischen Unternehmens – seit 25 Jahren als selbständiger Dozent in Seminaren, Kolloquien, Vorträgen und Publikationen mit Fragen der Persönlichkeitsbildung, Führungsethik, Sinnfindung, Wertorientierung (Logotheorie) und Spiritualität. Er ist Autor von sieben Sachbüchern (so z.B. „Ethik des Führens“, „Macht und Verantwortung“, „Die Frau – der bessere Mensch“, „Lust auf Leben – Leben braucht Sinn“, „Älter wird man in jedem Alter“).
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