Integrative Medizin – Modebegriff oder Medizin der Zukunft?

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Integrative Medizin drop of waterIntegrative Medizin – Modebegriff oder Medizin der Zukunft?

Eine Meinung als Anregung zur näheren Betrachtung

Können Sie sich noch an einen Gott in Weiß erinnern? Der nette, aber bestimmte ältere Mann, der Ihnen als Kind Ihre Grundimmunisierung verabreichte, Hustensaft und Fiebersenker verschrieb und nebenbei noch Ihre Plattfüße bemerkte? Oder der Chirurg, der die operative Sanierung Ihres Problems als einzige Maßnahme anbot?

Diesen Gott in Weiß gibt es nicht mehr. Oder zumindest nur noch vereinzelt in manchen Peripherie-Krankenhäusern, wo sich archaische Strukturen über Jahrzehnte manifestieren konnten.
Er hatte, bei all seinen bekannten Nachteilen, einen entscheidenden Vorteil: er konnte Ihnen als Patient die Entscheidung abnehmen. Er konnte das nicht nur, er machte es auch.

Das war einerseits bequem, ließ jedoch moderne Begriffe wie Selbstwirksamkeit oder proaktive Salutogenese wie Fremdwörter aus einer fernen, kaum vorstellbaren Zukunft klingen.

Analog zum „Aussterben“ dieser Götter in Weiß begann in den letzten Jahren ein vermehrter Zulauf zu Vertretern der Alternativ- und Komplementärmedizin.

Es ist also in Mode, zusätzlich zur konventionellen Schulmedizin auch alternative und patientenzentriertere Behandlungsmodalitäten in das persönliche Gesundheitskonzept zu integrieren.

So muss man sich die berechtigte Frage stellen, ob das, was unter integrativer Medizin im Sprachgebrauch firmiert, ein Modebegriff ist, der dem Zeitgeist gehorcht, oder ob es tatsächlich die Medizin der Zukunft ist. Das Angebot scheint schier unendlich und reicht von östlich inspirierter TCM- und Ayurvedischer Medizin, über Orthomolekular- und Ernährungsmedizin, bis hin zur Sportmedizin.

Auch Ganzheitsmedizin und anthroposophische Medizin kennt man zum Teil, wie auch neuere Disziplinen, wie zum Beispiel die Bio-Psycho-Neuro-Immunologie (BPNI). Die Entscheidung, welche Art des Zugangs zur überall greifbar scheinenden Gesundheit man wählen möchte, liegt nun beim Patienten.

Doch wo liegen die Stärken der alternativen, wo die der konventionellen Methoden? Welche Rolle spielt hierbei die Evidence based Medicine (EBM, d.h. faktenbasierte Medizin)? Ist die Integrative Medizin ein Modebegriff oder ist es die Medizin der Zukunft? Bilden auch Sie sich dazu Ihre persönliche Meinung.

Alternativmedizin oder konventionelle Medizin?

Dies sind zwei Begriffe, die sehr gut das Dilemma beschreiben, in der sich die moderne Medizin befindet. Während „Alternativ“ eine Entweder-Oder-Konstellation beschreibt, ermöglicht die Bezeichnung „Komplementär“ zumindest die Vorstellung, dass man die konventionelle Medizin durch zusätzliche Maßnahmen ergänzen kann. Trotzdem scheint es in beiden Fällen doch eine strikte Trennung zwischen beiden Welten zu geben. Diese Trennung macht sich seit der Covid-Pandemie noch stärker und restriktiver bemerkbar. Es scheint außer schwarz nur noch weiß zu existieren.

Anstatt sich anzunähern und die anderswo vielbeschworenen Synergien zu suchen, entfernt man sich noch weiter voneinander. Manifestiert sich dadurch die Trennung noch stärker?

Die konventionelle Medizin vergisst dabei, dass wir Menschen mehr sind als nur Organe, Laborwerte oder Krankheitsbilder sind. Sie sucht immer spezifischere Lösungsansätze, die jedoch zunehmend das Gesamtbild aus den Augen verlieren. Und – sie ist haushoch überlegen, wenn es um die Lösung akuter Gesundheitsprobleme geht. Hier stößt die Alternativmedizin an ihre Grenzen. Sie hat ihre Stärken einerseits in der Prävention von Erkrankungen, andererseits in der Therapie chronischer Störungen.

Gibt es doch eine via media, einen verbindenden Weg, wo beide Stränge ihre Vorzüge, ihr Wissen, ihre Kompetenzen in einer Weise einbringen können, dass sie noch stärker dem Patienten zukommen können?

Integrative Medizin – Stein der Weisen oder eine echte Lösung?

Der Begriff „Integrative Medizin“ ermöglicht eine ideologische Zusammenführung beider für sich die Wahrheit beanspruchender Disziplinen – quasi das Beste aus beiden Welten.

Im Zentrum stehen dabei die Bedürfnisse des Patienten und der Arzt wählt die aus seiner Sicht geeignetste Methode aus, um ans Ziel – Gesundheit – zu gelangen. Der ursprüngliche Ansatz der Medizin war ein holistischer Zugang. Es ist ein bisschen wie ‚back to the roots‘ mit aktuellen Möglichkeiten.

Die Diagnose ergab sich im holistischen Ansatz aus der Zusammenschau der in frühen Zeiten noch äußerst dürftigen Befunde. Umso wichtiger war es, das Gesamtbild des kranken Menschen auf sich wirken zu lassen, um Konnexe zwischen Symptomen und korrespondierenden Organproblemen herstellen zu können.

Durch die Vielfalt an Diagnostik- und Therapiemöglichkeiten kann heutzutage die integrative Medizin den holistischen Anspruch für sich beanspruchen und damit dem Patienten das umfassendste Angebot eröffnen.

Ob es die individuell beste Lösung ist, hängt von der Qualität des Therapeuten ab.

Das EBM-Dilemma … Fakten, Fakten, Fakten

Man kann den Eindruck gewissen, dass Wissenschaft die neue Religion ist. Zumindest wirkt es in Zeiten wie diesen, wo es immer wieder um „harte Fakten“, oder „belastbare Daten“ geht so.

Evidence Based Medicine (EBM) ist der Übergriff für alle, durch korrespondierende Studien belegbaren, medizinischen Daten.

Diese Studien werden normalerweise in einschlägigen, wissenschaftlichen Journals publiziert und kosten Geld. Viel Geld.

Ein möglicher und durchaus nachvollziehbarer Kritikpunkt an manchen naturnahen medizinischen Heilverfahren, die man zum erweiterten Kreis der integrativen Medizin zählen kann, ist der Mangel an – an EBM-Standards, an gemessenen „harten Daten“. Dabei handelt es sich teilweise um jahrtausendealte und millionenfach erfolgreich erprobte Heilverfahren wie z.B. die Akupunktur.

Es gibt mehrere Hauptgründe, die diese schwache Evidenz erklären.

Zum einen handelt es sich um sehr junge Forschungsgebiete, wie Meditation, Atemtechnik, oder neuartige Trainingsmethoden, wo es einfach noch zu wenig dokumentierte Langzeiterfahrung gibt.

Der Hauptgrund ist sicherlich finanzieller Natur. Studien kosten sehr viel Geld. Naturgemäß möchte der Initiator einen gewissen Return on Investment (ROI) generieren, was bei patentierbaren Verfahren (Medikamente, medizinische Geräte) im Regelfall sehr lukrativ sein kann. Die meisten der in Naturheilverfahren verwendeten Substanzen (Vitamine, Spurenelemente, Pflanzenextrakte,..) sind jedoch – wie ja der Name schon sagt – natürlicher Herkunft und damit nicht patentierbar. Das heißt aber auch, dass der ROI für den jeweiligen Sponsor sehr begrenzt ist und dementsprechend begrenzte Geldmengen zur Verfügung stehen.

Ein weiterer Faktor ist, dass für einige Verfahren keine adäquaten (weil objektivierbaren) Messverfahren bestehen. Ein sehr populäres Beispiel dafür ist die Homöopathie, deren Wirkung einer – nach Kriterien der EBM – objektivierbaren Messung entbehrt.

Hier stehen wir nun, in diesem Spagat, mit Verfahren helfen zu wollen, die jedoch deutlich weniger ROI, sprich messbaren Profit, vor allem in Geld messbar, einbringen als patentierbare Verfahren. Damit ist das Spannungsfeld zwischen Erfahrung, Fakten und Profit aufgetan, in dem sich Arzt und Patient befinden. 

Das Potential der integrativen Medizin

Diese Tatsachen können faktisch für viele Wissenschaftler einen veritablen Angriffspunkt bedeuten. Als holistisch denkender und wissenschaftlich orientierter Mediziner muss man die Lage jedoch meiner Meinung nach etwas differenzierter betrachten.

Denn die zwei höchsten Gebote des Arztes sind erstens, dem Patienten zu helfen und zweitens, nicht zu schaden – „primum nihil nocere“.

Aus diesem Gesichtspunkt heraus ergibt sich vor allem für die konventionelle pharmakologisch orientierte Medizin eine um vieles höhere Bringschuld, da Medikamente bekanntlich ein nicht zu vernachlässigendes Nebenwirkungsprofil besitzen. Die meisten Therapieverfahren im Bereich der integrativen Medizin (Nährstofftherapie, Trainingstherapie, Akupunktur, Homöopathie, etc.) haben trotz ihres teilweise großen Potentials der Heilung so gut wie keine nennenswerten Nebenwirkungen.

Daher ist aus Sicht des Arztes beiden Geboten bestens Genüge getan.

Denn der große Vorteil dieser teilweise der Alternativmedizin zugerechneten Methoden ist zweifelsohne der dynamische und innovative Charakter, der Lösungsansätze schneller und dabei nebenwirkungsfreier entstehen lässt. Dabei läuft es, wie bereits erwähnt, nicht auf ein „Entweder-Oder“, sondern vielmehr auf ein „Sowohl-als auch“ hinaus. Und im Zentrum steht der Patient.

Meiner Meinung nach ist die integrative Medizin ein großes Versprechen für die Zukunft mit riesigem Potential, aber auch einigen möglichen Stolpersteinen. Um sie vollständig im Kontext der evidenzorientierten konventionellen Medizin zu etablieren, fehlen teilweise noch belastbare Daten, die zurzeit noch eher der Grundlagenforschung zuzurechnen sind. Doch Qualität wird sich durchsetzen.

09.02.2021
DDr. Dietmar Rösler 
Arzt für Allgemeinmedizin, Orthomolekularmedizin und Sportmedizin – Doktor der medizinischen Wissenschaft
https://www.nutropiapharma.com


Autor Dietmar Rösler

Fotocopyright-G.A.S.-Dietmar-Roesler
Fotocopyright-G.A.S.-Dietmar-Roesler

Dietmar Rösler, Jahrgang 1982

2000: Matura am Bundesrealgymnasium Tamsweg
2006: Promotion zum Doktor der gesamten Heilkunde an der Meduni Graz
2008: Promotion zum Doktor der medizinischen Wissenschaft an der Meduni Graz
2005: Forschungsaufenthalt in Marilia/SP Brasilien
2008-2018: Ausbildung zum Allgemeinmediziner und abgebrochene Ausbildung zum Orthopäden und Unfallchirurgen im KH Tamsweg, KH Schwarzach und am Uniklinikum Graz
Seit 2018: Medizinischer Leiter von NUTROPIA PHARMA
Seit 2020: Leiter des Institutes für Nutriologische Medizin INUMED
Seit 2012: Forschungstätigkeit und Publikationen zu meinen Kernthemen Orthomolekularmedizin und Sportmedizin mit Schwerpunkt Mitochondriale Medizin, Zellstoffwechsel und Immunologie

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