Jiva

wasser baum tree

Was ist eine Seele?
Eine interreligiöse Skizze.

Die ältesten spirituellen Schriften, die Veden verwenden zur Bezeichnung einer individuellen Seele den Begriff des Jivas. Jiva heißt zunächst ganz einfach „Leben“. Ein Jiva ist also das, was Leben hat.

Der Jiva wird im Kontext des Atman, des höheren Selbst und wahren Ichs folgendermaßen gesehen:
„Zwei Vögel mit schönem Gefieder, untrennbare Freunde, sitzen auf demselben Baum. Der eine von beiden isst die süße Frucht, der andere beobachtet, ohne zu essen. Auf demselben Baum wohnend, verstrickt sich der Purusha (die Seele) und fühlt sich elend. Er ist verblendet und leidet aufgrund seiner Ohnmacht. Wenn er die ruhige Herrlichkeit des anderen erkennt, wird er frei von Leiden.“
Svetashvatara Upanischad, 4, 6-7

Der Jiva – hier Purusha genannt – ist dabei derjenige, der durch seine Handlung verschiedene Früchte erntet und genießt, sich aber in diesem Handeln verstrickt und aufgrund der Bindung an dieses Handeln leidet. Damit ist klar: Anders als das göttliche Absolute (Brahman) oder der Schöpfergott (Ishvara) ist der Jiva weit von der Perfektion entfernt. Er weist Defizite auf. Das sind Verhüllungen seiner wahren Natur, die aus der grundlegenden Unwissenheit eines eingeschränkten Wesens heraus entstehen: Verunreinigung, Erregung und Unklarheit. Zum einen leidet er unter einem Selbstempfinden der Kleinheit und Bedeutungslosigkeit, da er sich allein unter vielen anderen Jivas (Seelen), Objekten und Phänomenen empfindet. Außerdem unterliegt er als jemand, der sich als ein Handelnder fühlt, den Rückkopplungen seiner Aktionen (Karma).

Der Jiva – eine Illusion?

In seinem Werk „Viveka Chudamani“ beschreibt Shankara zunächst, was nicht der Atman, also das wahre Selbst, sein kann und formuliert fünf sogenannte Umhüllungen (Pancha Koshas): physisch (Körper), energetisch (Prana), astral (Gefühle, Emotionen, gewohnte Bilder), mental (Gedanken) und kausal. Sie sind der Anatman, der Nicht-Atman (nicht das Absolute). Letztlich ist dies auch die konkretisierende Definition der Advaita-Lehre über den Jiva.

Nimmt man die Aspekte der Physis und des Prana weg, dann trifft sich diese Definition auch mit der Definition des Bewusstseinskontinuums als Anatman aus buddhistischer Sicht. Buddhisten glauben nicht an eine Seele, sondern an ein Bewusstseinskontinuum, das verschiedene Formen annehmen kann. Aus der Perspektive des Advaita hat der Jiva damit keine eigenständige Existenz. Der Jiva wird als eine Widerspiegelung des Absoluten in der Welt von Unwissenheit und Dualität angesehen. Ihre Unabhängigkeit hat damit eine illusionäre Natur.

Der Begriff der Seele im Wandel der Zeiten

In manchen Übersetzungen wird der Jiva an dieser und an anderen Stellen als „Seele“ bezeichnet. Dazu muss man erst einmal hinterfragen, wie für den christlichen Kulturkreis der Begriff der Seele belegt ist. Im Neuen Testament stand zunächst das hebräische Wort „Nefesh“. Nefesh ist die Lebenskraft, die das Wesen beim Tod verlässt. In der indischen Terminologie würde man dazu Prana sagen, im Kosha-Modell Shankaras wäre dies die zweite, energetische Hülle, das Pranamaya Kosha.

Ins Griechische übersetzt wurde Nefesh als Psyche bezeichnet. Auch Psyche bedeutete ursprünglich Atem und Leben. Dieser Begriff durchlief in der antiken griechischen Philosophie jedoch einen Bedeutungswandel: Zuerst wurde er Träger von Empfindungen und Einstellungen. Die Psyche konnte also plötzlich gut oder schlecht sein. Und zuletzt wurde die Psyche sogar als unsterblich angesehen. Daraus resultiert der im christlichen Kontext gewohnte Begriff der „unsterblichen Seele“.

Innerhalb des Systems der Verhüllungen des wirklichen Selbst nach Shankara wurde die Psyche also zunächst als Ansammlung von Tendenzen, Prägungen und Emotionen (Manomaya Kosha) sowie als zielbewusster Intellekt, und Intuition (Vijnanamaya Kosha) verstanden. Später erweiterte sich dies, nun als Träger von Glückseligkeit, Licht und Ich-Gefühl (Anandamaya Kosha). Diese Zuordnung liegt zwar nahe am Absoluten, ist aber noch keineswegs als transzendent zu verstehen, sondern als völlig immanent.

Konstrukt oder Kontinuum?

Diese Beschreibung entspricht somit dem Prinzip der fünf Hüllen (Koshas), Träger der Emotionen, der Muster, Tendenzen, Prägungen, aber auch des Karmas zu sein – und damit von Inkarnation zu Inkarnation zu gehen. Sagt man also Seele zum Jiva, muss klar sein, dass es sich dabei nicht um eine wirkliche, eigenständige spirituelle Entität handelt. Gemeint ist ein Konstrukt aus angesammelten Faktoren, das zwar einzelne physische Leben überdauert, dabei aber ständig Veränderungen unterliegt.

Krishna erklärt dies Arjuna im berühmten Dialog zwischen Gott und Mensch (bzw. Seele) so:
„Es gab nie eine Zeit, da ich nicht war, oder du, … und in Wahrheit werden wir auch in Zukunft niemals aufhören zu sein. So wie in diesem Körper das Verkörperte durch Kindheit, Jugend und Alter geht, so geht es auch in einen anderen Körper …“
Bhagavad Gita, 2, 12-13

Shankara erläutert den Jiva weiter:
„Er ist ohne Anfang und vollbringt alle Taten auf der relativen Ebene. Gemäß früherer Eindrücke und Neigungen führt er gute oder schlechte Handlungen durch und trägt deren Folgen.“
Sri Shankaracarya, Viveka Chudamani, 186

Der Jiva ist also ein Kontinuum in einem Kreislauf aus Ursachen und Wirkungen. Er ist dem Samsara und dem Wechsel von Genuss und Leid (wie im Eingangszitat gesagt) ausgesetzt. Die theistischer und dualistischer geprägten Denkschulen des Vedanta sehen dies anders. Sie schreiben dem Jiva eine ontologische Eigenständigkeit zu, weil sie das Gleiche auch mit Ishvara, also Gott als Herrn der Welt, tun. Das unterstreicht die Verbindung des Jivas zu Ishvara.

Die Advaita-Philosophie hingegen sieht den Jiva als eine relative Widerspiegelung des höheren Selbst in Form eines durch seine Identifikation mit seinen Umhüllungen entstandenen Ego-Ichs an. Darin liegt ebenfalls eine Parallelität zum Schöpfergott (Ishvara). Denn auch das Absolute mit Eigenschaften, also Gott mit Form und Name (Brahman Saguna, Ishvara) hat den Charakter einer Widerspiegelung des eigenschafts- und formlosen Absoluten (Brahman Nirguna).

Das spirituelle Potenzial der Seele

Das spirituelle Potenzial der Seele (des Jivas) wird durch die Betrachtung als Widerspiegelung jedoch nicht in Frage gestellt. Dies wird klarer, wenn man als Nächstes den Atman, das wahre Ich, betrachtet. Letztlich geht es nicht darum, ob man die Seele verneint oder sie, so wie sie ist, als ewig ansieht. Ersteres wäre eine nihilistische Auffassung, das zweite wäre das andere Extrem, der Eternalismus. Alles, was als Seele beschrieben werden kann (also ihre Eigenschaften) unterliegt der Veränderung.

Wichtig ist vielmehr, dass man das Konstrukt Seele im Rahmen seiner eigenen spirituellen Metamorphose übersteigt. Man ist dann nur noch der Atman, das wahre Ich, das tatsächliche Selbst. Dieses unterscheidet sich in seiner Substanz nicht mehr durch die eingangs erwähnten Verunreinigungen von der Perfektion des Absoluten, zumindest auf der Ebene des subtilsten Bewusstseins.

Der Weg dahin besteht oft in der Reinigung der Seele und in dem Ansammeln von spirituellem Wissen sowohl mentaler als nicht mentaler Art, jenseits der Konzepte, in der Meditation. Das Ziel dabei ist, die Gegenwart Gottes in sich zu fühlen und dieses Gefühl stetig zu vertiefen.

Die vedische Kosmologie sieht den Menschen als ein Miniuniversum an

und zwar nicht in einem übertragenen, sondern in einem ziemlich direkten Sinn. Im subtilen Körper eines jeden gibt es sieben Haupt- und mehrere Nebenchakren, die wie Portale zu den entsprechenden feinstofflichen Welten zu sehen sind. Und so enthält das Bewusstsein eines Menschen das gesamte Universum in latenter Potenz, mit dem Absoluten an der Spitze aller Qualitäten und Welten.

Ist man in der Meditation tatsächlich in der höchsten Dimension des Bewusstseins angekommen (Nirvikalpa Samadhi), stellt sich die Frage nach einer Seele nicht mehr. Man schaut dann nur mehr hin zum Göttlichen, man sucht danach, immer in Einheit damit zu sein. Seele und Individualität bleiben, spielen aber keine große Rolle mehr. Fast die volle Aufmerksamkeit ist im Absoluten vertieft. Die klassische Metapher der Veden dafür ist eine Puppe aus Salz (das Ego), die in den Ozean (dem Absoluten) hineinkommt. Wieder zurück kann sie nicht mehr. Sie hat sich im Ozean aufgelöst. Aber die Erinnerung an diese Salzpuppe bleibt noch eine Zeitlang zurück. Genauso benutzt man die Erfahrungen seiner früheren Persona, um den Menschen zu dienen und einen gemeinsamen Nenner mit ihnen zu finden.

Das Ego wehrt sich oft ziemlich hartnäckig gegen seine Auflösung, die eine Hingabe an Gott voraussetzt. Das ist von dem Standpunkt des Egos aus verständlich und nachvollziehbar. Jesus brachte dieses Spannungsverhältnis in der Bergpredigt kurz auf den Punkt:
„Niemand kann zwei Herren dienen.“
Matthäus, 6,24

Die Seele muss sich entscheiden: das Absolute oder das Ego.

Nur scheint es dem Absoluten nicht damit zu eilen, dass die Egos zu ihm kommen und sich in ihm auflösen. Der freie Wille und der Wunsch nach noch mehr Erfahrungen in der Dualität werden geschätzt und geachtet. Die Seele entscheidet, was für sie am wichtigsten ist, wie stark der Wunsch nach Non-Dualität ist, und wann und wie der Weg nach Hause anzutreten ist. Man hat Zeit, die Erfahrungen der Dualität in vollem Umfang zu kosten. Ist man müde davon und hat man genug Erfahrungen gesammelt, beginnt der Weg der Suche nach dem Absoluten.

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Und in den Büchern von Swami Vishnudevananda Giri:
„Spirituelle Alchemie – der Weg der inneren Askese“
„Laya Yoga – das Leuchten der kostbaren Geheimnisse“
„Kodex eines Meisters. Der Weg der Vollkommenheit“
„ICH BIN. Spirituelle Alchemie des inneren Universums“

09.05.2023
Ramanatha Giri
www.de.advayta.org

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Ramanatha Giri Jiva Ramanatha Giri

Ramanatha Giri ist Yogi, Philosoph, Lektor, seit 20 Jahren Mönch in der Advaita-Tradition der Siddhas in der Linie des Meisters Swami Vishnudevananda Giri und ist in der Ukraine geboren.

Seit 2010 führt er Seminare und Retreats im Jnana-, Raja- und Kundaliniyoga sowie Pranavidya in Westeuropa, den USA und der Ukraine durch und bietet persönliche spirituelle Beratungen an.

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