Kintsugi – Schönheit braucht keine Perfektion

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Kintsugi kruege agedKintsugi – Schönheit braucht keine Perfektion
Abweichungen von der Norm, Imperfektion und Zeichen von Vergänglichkeit als Inbegriff der Ästhetik.

So, wie wir geboren werden, sind wir vollkommen – und verlieren wir dieses Bewusstsein unserer Vollkommenheit mit jedem Tag, jedem kritischen Blick. Bis wir irgendwann nur noch Mängel, Makel und Macken erkennen können – und die passen nun so gar nicht ins Bild dessen, was wir hierzulande als „schön“ wahrnehmen. Doch warum berauben wir uns der Schönheit dessen, was von der glattgebügelten Norm abweicht? Warum legen wir uns freiwillig eine Binde an, um blinden Auges durch diese Welt zu tappen?

Diese Frage kann uns die hochkomplexe japanische Kultur zwar nicht beantworten, doch sie kann uns helfen, die Augenbinde abzunehmen.

Makel als Schönheit

Kintsugi bezeichnet die alte Kunst des „Goldflickens“, wörtlich übersetzt auch „Goldverbindung“. Diese Technik der Reparatur von Keramik und Porzellan ist der Legende nach im 15. Jahrhundert entstanden, als ein mächtiger Shogun versehentlich seine chinesische Lieblingsteeschale zerbrach. Er schickte in seiner Not die Scherben nach China, wo die Schale mit grobem Metallklammern mehr schlecht als recht wieder zusammengeflickt wurde – was seinen hochentwickelten Schönheitssinn kränkte. Japanische Kunsthandwerker entwickelten daraufhin eine neue, bessere Methode, die viel Sorgfalt und Geschick erfordert:

Zuerst werden die Scherben behutsam wie ein Puzzle zusammengesetzt, dann mit Urushi-Lack wieder geklebt und die Lücken dazwischen bei Bedarf mit Kitt gefüllt. Nach dem Trocknen werden weitere Lacke aufgetragen, in die pulverisiertes Gold (oder Silber oder Platin) eingestreut wird. So wird nicht nur die Funktionsfähigkeit eines Gefäßes wiederhergestellt, sondern seine Bruchstellen betont, mehr noch: als besondere Dekoration genutzt, die das Gefäß zum Unikat werden lassen. Die Edelmetalle werten es sogar noch auf, sodass das ehemals Zerbrochene noch schöner ist, als es im neuen Zustand war.

Dieser Ansatz ist vor dem Hintergrund der Philosophie von Wabi-Sabi zu verstehen, die im 12. Jahrhundert dem Zen-Buddhismus entwachsen und sich der Vergänglichkeit allen Bestehenden bewusst ist. Wabi-Sabi legt den ästhetischen Schwerpunkt nicht auf die offensichtliche und prächtige, sondern die verhüllte und verborgene Schönheit: nicht Sonne, sondern Mond. Als ästhetisches Prinzip breitete sich die Achtung des Vergänglichen, Mangelhaften im 16. Jahrhundert durch die Meister der Teekunst auf andere Bereiche der Kunst und Kultur aus.

Wertschätzung des Einzigartigen

Kintsugi impliziert, dass wir Dinge, die wir wertschätzen, nicht wegwerfen, wenn sie zu Bruch gehen, sondern kitten. Ein zerbrochenes Objekt ist nicht weniger nützlich, wenn es repariert wurde – im Gegenteil: Es ist genauso nützlich und sogar noch schöner, weil einzigartig, und kostbarer, weil um neue Zusätze bereichert. Es ist ein Punkt in Sachen Nachhaltigkeit, wenn wir einen hochwertigen Gegenstand nicht entsorgen, sondern reparieren oder in einer neuen Funktion verwenden: Häuser aus Müll bauen, Teekessel als Blumentöpfe nutzen, Spielzeug aus alten Fahrradreifen basteln. Wenn wir nicht darauf bestehen, dass alle Tassen unseres Tee-Sets identisch aussehen, sondern uns trauen, bunt zu stückeln. In der Mode und Innendekoration entspricht dies dem Trend zum „Shabby Chic“ oder Vintage Look, zum „reclaimed wood“, zum Verfeinern einer Jeans, indem man sie absichtlich beschädigt. Ein Gegenstand wird so im Kontext der Geschichte, die er erzählt, wahrgenommen. Diese Dinge erhalten dadurch eine Einzigartigkeit, die sie von anderen ihrer Art unterscheidet.

Und wie sieht das bei uns Menschen aus? Wir haben mehr Geschichte vorzuweisen als ein Stuhl und meinen doch, wir müssten so makellos und kontextfrei durch dieses Leben gehen, als seien wir erst gestern geschlüpft. Besorgt verstecken wir Bruchstellen und Lücken im Lebenslauf, weil wir fürchten, uns durch die Auszeit in der Jugend oder den Jobwechsel im fortgeschrittenen Alter zu disqualifizieren. Ängstlich greifen wir auf immer dieselbe bewährte Methode zurück, Dinge anzugehen, auch wenn es vielleicht sinnvoll wäre, einmal etwas Neues auszuprobieren – eben weil wir uns fürchten, Fehler zu machen.

Wir halten an Konventionen fest, damit wir uns nicht allzu sehr von unseren Kolleg*innen und Nachbar*innen unterscheiden. Wir verdrängen traumatisierende oder schmerzhafte Erlebnisse; wir klammern aus unserem Leben aus, was nicht sein darf, was wir als dunkel oder häßlich wahrnehmen. Weil wir es nicht wagen, unsere Narben und Makel der Welt zu zeigen, verschwenden wir unsere ganze Energie darauf, eine perfekte Fassade aufrechtzuerhalten, die ohnehin im nächsten Sturm des Lebens nicht bestehen wird. Wir glauben, wir müssten fehlerfrei sein, uniform austauschbar und wie aus einem Guss hergestellt, um „gut genug“ zu sein. Als schämten wir uns für unsere Geschichte, unser Leben, unsere Einzigartigkeit in allen Bereichen, wo es sich von einer gesellschaftlich vorgegebenen, pervers idealisierten Norm entfernt.

Lebenskunst und Heilmethode

Unsere Erfahrungen machen uns zu dem, was wir sind. Unsere Wunden prägen uns und machen uns stärker, wenn wir sie heilen können. Wie wir mit Fehlern umgehen, zeugt von unserer Bereitschaft, zu wachsen und uns weiterzuentwickeln. Erich Kästner hat es erkannt: „Wird’s besser? Wird’s schlimmer? fragt man alljährlich. Seien wir ehrlich: Leben ist immer lebensgefährlich!“
Wir können nicht leben, ohne das Risiko einzugehen, „zu Bruch“ zu gehen, verletzt zu werden, die eine oder andere Macke abzubekommen. Wir können nicht lernen, ohne Fehler zu riskieren. Also sollten wir uns von der gefährlichen Illusion der Perfektion befreien und eine neue Art finden, dem Leben und uns selbst zu begegnen.

Kintsugi ist sowohl Lebenskunst als auch mögliche Anregung, wie wir uns selbst heilen und Krisen bewältigen können, wie Dr. Pascal Akira Frank in seinem Buch darstellt. Anhand von kleinen Alltagsgeschichten des Herrn Nakamura demonstriert er, wie diese Methode dazu einlädt, „den Schmerz, den Schaden und die Wunden als wertvolle Gelegenheiten anzusehen, zu wachsen und uns weiterzuentwickeln.“

Ein Bruch wird nicht kaschiert, sondern hervorgehoben: „Die in leuchtendem Gold erstrahlenden Bruchlinien zeigen dem Betrachter, dass es sich bei dem Gefäß um etwas handelt, das einst zu Bruch ging, dem Besitzer aber so wertvoll war, dass er es mit Zeit, Geduld und Kunstfertigkeit zu neuem Leben erweckte.“
Indem wir die Scherben unserer Selbst neu zusammenfügen, können wir wieder heilen und dabei „eine Form annehmen, die uns wirklich entspricht.“

Frank, dessen Mutter Japanerin ist, ist Kintsugi aus seiner Kindheit vertraut. Die fünf Schritte der Methode überträgt er auf die Wunden, die uns das Leben schlägt. Als ersten nennt er das Zerbrechen: voll Akzeptanz, ohne daran zu verzweifeln oder das Beschädigte einfach „wegzuwerfen“, weil es „unnütz“ geworden ist. Es ist eine Frage der Einstellung, ob wir auch die Kraft und das Potential einer Krise wahrnehmen können. Beim Vorgang des Klebens betrachten wir die Scherben eingehend bzw. reflektieren über das eigene Tun, korrigieren es gegebenenfalls. Nach dem Kleben mit Urushi-Lack lassen wir alles ruhen, bis es trocken und fest geworden ist – und erkennen dabei, „wie wichtig es ist, sich – nicht nur in Krisen – Auszeiten zu nehmen, durchzuatmen und still zu werden.“
Beim Wiederherstellen entfernen wir überflüssigen Urushi, schleifen die Bruchlinien ab und tragen weitere Lacke darauf auf. Dies entspricht der heilenden Kraft des Aufräumens und zeigt uns, wie wir uns von Überflüssigem trennen, Stärken fördern und Resilienz lernen können. Der letzte Schritt des Vergoldens lehrt uns schließlich, wie wichtig es ist, uns selbst zu lieben und Wertschätzung entgegenzubringen: „Wir sind genau so, wie wir sein sollen. Wir sehen es nur nicht, weil unser Blick auf uns selbst verzerrt ist.“

Sich selbst vergolden

Es ist erstaunlich, was eine mit goldenen Bruchlinien versehene Teetasse uns über das Leben lehren kann. Nimm sie achtsam in die Hand, nippe genüßlich deinen Tee aus ihr und lausche ihren Botschaften: Es kann und wird uns immer wieder etwas verletzen, das ist einfach das Wesen unseres Lebens. Daran müssen wir nicht verzweifeln, denn wir können uns selbst heilen und besser, stärker daraus hervorgehen. Narben des Lebens sind Teil unserer selbst, unserer eigenen Geschichte. Wir müssen sie nicht verbergen, sondern dürfen sie voll Stolz annehmen und zeigen, dass wir in ihnen Schönheit erkennen.

Außenseiter*innen, die nicht den konformen Normen entsprechen, sind eingeladen, ihre Einzigartigkeit und Besonderheit zu feiern, statt einem abstrakten und im Grunde banalen Ideal der Konformität nachzujagen. Schämen wir uns nicht, wenn wir anders sind, denn jeder und jede von uns ist anders und eigen und darf es leben und zeigen. Schönheit liegt im Auge des Betrachters; Resilienz und wahre Größe liegen in deinem Herzen, deinem Mut, das Risiko des Lebens einzugehen und dich selbst so anzunehmen und zu würdigen, wie du bist. Nimm also deine Bruchstellen nicht nur gelassen hin, sondern vergolde sie als Zeichen der Wertschätzung dir selbst gegenüber!

Inspiration & Information
Pascal Akira Frank: „KINTSUGI – Scherben bringen Glück. Die Kunst, unsere Wunden zu heilen“, Gräfe und Unzer Verlag

28.11.2021
Martina Pahr
Autorin, Bloggerin und PR – Expertin

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Martina Pahr

ist Autorin, Bloggerin und PR – Expertin, hat vor einigen Jahren den Sprung ins kalte Wasser gewagt und sich selbständig gemacht. Seither tut sie, wovon sie immer geträumt hat, und lebt vom Schreiben.
Beruflich wie auch privat setzt sie sich mit den spirituellen Aspekten des Lebens und den vielen Erscheinungsformen der New-Age-Bewegung auseinander – und nicht immer ist ihr gesunder Menschenverstand überzeugt von dem, was er vorgesetzt bekommt. Sie glaubt ungebrochen an das (viel zu oft ignorierte) Göttliche im Menschen: Eigenverantwortlichkeit und Eigenmächtigkeit, Selbstwert und Selbstheilungskräfte.
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