Künstler und Weiser von Murnau

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Adolph Mutz Böhm – Künstler und Weiser von Murnau

„Hier ist mein Geheimnis. Es ist ganz einfach:
Man sieht nur mit dem Herzen gut.
Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“
Antoine des Saint-Exupéry

Adolph „Mutz“ Böhm

Künstler und Weiser von Murnau
(1926 – 2020)

„Schubert des 20. Jahrhunderts“
„Gerechter unter den Völkern“

BOEHM-Mutz-Erinnerungsbild-07-02-2020
Mutz BOEHM – Erinnerungsbild-07-02-2020

Der Maler, Pianist und Komponist Adolph Kurt Böhm, den seine Freunde „Mutz nannten, war ein ungewöhnlicher und großartiger Mensch. Er starb am 3. Februar 2020 im 94. Lebensjahr – am 27. Juli 2021 wäre er 95 geworden.

Am 26. Dezember 1994, erkannte die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem den wunderbaren Menschen und Künstler als „Gerechter unter den Völkern“ an.

Waren die Fenster des Murnauer Hauses in der Seestraße 6 geöffnet, blieben die Menschen manchmal stehen und hörten wunderschöne Klaviermusik. Hier, am oberbayerischen Staffelsee, lebte Adolph K. Böhm. Für Gedichte von Matthias Claudius, Hermann Hesse, Josef von Eichendorff, Annette von Droste-Hülshoff und Wilhelm Busch komponierte er romantische Melodien. Mehr als 500 Lieder sind in den vergangenen 30 Jahren entstanden. Kaum jemand kennt die Geschichte des bescheidenen Mannes, den Kritiker den „Schubert des 20. Jahrhunderts“ nennen.

Nahezu täglich saß Mutz Böhm an seinem Steinway-Flügel und komponierte, meistens in den späten Abend- und frühen Morgenstunden. Vor 3Uhr morgens ging bei ihm das Licht nicht aus – Gewohnheit aus seiner lang-jährigen künstlerischen Tätigkeit in Paris. Während des Krieges rettete Adolph Böhm zusammen mit seiner couragierten Mutter  zahlreichen Menschen das Leben, und später verdiente er sein Leben mit seinem Klavier-spiel  in Pariser Varietés.

Adolph Kurt Böhm stammte aus dem fränkischen Oberlangenstadt, wo er am 27. Juli 1926 geboren wurde.  

Sein Vater Josef Böhm, der dort eine kleine Korbfabrik betrieb, war Jude, seine Mutter Marie Christin. Die beiden hatten 1921 geheiratet, ihre Buben Adolph und Gerd erzogen sie katholisch. Mit orthodoxer Religion hatten die Verwandten väterlicherseits nicht viel im Sinn. Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung musste Josef Böhm ins KZ nach Dachau. In ihrer Not wandte sich Marie Böhm an den Bischof von Bamberg. Und ein kleines Wunder geschah: Der Bischof erreichte die Freilassung des gefolterten und schwer verletzten Mannes.

Im Dezember 1933 emigrierte die Familie nach Paris. Dort angekommen, lebte sie von den 200 Mark, die sie mitnehmen durfte, von Almosen und manchmal aus der Mülltonne; Adolph Kurt Böhm: „Flüchtlinge durften nicht arbeiten. Mutter fand heimlich eine Putzstelle, und Vater bekam eine Anstellung bei einer jüdischen Pariser Tageszeitung. Tante Metti aus Amerika bezahlte die Wohnungsmiete.“ Adolph und sein Bruder Gerd besuchten vom ersten Tag an eine französische Schule. Sie lernten die fremde Sprache ohne Probleme. Zu Hause wurde aber weiterhin deutsch gesprochen. Viele jüdische Familien wollten dagegen nach der Flucht aus Deutschland von ihrer Muttersprache nichts mehr wissen. So kam es, dass viele deutsch-stämmige Kinder in Frankreich die Sprache ihrer Eltern nicht mehr verstanden.

1940 kam der Krieg nach Paris. Josef Böhm flüchtete in die Schweiz.

Seine Frau und die Kinder blieben in der französischen Hauptstadt. Im selben Jahr begann Adolph Kurt Böhm eine Ausbildung zum Kunstmaler. Wieder half Tante Metti.  Sie finanzierte die Kurse an der Akademie der Künste in Paris: Malerei, Zeichnen, Akt, Reklame und Buchstaben. Die Prüfungen zur Kunst-schule absolvierte der damals 14-Jährige so hervorragend, dass er die erste Klasse überspringen durfte: „Ich war ein fauler Schüler, aber trotzdem der Beste.“ Böhm entwickelte Fähigkeiten, die in den folgenden Jahren vielen Menschen das Leben retten sollten.

Nach der Besetzung Nordfrankreichs mussten alle Juden einen gelben Stern an ihrer Kleidung anbringen. Im Pass wurde mit einem roten Stempel „Jude“ eingetragen. „Manchmal gab es in der Metro Razzien. Dazu wurden Juden von der Gestapo wahllos herausgezogen und auf Lastwagen abtransportiert. Die Familien haben vom Schicksal ihrer verschleppten Angehörigen nie etwas erfahren.“ Der 17-Jährige begann zu grübeln: „Wenn ich den Leuten falsche Pässe ausstellen könnte, müssten sie keine Sterne tragen und wären gerettet.“

Mit Zirkel und Spezialtinte zeichnete Böhm die Stempel auf die Ausweisrohlinge:

„Diese Arbeit machte mir Riesenspaß.“ Als Geburtsorte wurden Gemeinden ausgesucht, die von den Deutschen bombardiert worden waren. In solchen Städten lag kein Stein mehr auf dem anderen. Die Rathäuser waren zerstört. So konnte niemand die Angaben auf den falschen Dokumenten nach-prüfen. Die Manipulationen wurden niemals entdeckt.

Für diese Fluchthilfe wurden Adolph Böhm und postum auch seine Mutter Marie 1995 mit der höchsten Auszeichnung bedacht, die der Staat Israel für Nichtjuden vorsieht: dem Ehrentitel „Gerechter unter den Völkern“. Adolph Kurt Böhm und seine Mutter erhielten die Medaillen auf Initiative von Irene und Raymond Rosenstiehl. Das Ehepaar wurde von Marie Böhm in Dachzimmern versteckt und von den Söhnen mit Kleidung, Nahrung und Bettzeug versorgt. Als die Situation immer gefährlicher wurde, produzierte Adolph Kurt Böhm 1943 ihnen die falschen Ausweispapiere: „Unsere Arbeit war lebensgefährlich. Als 17-Jähriger hat man keine Angst. Da will man nur helfen.“

Er erinnert sich gut an den Polen Hermann Faust: „Wir, vor allem meine Mutter, warnten die Juden vor einer drohenden Deportation. Manche von ihnen wollten das nicht glauben und blieben. Tage später wurden sie abgeholt. Als die Gestapo an die Türe von Hermann Faust pochte, rührte sich der alte Mann nicht. Seine Familie war bereits im Konzentrationslager umgekommen. Die Nazis zogen wieder ab, versiegelten die Türen. Hermann Faust war gefangen. Durch das Fenster versorgten wir ihn einige Tage. Danach fanden wir ein anderes Versteck für ihn. Das Siegel zogen wir vorsichtig ab und klebten es anschließend wieder drauf. Unser Problem war, wo wir die Menschen verstecken und das Essen herkriegen sollten.“

Nach dem Krieg kam die Familie zu bescheidenem Wohlstand.

Es gehörte in der Gesellschaft zum guten Ton, dass die Buben Klavier spielen konnten. Adolph Böhm nahm professionellen Unterricht. Der erste Lehrer war Konzertbegleiter von Maurice Chevalier. Der zweite Lehrer hieß Julius Glücksmann. Der Ballmusiker wollte kein Geld, nur Familienanschluss und die Metrofahrkarte. Er überzeugte Adolph Kurt Böhm vom Beruf des Pianisten. Dazu musste Böhm perfekt vom Blatt spielen können. Jeden Tag brachte Julius Glücksmann einen Stapel neuer Noten, die Böhm, wie er sagt, regelrecht „fressen“ musste.

Für Böhms klassische Ausbildung war Bernadette Alexandre-Georges zuständig,
eine Bekannte von Maurice Ravel. Die Pianistin überredete Böhm zu seinem ersten – und wie er heute sagt, auch letzten – klassischen Soloabend. 18 Stücke standen auf dem Programm. Saal und Flügel waren gemietet, alle Plätze besetzt. Plötzlich plagte Böhm arges Lampenfieber. Sein Bruder Gerd, mittlerweile Arzt geworden, verpasste ihm eine Beruhigungsspritze. Das Medikament bewirkte das Gegenteil: „Ich war so aufgeregt, dass ich das Konzert in der Hälfte der vorgesehenen Zeit herunternudelte. Das war nicht meine Welt.“

Allerdings wollte Böhm die Flinte nicht gleich ins Korn werfen. Noch zweimal spielte er Klassisches im französischen Radio; die A-Dur-Polonaise und die As-Dur-Polonaise von Frédéric Chopin. Auch eines der schwersten Stücke von Franz Liszt, die Campanella, hatte Böhm im Repertoire. Seinen Lebensunterhalt verdiente er aber fortan als Tingeltangel-Musiker in Nacht-Lokalen, aber auch als Klavierbegleiter auf großen Bühnen. Mit einer Reihe französischer Chansoniers ging er auf Tournee.  Ende der 1950-er Jahre stand Böhm mit „Monsieur 100.000 Volt“, Gilbert Bécaud, auf der Bühne. Allerdings nicht als Partner: „Ich spielte im ersten Teil des Abends, Bécaud im zweiten.“

Gegen Ende des Krieges traf er in einem Park Michel Serault.

Der junge Mann wollte Clown werden und blies Trompete. Mittlerweile gehört Michel Serault zur ersten Garde der französischen Schauspieler („Ein Käfig voller Narren“). Die angehenden Künstler taten sich zusammen: „Michel Serault inszenierte den ‘Eingebildeten Kranken’ von Molière. Ich komponierte die Musik dazu und malte die Plakate. Wir sind damals enge Freunde geworden. Eine Freundschaft, die bis heute anhält.“

Nach dem Krieg, als der Vater aus der Schweiz nach Frankreich zurückkam, hatten die Böhms einen Familienbetrieb für Uhrenarmbänder gegründet. Adolph entwarf die Modelle und zeichnete die Reklameplakate. Eines Tages im Jahr 1962 brachte ein Kunde eine Schallplatte in den Laden. Die solle sich Adolph Kurt Böhm unbedingt anhören – der ungarische Klaviervirtuose György Cziffra spielte darauf vier ungarische Rhapsodien von Franz Liszt. Cziffra stand für Fachleute auf der gleichen Stufe wie Vladimir Horowitz und Arthur Rubinstein: „Cziffra war ein Orkan am Klavier. Niemals hatte er ein Stück zweimal gleich gespielt. Er hat mit dem Herzen improvisiert.“

Böhm wollte den Pianisten unbedingt kennen lernen.Musik-und-Menschlichkeit-kurt-boehm

Nach einem Konzert ergatterte er von seinem Idol ein Autogramm. Bis zur ersten persönlichen Begegnung dauerte es aber noch ein Jahr. Zu dieser Zeit hatte Böhm ein Buch über geistige Phänomene geschrieben und mehrere Zeitungsartikel zum selben Thema veröffentlicht. Da kam ihm die Idee: „Cziffra improvisierte bereits als Fünfjähriger im Zirkus. Er spielte das, was ihm das Publikum zurief. Dieses Phänomen ‘Wunderkind’ passte gut zu meinem Thema. Vor diesem Hintergrund habe ich im August 1963 bei György Cziffra angerufen – und gleich einen Termin bekommen. Ich war sehr aufgeregt.“

György Cziffra wohnte in einer 28-Zimmer-Villa und empfing seinen Gast in offenem Hemd und in Hausschuhen. Er war 1921 in Budapest geboren und war mit der Tochter des ägyptischen Botschafters in Ungarn verheiratet. Aus dem Material des Interviews schrieb Adolph Kurt Böhm einen Artikel. Wenige Tage nach dem ersten Treffen bekam er einen Brief von Cziffra, der mit den Worten begann: „Mein lieber Adolph…“ Das war die Geburtsstunde einer Freundschaft, die drei Jahrzehnte, bis zum Tod Cziffras am 15. Januar 1994, dauerte: „György Cziffra hat mein musikalisches Leben geprägt wie kein Zweiter.“ Adolphe Böhm hat eine wunderschöne Biographie in französischer Sprache über ihn geschrieben: „Hommage à Cziffra – Le journal d’une amitié“.

Schwer erschüttert wurde Mutz Böhm durch den tragischen Tod seines Bruders Gerd bei einem Autounfall 1955 in der Nähe von Chartres. Sein Bruder war von Beruf Arzt.

In den 1970-er Jahren verlagerte Mutz“ Böhm seinen Lebensmittelpunkt immer mehr nach Murnau am Staffelsee, der Heimat seiner Mutter.

Das lag wohl auch daran, dass er hier 1972 seine Frau Christl kennen gelernt hatte. In Murnau begann Böhm Gedichte zu vertonen; den Anfang machte er mit Paul Verlaine. Daraus entstand seine erste Schallplatte, für die er Solisten der Pariser Oper verpflichten konnte. Es folgten Platten mit Texten von Josef von Eichendorff, Theodor Storm und Annette von Droste-Hülshoff. Zuletzt unterlegte er Verse des amerikanischen Poeten Robert Frost mit Musik. Einmal brachte Christl Böhm einen Text von Hermann Hesse mit nach Hause. Vom Ergebnis der Vertonung, das auf zwei Schallplatten gepresst und auf Liederabenden vorgetragen wurde, war der Sohn Hermann Hesses, Heiner (1909 – 2003), sehr begeistert.

György Cziffra kam wiederholt an den Staffelsee, um seinen Freund Mutz zu besuchen.

Im Herbst 2014 erschien eine ausführliche Autobiographie von Adolph Böhm in München.

Zu meinem 56. Geburtstag, am 11. Juli 2001, hatte Mutz Böhm das Hesse-Gedicht „Vergänglichkeit“ vertont und mir seine Komposition gewidmet.

Vom Baum des Lebens fällt mir Blatt um Blatt,
0 taumelbunte Welt, wie machst du satt,
Wie machst du satt und müd, wie machst du trunken!
Was heut noch glüht, Ist bald versunken.
Bald klirrt der Wind über mein braunes Grab,
Über das kleine Kind, Beugt sich die Mutter herab.
Ihre Augen will ich wiedersehn, Ihr Blick ist mein Stern,
Alles andre mag gehn und verwehn,
Alles stirbt, alles stirbt gern.
Nur die ewige Mutter bleibt, von der wir kamen,
Ihr spielender Finger schreibt in die flüchtige Luft unsre Namen.

Mit Mutz Böhm verband uns eine wunderbare Freundschaft.

Wir waren häufig zusammen. Wenige Tage vor seinem Tod hatten wir noch zusammen telefoniert.

In meinem Buch „MYSTIKER und WEISE unserer ZEIT“ (Juli 2019) ist er in dem Kapitel porträtiert: „Angestellter Gottes sein“.

Bei strahlendem Sonnenschein haben wir ihn am 7. Februar 2020 in Murnau zu Grabe getragen. Ein unvergesslicher Tag. Ich hatte die Ehre den Text des persischen Mystikers RumiDas Gasthaus“ vorzutragen.

HOSPIZ – Freude im Gasthaus des Lebens

In der gängigen deutschen Umgangssprache liegt der Schwerpunkt in der Bezeichnung von Häusern zur Wiederherstellung der Gesundheit bevorzugt auf Krankheit: Krankenanstalt, Krankenhaus und leider viel zu wenig auf Hospital, die gastfreundliche Unterkunft (lat.: hospes = Gastfreund). Alle gebräuchlichen Worte wie Hotel, Hospital Hospiz gehen auf hospes“ zurück, wo so viel Wärme und Liebevolles beinhaltet sind.

Ein Hospiz sollte man nicht als Sterbeklinik bezeichnen, sondern als Haus der Lebensfreude.

Der persische Dichter und Mystiker  Maulana Dschalal ad-Din Muhammad Rumi (1207 – 1273) hat über das Mysterium eines Hospizes etwas Groß-artiges und Überzeitliches der Nachwelt hinterlassen:

„Das menschliche Dasein ist ein Gasthaus. Jeden Morgen ein neuer Gast. Freude, Depression und Niedertracht – auch ein kurzer Moment von Achtsamkeit  kommt als unverhoffter Besucher.  Begrüße und bewirte sie alle!  Selbst wenn es eine Schar von Sorgen ist,  die gewaltsam Dein Haus seiner Möbel entledigt,  selbst dann behandle jeden Gast ehrenvoll.  Viel-leicht bereitet er dich vor auf ganz neue Freuden.  Dem dunklen Gedanken, der Scham, der Bosheit –  begegne ihnen lachend an der Tür und lade sie zu Dir ein. Sei dankbar für jeden, der kommt,  denn alle sind zu Deiner Führung geschickt worden aus einer anderen Welt.“ 

(N.B. Obigen Text habe ich bei der Beerdigung von Irene Bauer-Kempff, der Lieblingstochter des großen deutschen Pianisten Wilhelm Kempff, 1895 – 1991, vorgetragen. Irene starb mit 77 Jahren am 25. April 2012 in Benediktbeuern, war tief spirituell verankert und mit mir in ständigem Austausch. Den Rumi-Text hatte ich auch im Februar 2020 am Grab unseres Freundes Mutz Böhm vorgetragen. Der „Schubert des 20. Jahrhunderts“, „der Weise von Murnau“, starb friedlich am 3. Februar 2020 im 94. Lebensjahr, wenige Wochen vor Beginn des CORONA-Lockdowns. Er war eine Lichtgestalt). 

Dschalal ad-Din Muhammad Rumi

wurde am 30. September 1207 in Balkh im damaligen Persien und heute in Afghanistan geboren und starb am 17. Dezember 1273 in Konya, heute Türkei- Er war einer der bekanntesten persischen und islamischen Mystiker und gilt als Gründer der MevleviTariqa (Mevlevi-Derwischorden). Von seinen Derwischen und auch späteren Anhängern wird er Moulana persisch/arabisch „unser Herr/Meister“ von arabisch:  maulan, „Herr“) oder (in türkischer Aussprache) Mevlana genannt. Zu Zeiten Rumis wurde Anatolien von den Rum-Seldschuken regiert, daher der Beiname Rumi (= Oströmer, Byzantiner).

Als Maulana (Rumi) noch ein Kind war, fielen die Mongolen unter Dschingis Khan im Jahr 1219 in Balch ein. Das hatte sein Vater vorausgesehen, da der Khwarezmshah einige Kaufleute der Mongolen töten lies und ein Racheakt zu befürchten war. So hatte er mit seiner Familie die Gegend schon verlassen, um nach Mekka zu pilgern.  Dschalal ad-Din Muhammad Rumi studierte an der Madrasa-Universität von Konya unter seinem Vater Islamwissenschaften und übernahm nach dessen Tod im Jahr 1230 oder 1231 seinen Lehrstuhl. In den Sufismus wurde er von einem Murschid namens Sayyid Burhanuddin Muhaqqiq Tirmidhi eingeführt. Gemeinsam reisten sie nach Aleppo und Damaskus, wo sie Ibn Arabi von Murcia (Spanien), einem einflussreichen Sufi-Meister begegnet sein sollen.

Als Gelehrter erlangte Maulana Dschalal ad-Din große Berühmtheit und er lebte und handelte, wie es sich für einen gestandenen und hoch angesehenen Gelehrten traditionellerweise gehörte.
Nach seinem Tod wurde er in einem Mausoleum beigesetzt, das dem Maulawi-Orden daraufhin ebenfalls als Versammlungsort diente. Dieses Mausoleum ist seitdem das Wahrzeichen von Konya und bis in die heutige Zeit dient es als Wallfahrtsort gläubiger Muslime und der Anhänger Maulanas. Als Mustafa Kemal Atatürk am 2. September 1925 im Zuge der Säkularisierung öffentliche religiöse Handlungen verbot, war auch der Mevlevi-Orden davon betroffen.

Die Lehre Maulanas basierte darauf, dass er die Liebe als die Hauptkraft des Universums ansah.

Genauer gesagt ist das Universum ein Harmonisches Ganzes, in dem jeder Teil mit allen anderen in einer Liebes-Beziehung steht, die wiederum einzig und allein auf Gott gerichtet ist und nur durch seine Liebe überhaupt Bestand haben kann. Der Mensch, der als ein Teil dieses harmonischen Ganzen geschaffen ist, kann die Harmonie mit sich selber und dem Universum nur dann erreichen, wenn er lernt, Gott zu lieben. Seine Liebe zu Gott wird ihn dann dazu befähigen, nicht nur seine Mitmenschen, sondern auch alle Dinge, die von Gott geschaffen sind, lieben zu können.

Gott durch Liebe näher zu kommen ist für Maulana, genau wie für die meisten Sufis, der Weg zur wahren Erfüllung im Leben. Der Grund für seine Berühmtheit ist, dass er die Fähigkeit besaß, diese Lehre in einer Poesie von unübertrefflicher Schönheit wiederzugeben. Er beschrieb mit derselben Eloquenz die Freude, Gott näher zu kommen, wie die Trauer, von Gott getrennt sein zu müssen. Wie auch andere mystische Dichter bezeichnete er Gott als den Geliebten und die menschliche Seele, die auf der Suche nach Gott ist, als den Liebenden.

„Ich versuchte GOTT zu finden am Kreuz der Christen, aber er war nicht dort.  Ich ging zu den Tempeln der Hindus  und zu den alten Pagoden,  aber ich konnte nirgendwo eine Spur von ihm finden.  Ich suchte in den Bergen und Tälern,  aber weder in der Höhe noch in der Tiefe  sah ich mich imstande ihn zu finden.  Ich ging zur Kaaba in Mekka,  aber dort war er auch nicht.  Ich befragte die Gelehrten und Philosophen,  aber er war jenseits ihres Verstehens.  Ich prüfte mein Herz und dort verweilte er,  als ich ihn sah. Er ist nirgends sonst zu finden.“

In einem Hospiz öffnet sich das Tor zum Leben

(lat.: mors porta vitae).
Mit einer bewusstseinsverarmten Sprache beschreiben wir die Pole von Geburt & Tod einerseits aktivisch sowie andererseits passivisch. „Ich werde geboren“ (lat.: nascor) leuchtet insofern ein, weil die Mutter die aktiv Gebärende ist. Aber das Sterben, das ja ein oft bewusster Leidensvorgang ist, mit einer Aktiv-Verbform zu konjugieren, ist doch sehr unlogisch. Hier ist der Lateiner konsequent und benutzt abermals die Passivform: morior = ich sterbe (wörtlich: „ich werde gestorben“); das Verb moriri (sterben) ist ein so genanntes Deponens, das passivisch konjugiert und als Aktivform verstanden wird. Nur ein Anderer kann über mich die Aussage treffen, dass ich gestorben bin. Diese Selbstaussage könnte man für die wenigen Erleuchteten akzeptieren, die ihr Ego überwunden haben und zum eigentlichen göttlichen Wesenskern vorgedrungen sind, wo das berühmte Pauluswort Bedeutung bekommt: „Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir“ (Galater 2,20).

Hier wird die Sterbebegleitung in der Aufgabe des Egos zur Auferstehungserfahrung im Hier & Jetzt. Dann erleben wir „mors porta vitae“, den Tod als Pforte zum Leben. Dieser lateinische Spruch ist ein klassisches Beispiel für den „genitivus obiectivus“, der auch bei „amor dei“ (die Liebe zu Gott) zum Tragen kommt. In der lateinischen Sprache Unkundige erkennen nur den „genitivus partitivus“ als Liebe Gottes und übersehen die andere Richtungsmöglichkeit.  Es ist ein Unterschied, ob ich sage: „Tor des Lebens“ (genitivus partitivus) oder Tor zum Leben“ (genitivus obiectivus).

Das 7. Kapitel in Lao Tse’s „Tao Te King lehrt uns:

„Himmel und Erde überdauern alle Zeit.
Sie überdauern alle Zeit, weil sie nicht um ihrer selbst leben.
Deshalb können sie immer leben.
Der Weise tritt zurück,
und gerade ist er deshalb so weit voraus.
Er gibt sein Selbst auf, und gerade deshalb bleibt es erhalten.
Weil er sein Selbst vergisst,
kann er sein Selbst finden“.

 22.07.2021
Roland R. Ropers
Religionsphilosoph, spiritueller Sprachforscher, Buchautor und Publizist

www.KARDIOSOPHIE-NETWORK.de


Roland-Ropers-Portrait-2021Über Roland R. Ropers

Roland R. Ropers geb. 1945, Religionsphilosoph, spiritueller Sprachforscher,
Begründer der Etymosophie, Buchautor und Publizist, autorisierter Kontemplationslehrer, weltweite Seminar- und Vortragstätigkeit.
Es ist ein uraltes Geheimnis, dass die stille Einkehr in der Natur zum tiefgreifenden Heil-Sein führt.
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