Moderner europäischer Schamanismus

Tunritha Schamanismus Anette Baumgarten

Moderner europäischer Schamanismus Moderner europäischer Schamanismus

Moderner europäischer Schamanismus – Im Allgemeinen wird der Schamanismus als die älteste, genauer nachweisliche Form religiösen Denkens beim Menschen bezeichnet (Eliade/Gorbatcheva) denn dieser ist seit der frankokantabrischen Höhlenkunst des Aurignacien, im Jungpaläolithikum relativ sicher nachweisbar, also vor etwa 30.000 Jahren (Eliade: Geschichte der religiösen Ideen).
www.lascaux-dordogne.com

Obwohl wir in (Mittel-)Europa seit mehreren hundert Jahren keine ungestörte oder -gebrochene schamanische Tradition mehr haben, blicken wir doch auf einen reichen Schatz an schamanischen „Indizien“ und Überresten, auch in unserer Kultur und unserem regionalem Raum, zurück. Zehntausende von Jahren mit schamanischem Weltbild haben auch in Europa deutliche Spuren hinterlassen.

Sei es der Weltenbaum in der germanischen Mythologie, die Tier-Geister und Tier-Verbündeten der Hexen und Zauberer im Märchen, ein reicher Mythologie und Sagenschatz über Orts-, Natur- und Schutzgeister, das Besprechen, Bebeten oder Besingen von Krankheiten, schamanische Reiseberichte wie im Märchen von Gold- und Pech-Marie, Trance- und Ekstase-Techniken, die sich sogar in Teilen der kirchlichen Liturgien und Bräuche erhalten haben etc.

435-229-Anette-SchlegelDieser Schatz lässt sich heben und neu in unseren Alltag einfügen.

Wir können nicht die Bräuche und den ursprünglichen Schamanismus Europas in Gänze und zweifelsfrei rekonstruieren und wiederbeleben, dafür reichen die Erkenntnisse aus Archäologie und Religionswissenschaft nicht aus. Auch ist es eine Frage wie sinnvoll das überhaupt in der heutigen Zeit wäre. Unsere Leben, Werte, Sitten und auch unsere sozialen Netze sind doch sehr unterschiedlich von denen unserer Vorfahren.

Aber, wie beinahe immer gilt „Wir sind Zwerge auf den Schultern von Riesen“ (frei nach Bernhard von Chartres) und können uns die Erkenntnisse der heutigen Zeit zu Nutze machen.

Mit Hilfe lokaler Überlieferungen, Märchen, Sagen und Legenden, schamanischer Praxis und Vision, wissenschaftlichen Erkenntnissen und der Orientierung an den Bedürfnissen der neuen Zeit, lässt sich eine indigene, europäische und gleichsam moderne und zeitgemäße schamanische Spiritualität erarbeiten.

Schamanismus und schamanisches Weltbild sind etwas das man erleben muss. Man kann natürlich viel darüber lesen und hören, aber die echte Erkenntnis, wie real und nutzbringend auch für uns heute noch die „Beseeltheit der Welt“ und die Kraft der Anderswelt sind, kommt nur mit der schamanischen Praxis.

ritual2-Die schamanische Praxis wiederum sollte auch ganz praktisch nutzbringend sein, für den schamanischen Praktiker und auch für seinen „Stamm“. Daher braucht es dringend einen Schamanismus oder sogar Schamanismen der oder die an die moderne Zeit, ihre Regeln und Bedürfnisse als auch an die Menschen und Geister der Region, in der Mensch lebt, angepasst sind.

Mein Großvater lernte zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts noch Heilgesänge, Sprüche und Gebete zur Bekämpfung bestimmter Krankheiten. Ich habe diese gelehrt bekommen aber ihre wahre und vollständige Kraft und Bedeutung hat sich mir erst durch die schamanische Praxis eröffnet.

Durch Erforschung und Studium verschiedener indigener, schamanischer Bräuche dieser Welt lernte ich mit der Zeit, dass diese Technik, Krankheiten „fortzusprechen“, „fortzublasen“ oder „fortzusingen“, wie es mein Großvater gelehrt hat, an vielen Orten dieser Welt und in vielen schamanischen Kulturen bestens bekannt ist.

Das Märchen von Frau Holle z.B. habe ich in meiner Kindheit hundertfach erzählt bekommen.

Aber erst durch die schamanische Praxis und das Erleben einer Reise in die untere Welt, wurde mir klar, welch „expliziten“ Bericht einer schamanischen Reise uns mit diesem Märchen überliefert wurde. Ein echter schamanischer Reisebericht aus den Tiefen unserer Vergangenheit ist uns hier, in Gestalt eines Märchens, womöglich über Jahrtausende hinweg überliefert worden.
(Mehr zum Alter von Märchen hier: www.welt.de )

In den letzten Jahrzehnten haben viele, viele spirituelle Meister von allen Enden der Welt viel Mühe und Aufwand darauf verwandt, eine erlebbare und ursprünglichere Spiritualität zurück nach Europa und in die sog. „westlichen Industrienationen“ zu bringen. Es wird uns aber nur bedingt auf Dauer helfen, wenn wir diese Spiritualität vom anderen Ende der Welt einfach kopieren.

Unsere Aufgabe heute ist es meiner Ansicht nach, den Anstoß, den wir aus allen Himmelsrichtungen von den großen Schamanen unserer Zeit bekamen, nun zu transformieren und einen indigenen, europäischen und zeitgemäßen Schamanismus zu entwickeln – und vor allem auch zu leben – der uns dabei hilft, die Welt aufs neue und zum Nutzen all ihrer Bewohner zu verzaubern.

cropped-Callanish.jpg

WAS genau gehört eigentlich, meiner Ansicht nach, zu einer europäischen, schamanischen Praxis und/oder Ausbildung

“Drei Beweise der Weisheit: Festhalten an der Vernunft, Festhalten an der Phantasie und Festhalten an Verbesserungen” OBOD

Was sollte ein zeitgemäßer oder moderner Schamane/schamanisch Praktizierender können bzw. lernen und sich erarbeiten?

An aller erster Stelle steht natürlich die Kenntnis über Bewusstsein, Trance, Ekstase und die willentliche Veränderung des Bewusstseinszustandes sowie grundsätzliche Kenntnis und Fähigkeit zur schamanischen Reise bzw. Seelenflug und Geisterkontakt, Verbündete wie Lehrer, Spirit-Guide oder Krafttier zu gewinnen, dies bringt dann auch ein „Erkennen“ der Beseeltheit der Welt, des Universums mit sich.

Diese „schamanischen Basics“ sind eigentlich allen schamanischen Wegen und Kulturen gemein. Die Wege dahin mögen unterschiedlich sein aber grundsätzlich sind dies die Voraussetzungen um überhaupt von „Schamanismus“ und „schamanisch“ sprechen zu können.

Für viele schamanisch Praktizierende hat sich, zum Erlernen dieser Basics, ein sogenanntes schamanisches Basis-Seminar bewährt.

Seminar2Natürlich geht es auch anders… über die verschiedenen Möglichkeiten zum Einstieg in den Schamanismus habe ich hier  klick mich  geschrieben.

Die reine Kenntnis des Kerns oder “Core” des Schamanismus macht aber noch nicht den europäischen Schamanismus aus… um von tatsächlich „europäisch“ sprechen zu können braucht es schon noch etwas mehr.

Wenn wir zu den noch existierenden, schamanischen Kulturen „schielen“,  sehen wir das die dortigen Schamanen eng mit Land und Leuten verbunden sind und profunde Kenntnisse in vielen verschiedenen Bereichen haben, wobei nicht jeder Schamane auf jedem einzelnen Gebiet ein Experte sein muss. Aber meist haben sie schon einen zumindest groben Überblick.

trommlerDie noch vorhandenen traditionellen Schamanen haben z.B. Kenntnisse zur Geschichte ihrer Völker, zu ihren Mythen, Liedern und Sagen. Sie kennen geheime und magische Zeichen mit denen sich bestimmte Kräfte wecken oder lenken lassen. Sie kennen Orte der Kraft und die Wächter dieser Orte. Sie haben Kontakt mit den Geistern des Landes, der Natur und den Ahnen. Sie kennen die heimische Tier- und Pflanzenwelt, ihre Besonderheiten, Gefahren und Heilkräfte. Sie beherrschen Techniken der Divination und sind zumindest rudimentäre Psychologen und Heilkundige.

In erster Linie sind sie natürlich „Geisterexperten“ aber häufig sind sie auch die Hüter über das „Traditionelle Wissen“ ihres Landes und ihrer Völker.  Auch in vielen Sagen und Mythen Europas, so z.B. in der germanischen Edda oder auch in der Geschichte um Talliesin aus dem Insel-keltischen, wird deutlich, welch große Rolle die Suche nach Wissen, Weisheit und Erleuchtung, auch für unsere europäischen Vorfahren gespielt hat.

europäischer Schamanismus Anette Baumgarten Schamanismus tunrithaAuf uns heutige, westliche/europäische Schamanen und schamanisch Praktizierende übertragen, bedeutet das vor allem jede Menge Arbeit ;-).

Auch ein europäischer Schamane/schamanisch Praktizierender ist vor allem “Geister und Anderswelt-Experte” und steht mit seinen und den Geistern seines Landes, seiner Umgebung, der Natur und der Welt an sich in engem Kontakt, genau wie mit Göttern, Ahnen, Krafttieren, Schutzgeistern etc. .

Heute, wie vor 10 000 Jahren ist der schamanisch Praktizierende ein “Zaunreiter” zwischen den Welten, der bei allem was er tut immer auch die Anderswelt und die Geister im Blick hat. Wenn ich also von “Pflanzenkunde” oder von “Heiligen Orten” spreche dann meine ich immer auch die andersweltlichen Aspekte. Als schamanisch Praktizierender lese ich nicht nur etwas über eine Pflanze, einen Ort oder einen Mythos… Ich erlebe Pflanze, Ort und Mythos oder welches Thema auch immer, mit allen Sinnen und werde ein Teil davon. Ich werde zum Mythos selber, erfahre ihn am eigenen Leib, am eigenen Geist. Ich lerne nicht nur etwas ÜBER Bäume ich werde selbst ein Baum, ein Teil des Waldes.

Auf folgenden Gebieten sollte ein europäischer Schamane sich Kenntnisse auf allen Ebenen  erwerben:

  • Mythen, Sagen, Legenden, Lieder (z.B. klassische Volksmärchen, Gedichte, (Volks-)Lieder, die Edda, die vier Zweige des Mabinogi, lokale Feen-, Elfen- und Geistergeschichten etc.)
  • Philosophie
  • Geschichte Europas und auch die Geschichte der Gegend in der wir leben/arbeiten.
  • Traditionelle Schriftzeichen in Europa (z.B. Runen oder auch die sog. Vinca-Zeichen)
  • Magische Zeichen wie Pentagramme, Alchimistische Zeichen , Astrologische Zeichen, Runen etc.
  • Magische Systeme, Weltbilder und Volksmagie
  • Heilige Orte und Kraftorte… Wo liegen sie? Was macht sie aus? Welche Kräfte wirken dort und wer hütet diese Orte?
  • Kenntnisse der heimischen Traditionen (Jahreskreise, Sitten, Gebräuche)
  • Kenntnisse der verschiedensten europäischen Mysterien und Traditioneneventuell auch Spezialisierungen auf bestimmte Mythenkreise, Traditionen, Pantheone o.ä.
  • Kenntnis der Geister des Ortes an dem wir leben.
  • Die Geister des Landes – der Flüsse und Bächer, der Berge und Hügel etc. Aber auch der Geister meiner Strasse, in meinem Haus usw..
  • Ahnenarbeit und Kenntnis zu über die Ahnen… Ihre Geschichte, wie haben sie gelebt? Woran haben sie geglaubt etc.
  • Heimische Tier und Pflanzenwelt aber auch gute Kenntnis der direkten, möglicherweise auch städtischen Umgebung. Was passiert wann? Wo geht die Sonne auf? Welche Sterne stehen am Himmel? Wetter- und Bauernregeln. Aber auch: Welche Tiere leben in dem Baum vor meinem Fenster? Wann kommt die Müllabfuhr ;-) und wann ist der Verkehr besonders heftig ;-) etc.
  • Orakelmethoden wie Tarot, Runen, Astrologie etc.
  • Kräuterkunde
  • Baumkunde
  • Erste Hilfe Kurs
  • Grundsätzliche Kenntnisse zu Körper und Gesundheit
  • Evt. einige psychologische Grundkenntnisse
  • Selbsterkenntnis und sogenannte Schattenarbeit – Bereits über dem Eingang zum berühmten Tempel von Delphi soll gestanden haben: „Erkenne dich selbst“ (gnôthi seautón, γνῶθι σεαυτόν)

Grundsätzlich kann eine gute, solide Allgemeinbildung auch modernen Schamanen nur nutzen, wenn sie nicht gar Voraussetzung ist.

Wie tiefgreifend wir die einzelnen Themen und Wissensgebiete bearbeiten oder auch ob oder wie sehr wir uns regional oder kulturell spezialisieren, ist natürlich jedem selbst überlassen und stark abhängig von persönlichen Vorlieben, Interessensgebieten, Fähigkeiten und den eigenen Geisterkontakten. Auch ist diese Aufzählung sicher nicht erschöpfend, sondern stellt vor allem eine Anregung dar.

Allein an dieser Auflistung kann man schon klar erkennen – dies ist keine Ausbildung die wir in ein paar Wochen, Monaten oder sogar Jahren absolvieren… Sondern ein ganzer Lebensweg des Lernens und der Hingabe.

Natürlich können wir nicht auf jedem einzelnen Gebiet Experten werden, aber wir sollten uns bemühen zumindest Grundkenntnisse zu erwerben und immer weiter zu lernen.

Jeder Schamane oder schamanisch Praktizierende wird mit der Zeit seine eigene, spezielle Kraft entdecken und auf einigen Gebieten besser oder kraftvoller sein als auf anderen. Auch die Geister, die Spirits des schamanischen Praktikers, leiten uns dabei.

_DSC0222_ps_tunritha_fbManche Kenntnis bringen wir auch schon mit, aus vorangegangenen Ausbildungen und von unserem bisherigen Lebensweg, manches müssen wir uns neu erarbeiten. Welche Lücken wir vielleicht haben oder wo unser Wissen schon sehr ausgeprägt ist, ist heute sehr individuell. Daher kann eine „Ausbildung in europäischem Schamanismus“ immer nur sehr individuell sein.

Eine schamanische Ausbildung oder ein schamanischer Weg erfordert aber natürlich nicht nur die bloße Kenntnis z.B. einer Pflanze, ihr Vorkommen und ihrer Wirkweise sondern auch die schamanische Auseinandersetzung mit ihr… Wir bereisen die Pflanze, begegnen ihrem „andersweltlichen“ Aspekt, dem Pflanzengeist, und lernen sie so auf ganz neue und besondere Art kennen, wir lassen uns direkt vom Pflanzengeist unterweisen und gewinnen so möglicherweise auch eine neue Verbündete und neues Wissen.

Dies gilt nicht nur für die Kräuter- und Pflanzenkunde, sondern für jeden der oben angeführten Teilbereiche. Auch die Schriftzeichen oder die Götter vergangener Zeiten und Kulturen, können wir in der Anderswelt besuchen und direkt von ihnen lernen. Als schamanisch Praktizierende sind wir nicht alleine angewiesen auf die historischen und archäologischen Quellen, auch wenn wir sie trotzdem, zumindest zum Teil, kennen sollten.

Je nach persönlichen Vorlieben und Fähigkeiten können die einzelnen Teilbereiche entweder in kompakten Seminaren, Kursen oder Ausbildungen oder in Eigenregie und als Autodidakt erlernt und/oder vertieft werden auch kann es stark variieren welchen Bereichen wir mehr und welchen weniger Aufmerksamkeit zuwenden. Welche Mythen sprechen zu mir? Welche Götter, welche Geister, welche Ahnen?

Wasser, das nebelig über Steine fließtEin Teil der Herausforderung ist es auch die eigene, individuelle, spirituelle Familie und die individuelle Kraft und vielleicht auch Aufgabe zu finden.

Nicht umsonst dauert die Ausbildung traditioneller Schamanen in den noch vorhandenen, schamanischen Kulturen häufig Jahrzehnte und auch von z.B. den europäischen Druiden, von denen uns insgesamt zwar nicht viel überliefert ist, wissen wir das ihre Ausbildung ca. 20-30 Jahre gedauert hat.

Aber keine Angst, vieles das nötig ist, bringen wir ja bereits mit, von dem Weg der schon hinter uns liegt.

Und so schließe ich mit den ermunternden Worten von Balzac:

Großes Talent existiert nicht, wo großer Wille fehlt.“

24.02.2016
Anette Baumgarten
Schamanin

Viele weitere Informationen unter: www.tunritha.de

Alle Beiträge der Autorin auf Spirit Online

Anette Baumgarten - Tunritha

Anette Baumgarten

Sie sagt über sich selbst: “… Seit meinen ersten Reisen verspüre ich das starke Gefühl endlich zu Hause angekommen zu sein. Ein Leben ohne schamanische Praxis, ohne Geister und Verbündete aus der Anderswelt, kann ich mir kaum noch vorstellen. …”

Zum Autorenprofil

Für Artikel innerhalb dieses Dienstes ist der jeweilige Autor verantwortlich. Diese Artikel stellen die Meinung dieses Autors dar und spiegeln nicht grundsätzlich die Meinung des Seitenbetreibers dar. Bei einer Verletzung von fremden Urheberrecht oder sonstiger Rechte durch den Seitenbetreiber oder eines Autors, ist auf die Verletzung per eMail hinzuweisen. Bei Bestehen einer Verletzung wird diese umgehend beseitigt. Wir weisen aus rechtlichen Gründen darauf hin, dass bei keiner der aufgeführten Leistungen oder Formulierungen der Eindruck erweckt wird, dass hier ein Heilungsversprechen zugrunde liegt bzw. Linderung oder Verbesserung eines Krankheitszustandes garantiert oder versprochen wird. Alle Inhalte des Magazins sind kein Ersatz für eine Diagnose oder Behandlung durch einen Arzt, Psychotherapeuten oder Heilpraktiker.

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.


*