Pflanzenrituale
von Wolf-Dieter Storl – Pflanzenrituale gab und gibt es bei allen Völkern. Lediglich in der technokratisch orientierten, westlichen Kulturkreis betrachtet man Rituale, die sich an das Wesen der Pflanzen wenden, mit Skepsis und Ablehnung. Schon die Annahme, dass es so etwas wie einen Pflanzengeist oder –deva gibt, wird als Ausdruck der Irrationalität gewertet. Grund dafür ist eine herrschende Ideologie, die nur das als „wirklich“ ansieht, was man messen, wägen, abzählen, in logische Muster pressen und durch wiederholbare Experimente bestätigen kann.
Alles andere ist lediglich Täuschung oder überbordende Phantasie. Psychologen sind schnell zur Hand, diese „Projektionen“, diese als Übertragung subjektiver Wunschbilder auf die als unbeseelt geltende Natur, bloßzustellen. Eine Heilpflanze wirkt pharmakologisch, nicht etwa, weil ein „Geist“ in ihr wirkt, sondern weil sie bestimmte analysierbare Wirkstoffe enthält.
Diesen naturwissenschaftlichen Standpunkt versuchte ich dem Cheyenne Medizinmann Bill Tallbull, mit dem ich über ein Jahr lang immer wieder botanische Wanderungen in den Big Horns unternahm, klar zu machen. Da er nicht jemand ist, der auf vorgefasste Meinungen beharrt, sondern alles genau prüft, nahm er sich lange Zeit, um sich mein Argument zu überlegen. Dann sagte er, „Nein, es sind nicht tote Wirkstoffe, sondern der Geist der Pflanze, der heilen hilft.“ Er sagte das aufgrund seiner langjährigen Erfahrung mit dem „grünen Volk“. Dabei handelt es sich nicht allein um persönliche Erfahrung, sondern auch um die Erfahrungen, welche die Cheyenne mit Heil-, Zeremonial- und Nahrungspflanzen über Generationen hinweg machten und die fest im kulturellen Kosmos des Stammes eingebettet sind.
Pflanzenrituale
Zum kulturellen Kosmos der Cheyenne, gehört das Verständnis, dass die Pflanze, die man im Zustand des alltäglichen Bewusstseins wahrnimmt, nicht das ganze Pflanzenwesen ausmacht. In veränderten, erweiterten Bewusstseinszuständen, gewahrt man nicht nur das äußere, sondern das innere Wesen der Pflanze. Um mit dem inneren Wesen der Pflanze, mit dem „Häuptling (dem Hematasuma)“ des Volkes der Schafgarbe oder des Steppenbeifusses zu kommunizieren, versetzte sich der alte Medizinmann, mit Hilfe eines Kraftliedes, in einen tranceartigen Bewusstseinszustand. Mit seinen Handflächen berührte er – kniend, das Gesicht nach Osten gerichtet – den Erdboden und strich, in festgelegter Reihenfolge, die Hände über Kopf, Arme, Schultern und den Rest des Körpers. Durch diesen Kontakt mit der Erde reinigte er sich von allem Unguten, das eventuell noch an ihm haftete, und stellte dabei zugleich Kontakt mit der „alten Großmutter“ Eskeheman her, der Hüterin der Tier- und Pflanzenseelen, deren Reich unterhalb der Wurzeln anfängt. Dann, ehe er sich in das „Tipi“ des „Häuptlings“ (Chief) der jeweiligen Pflanzenart begab, begrüßte er die Hüter der vier Himmelsrichtungen. Er brachte, wie es sich gehört, diesem Häuptling ein Geschenk. Das Geschenk bestand aus einem Tabakopfer, das gegebenenfalls auch eine einfache handgedrehte Zigarette sein konnte. Diese wird zusammen mit dem Häuptling geraucht. Früher hätte man mit dem Geist eine „Friedenspfeife“ mit Kinnikinnik – eine Mischung aus den Blättern des Hirschhornsumachs, der Bärentraube, des Tabaks und der Innenrinde des roten Hartriegels – geraucht, so wie es bei Friedensverhandlungen zwischen Stämmen der Brauch war. Auch Decken brachte er dem Hematasuma. Decken sind bei den Indianern, die in der von Temperaturstürzen gekennzeichneten westlichen Prärie leben, überhaupt das wertvollste Gastgeschenk.
In einen Lied erklärte er dem Pflanzengeist, dass er in lauterer Gesinnung gekommen sei, dass er als Armer, Schwacher, Kranker um Hilfe bittet, dass er bei ihnen große Kraft finde und sich wünsche, etwas von davon Kraft mitnehmen zu dürfen. Willigt der Häuptling ein, dann beginnt das Sammeln. Der Pflanzenhäuptling gibt die Leiber seiner Artgenossen frei. Auch seinen eigenen Leib opfert er. Mit einem Grabstock, dessen Spitze im Feuer gehärtet wurde, umkreist nun der Indianer sonnenläufig die Häuptlingspflanze. Dann stößt er, wie der Jäger mit seinem Speer, dem Häuptling ins „Herz“. Nun wird die Pflanze samt Wurzel ausgerissen. Wie ein getöteter Krieger wird sie feierlich, mit der Wurzel nach Norden gerichtet, auf eine Unterlage aus heiligem Beifuss (engl. Prairie sage ; lat. Artemisia ludoviciana) gebettet. Die so gesammelten Kräuter gelten als dermaßen kraftgeladen, dass man sie nicht mit in das Wohnhaus nimmt, sondern in einer gesonderten Hütte aufbewahrt. Bei der Anwendung werden sie meistens gekocht, „so etwa, wie man Knochen auskocht, um das Mark herauszulösen“.
Die Vorgehensweise Bill Tallbulls ist eine schamanische. Er sieht und verhandelt mit Wesen, die sich jenseits des alltäglichen Schauens befinden. Auch die Krankheiten, die er mit der Kraft der Pflanzen behandelt, erscheinen in der schamanischen Schau als Wesenheiten, als störrische, launische, bedürftige Entitäten, die vom Patienten Besitz genommen haben. In dieser Sichtweise spielen chemische Molekularwirkstoffe keine Rolle.
Um das Heilmittel zu finden geht der Schamane in die Spiritworld – das entspricht der „Traumzeit“ (Alcheringa) der australischen Ureinwohner, der überall und nirgendwo befindlichen „Anderswelt“ der Kelten oder dem *aiwi („Ewigkeit“) der Westgermanen.
Der Cherokee Heiler, Rolling Thunder, sagte: „Ich befinde mich in einer ganz anderen Welt – ihr würdet das einen anderen Bewusstseinszustand nennen. Auf diese Weise nehmen wir mit den Pflanzen Kontakt auf. Heilkräutersammeln beruht auf Wechselwirkung, auf gegenseitige Kommunikation.“ Und, „jede Materie in der Natur ist gleichzeitig ein spirituelles Wesen in einer spirituellen Natur“.[1]
Für Medizinmänner, wie Tallbull oder Rolling Thunder, hat das Pflanzenritual nichts mit Hokuspokus, mit erfundener, religiös verbrämter Symbolik, mit Mystifikation oder subjektiver Einbildung zu tun. Es ist nicht, wie bei so vielen New Age Ritualen eine Art seelische Selbstbefriedigung oder make believe. Sondern es ist eine wirksame, archaische Technik, um einen gewünschten Erfolg zu erlangen. Es ist eine schamanische Technik, die es ermöglicht einen sakralen Raum zu schaffen, in dem sich die, in den Pflanzen wirkenden Wesenheiten unserem Bewusstsein kund tun können.
Immer wieder betonen die Indianer, dass das Ritual wirklich wirkt und dass man nicht – wie etwa in sogenannten spirituellen Wochenendseminaren – einfach damit herumspielt. „Man spielt nicht herum mit den Ritualen,“ warnte mich der Cheyenne Älteste, George Elkshoulder, „Es ist wie das Fahren eines Autos, man muss in der richtigen Reihenfolge den Zündschlüssel drehen, Gas geben, Kupplung betätigen, Gang schalten. Wer es nicht kann und dennoch versucht wird vielleicht einen Unfall haben oder gar andere verletzen. Wer leichtsinnig oder mit unlauteren Motiven Rituale veranstaltet, den kann Krankheit befallen oder es sterben ihm die Pferde oder gar die Kinder weg.“ In diesem Sinn findet der Gang zu den, als mächtig empfundenen Pflanzengeistern nur statt, wenn es wirklich notwendig ist, wenn es gilt Leid, Unglück, Krankheit oder Seuche zu lindern.
Weiterhin betonen die Indianer, dass es die Geistwesen, bzw. die Pflanzen selber sind, die mit uns Kontakt aufnehmen, die uns die Rituale – im Traum, in der Vision – eingeben. „Bilde dir nicht ein, du könntest ein Ritual erfinden“, belehrte mich Tallbull. „Es ist wie, wenn ein neuer Freund einem seine Telefonnummer gibt. Ein Ritual ähnelt dem richtigen Wählen. Wenn man die Zahlen falsch wählt oder in verkehrter Reihenfolge, wird man nicht die Person erreichen, die man sprechen will.“
Pflanzenrituale sind Teil des Schamanentums, dessen Wurzeln nachweislich bis in die Altsteinzeit zurückreichen. Aus diesem Grund sind diese Rituale nicht nur universal, das heißt bei allen Ethnien anzutreffen, sondern sie enthalten überall dieselben strukturellen Elemente. Diese wollen wir hier nur kurz skizzieren[2]:
- Oft wird, zur Vorbereitung auf den Kontakt, gefastet oder eine besondere Diät eingehalten. Südamerikanische Schamanen essen zum Beispiel ein Diät, das nur aus weißen Nahrungsmitteln– Palmherzen, weißer Mais, Fisch, usw. – besteht. Der Chinesische Ginsengsammler verzichtet zwei Wochen lang vor dem Ritual auf Fleischnahrung. Oft wird die Askese noch durch vorübergehende sexuelle Enthaltsamkeit gestärkt. Es wird auf Träume und auf Zeichen – Vogelflug, ungewöhnliches Verhalten von Tieren, Geräusche usw. – geachtet.
- Vor dem Angang versetzt sich der Pflanzenschamane in einen Zustand der rituellen Reinheit. Er streift den Alltag ab, indem er sich beräuchert, ein Schwitzbad nimmt oder, wie die Cheyenne, sich mit Erde „wäscht“. Bei den meisten Völkern wird das Ritual im Zustand sakraler Nacktheit vollzogen. Rein und unschuldig, wie ein frisch geborenes Kind, das noch nicht von der menschlichen Kultur befleckt ist, geht man zur Pflanze. Schon Sophokles (496-406 v.u.Z.) spricht von Media, der Hexe, die „ihre Kräuter nackt gräbt.“ Wenn nicht splitternackt, dann geht man wenigstens barfuss oder mit aufgelösten, ungekämmten Haaren. Oft kämmen oder schneiden sich die Pflanzenschamanen, etwa die afrikanischen Ngangas, nie die Haare. Man geht als Geist zu den Geistern: die Ngangas malen ihren Körper oder wenigstens das Gesicht mit weißen Lehm, um sich selber als Geister auszuweisen. Man geht ohne Gedanken im Kopf, schweigend oder einfache monotone Medizinlieder oder Mantras singend. Jemanden begegnen gilt als schlechtes Vorzeichen. Als besonders schlechtes Omen galt, im europäischen Mittelalter, eine Begegnung mit einem Pfaffen oder einer Nonne.
- Universal ist auch der Brauch die Pflanze von Westen her anzugehen, so dass das Gesicht nach Osten in die aufgehende Sonne schaut. So wird das Pflanzenwesen mit der lebensspendenden Kraft des Morgens, der Jugend und des Frühlings assoziiert. Zauberpflanzen und solche die den Feinden Tod und Verderben bringen, werden dagegen von Osten her angegangen.
- Die begehrte Pflanze wird mit einem magischen Kreis oder einem Quadrat umzeichnet oder umwandelt. Das muss immer in Richtung des Sonnenlaufs, also im Urzeigersinn, geschehen. So wird der große kosmische Kreis mit dem kleinen Kreis verbunden. Lediglich Pflanzen, die einem Feind schaden sollen, werden wider dem Sonnenlauf umrundet. Die Pflanze wird so in die kosmische Mitte gestellt: Sie befindet sich nun „unter dem Schamanenbaum“ (Sibirien), „unter dem Kreuz des Heilands“ (christliches Mittelalter), „im Mittelpunkt des Windes“ (Sioux). Sie ist nun Offenbarung bestimmter Gottheiten: So wird in Indien der Stechapfel zur Erscheinung Shivas; bei den Germanen war im rituell verehrten Wachholder Odin gegenwärtig, im Beifuss, die Frau Holle. In China offenbarte sich der Tigergeist, aus dem Sternbild Orion, im Wildginseng.
- Die Pflanzenschamanen achten immer auf die richtige Zeit der Kontaktaufnahme. Das Ritual für Heilkräuter findet oft vor oder bei Sonnenaufgang statt. Bei den Kelten wurden, wie wir von Plinius und auch aus diversen Volksüberlieferungen erfahren, die Pflanzen um Neumond aufgesucht, wenn der Mond eine hauchdünne Sichel bildet. Noch heute hält sich der berühmte französische Kräuterheiler Maurice Messegué an diese Regel. Anderswo gilt es als geeignete Zeit, wenn bestimmte Sterne – Sirius, Aldebaran oder Rigel – gerade über den Horizont steigen. Zauberpflanzen, wie etwa der Stechapfel bei den Nepalesen oder das Eisenkraut (Verbena) bei den Kelten, wurden nur nachts, bzw. „beim Aufgang des Hundssterns, wenn weder Sonne noch Mond scheinen“ gesammelt.
Mit dem Pflanzengeist wird im Zauberton gesprochen. Er wird besungen, beschworen und an seine Heilkraft erinnert; es wird ihm gesagt warum man gekommen ist, warum man seine Hilfe braucht. Der Winnebago gibt Tabak und spricht: „Mache meine Medizin machtvoll, Großmutter!“ Der Ojibwa Midewiwin-Arzt sagt der Pflanze:
Dein Geist,
Mein Geist,
Mögen sie sich vereinigen und
Einen Geist des Heilens bilden.
Der angelsächsische Lachsner (ags. Laèce = schamanischer Heiler) besprach das wichtigste Sakralkraut, den Beifuss, wie folgt:
Gedenke du, Beifuss, was du versprachst,
Was du anordnetest in feierlicher Kundgebung!
Una heißt du, älteste der heilenden Wurzeln!
Du überwindest Dreie und Dreißige,
Du überwindest Eiter und Anfälle,
Du überwindest die Leidkraft, die über das Land dahin fährt.
Noch im christlichen Mittelalter sprach man mit der Pflanze, etwa mit der Silberdistel oder Eberwurz, die zur Heilung von „Blattern auf den Augen“ eingesetzt wurde:
Eberwurz, ich spreche dich an,
Bist du Frau oder Mann.
Behalte deine Kraft und Saft,
Wie die Liebe Frau ihre Jungfernschaft. - Überall, sei es beim chinesischen Ginsengsammler, bei dem indianischen Pflanzenmedizinmann oder beim afrikanischen Nganga, ist es vorgeschrieben, dass kein Eisen beim Pflanzenritual oder beim Ernten der Heilpflanzen zugegen sein darf. Eisen vertreibt Elfen – sagten die Kelten. Beim Eisenkraut (Verbena), der Ritualpflanze der Schmiede, war das Metall ausnahmsweise erlaubt. Im vorchristlichen Europa verwendete man Hirschhorn, das dem gehörnten Gott und der Weißen Göttin geweiht war. Anderswo wurden Holzstöcke, Bärenkrallen, Kultmesser aus Feuerstein oder Obsidianklingen verwendet. Um Kräuter gegen „angezauberte Liebe“ zu graben, benutzten die Nordeuropäer einen Grabstock aus Lindenholz.
- Auf jeden Fall wird eine Gabe oder ein Opfer der Pflanze oder der Erde, in der sie wächst, hinterlassen. Die indogermanischen Völker gossen Milch, Bier, Met oder Honig. In Afrika kann es Hühner- oder Menschenblut sein. Die Indianer schenken Tabak, gegebenenfalls auch Maismehl. Auch die europäischen Bauern schenkten Mehl oder Brot, oder gelegentlich auch eine Kupfermünze. In Tibet legt man Steine hin und spuckt aus. In Korea hängt man Seidenreste, Blütenpapier oder Bänder mit Reiskörnern an eine nahestehende Kiefer oder Eiche, wenn man eine Heilpflanze um Hilfe bittet.
Das Alter und die Universalität derartiger Pflanzenrituale, als Bestandteil der Heilkultur der Menschheit, sollte uns zu bedenken geben. Vielleicht wissen wir, trotz unseres wissenschaftlichen Fortschritts, noch nicht alles. Vielleicht haben wir sogar manches, was unsere steinzeitlichen Ahnen einst wussten und was Naturvölker zum Teil noch wissen, sogar vergessen.
[1] Boyd, Doug, Rolling Thunder, Knaur, München 1987, S. 113 [2] Dieses Thema wurde eingehender in folgenden Werken behandelt: Storl, Wolf-Dieter, Pflanzendevas, AT-Verlag, Aarau 2001; W.-D. Storl, „Die Werkzeuge der Wurzelgräber: Elemente archaischer PflanzensammelRituale“, in Rituale des Heilens (Franz-Theo Gottwald, Christian Rätsch, Hrsg.) AT, Aarau 2000.(c) www.storl.de
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geboren am 1.10.1942 in Sachsen, ist Kulturanthropologe und Ethnobotaniker. Als Elfjähriger wanderte er 1954 mit seinen Eltern nach Amerikan (Ohio) aus, wo er die meiste Zeit in der Waldwildnis verbrachte. …
Gärtnern, aber noch mehr die wilde, ursprüngliche Natur, die Wildpflanzen und Tiere, waren immer schon eine Quelle der Inspiration für ihn und formten seine Lebensphilosophie.
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