Ruhe nach dem Schatten

frau die sich in haengematte entspannt

Die Ruhe nach dem Schatten

Ob im Mainstream oder alternativen Szenen, zur Ruhe und zu sich selbst kommen hat großen Anklang gefunden. Wie eine eingängige Melodie wird der Ruf nach Ruhe weitergetragen. Er drückt sich in den Wünschen nach weniger Getriebenheit und aufreibender Konflikte im Alltag aus, versteckt sich in der Werbung für Naturaufenthalte oder beruhigender Heilmittel und wird spürbar in dem angewachsenen Interesse an Yoga und Entspannungsmeditationen in den letzten Jahrzehnten. Zur Ruhe kommen scheint über spirituelle Szenen hinaus Mode zu sein.

Der Unruhe entkommen wollen

Doch was wird mit Ruhe genau gemeint? Oft geht es um ein Entkommen von unangenehmen, schmerzhaft berührenden Aspekten des Lebens. Fallen diese Aspekte weg, so scheint die Ursache für Aufreibung und Stress reduziert und Ruhe könne endlich den gebührenden Raum bekommen. Dabei ist das Gefühl von Ruhe in Gefahr, von den Umständen und Einflüssen erdrückt zu werden. Diese Erfahrung von Einengung bis hin zur Zerquetschtheit scheinen von äußeren Mächten kraftvoll einzuwirken und diese zarte Qualität der Ruhe zu zerstören. Ganz im Geiste des Naturschutzes muss die Ruhe verteidigt werden und die Unruhestifter verringert oder sogar bestraft werden. Weitere Aufreibung entsteht im Kampf um die Sicherstellung der Ruhe.

Seltener und häufig mit wachsendem spirituellem Interesse wird ein inneres zur Ruhe kommen angestrebt. Dann geht es eher darum Themen zu klären oder höher schwingende Umfelder aufzusuchen, aus dem negativen Strudel des kapitalistischen Funktionierens in der Ellenbogengesellschaft herauszukommen und positive Energie durch höhere Seinsebenen aufzubauen.

Doch auch auf dieser Ebene stimmen viele Menschen mit ein und summen diese Melodie der Ruhe, ohne diesen Ruf bewusst kontempliert zu haben. Er mischt sich in ein unbewusstes oder halbbewusstes Streben nach der unbekannten, erlösenden Größe, die undefiniert einem jedem selbst zu finden überlassen ist. Auf welcher Ebene oder Bewusstseinsstufe angesetzt, klar zu sein scheint, dass Ruhe die Antidote zu Schmerz, Stress und Konflikt ist – und diesen wollen wir endlich entkommen.

Relative Ruhe als ergebnislose Suche

So sehr eine tiefe Wahrheit darin liegt, dass wahrhaftiges Leben nicht aus Schmerz und Stress gewoben ist, liegt hier ebenso das große Missverständnis, dass den Ruf zur Ruhe in eine weitere Endlosschleife ergebnisloser Suche einreihen kann. Ruhe im relativen Sinn ist das Gegenstück zu Stress. Im dualen Kampf der gegensätzlichen Kräfte muss sich der Mensch mit Anstrengung, ob mit gutem Gehalt und richtiger Meditationspraxis, einen Platz auf der ruhigen Sonnenseite des Lebens sichern. Damit wird das Streben nach Ruhe zu einem weiteren Stressfaktor, denn das Ergebnis kann nur von kurzweiliger Dauer sein und muss demnach immer wieder aufgebaut werden.

Die Konflikte werden sich wieder mit anderen Menschen in den neuen sozialen Kreisen zeigen, das Geld muss doch wieder verdient werden oder das Meditationsretreat kommt zu einem Ende und der Straßenlärm, die Familie oder das Finanzamt tauchen wieder auf. Extrem viel Energie muss dafür verwendet werden, diese Art von relativer Ruhe aufrechtzuerhalten. Die energetischen Kosten für die relative Ruhe sind zu hoch, als dass man dauerhaft darin investieren kann. Der spirituelle Burn-out ist vorprogrammiert.

Aus absoluter Perspektive ist das eine weitere Erfahrung von Bewusstseinskollaps und Trennung. Im besten Fall kann für eine gewisse Zeit die Unruhe zur Seite geschoben werden, sodass die Ruhe Platz bekommt. Beim regenerierenden Wandern darf dann keine Werbung und Autos sichtbar sein, beim Achtsamkeitsseminar sollten dann alle positiv und selbstreflektiert sprechen oder beim netten Grillabend mit Freunden werden alle Themen, die Konfliktpotential tragen, lieber umgangen.

Mit bewusster oder unbewusster Mühe erkämpfen wir uns diese Räume, um wenigsten doch endlich mal ein wenig Ruhe zu bekommen und das Leben ohne Trigger genießen zu können. Im schlechteren Fall wird von Ruhe gesprochen, wenn es sich eigentlich um Dissoziation und Kollabierung des Nervensystems handelt. Zum Bespiel die Abendmeditation um den Tag hinter sich zu lassen, das Ins-Bett-fallen nachdem alles zu viel geworden ist oder die Serie für ein gemütliches Abschalten, finden oftmals auf Kosten der Selbstverbindung statt.

Mit flacher Atmung und Entkörperung nach Überreizung herrscht nicht Ruhe, sondern Totenstille unter äußerlichen Scheinbewegungen. In diesen Momenten ist das Nervensystem bereits sehr dysreguliert und eine Dissoziierung in Form von Ablenkung und Fokusverschiebung hin zu einer Entkörperung (Abspaltung von der momentanen Erfahrung) ist dann eine natürliche Reaktion.

Tragischerweise haben wir diesen Zustand somatisch-analphabetisch, wie die moderne Menschheitskultur ist, unter Ruhe und Entspannung eingeordnet. Die meisten Menschen streben somit einen (spirituellen) Zustand an, der eigentlich extremen Stress für das Nervensystem bedeutet und damit das Gegenteil der angestrebten Ruhe. Das ist ein schmerzhafter Teufelskreis, der aufgrund von falscher Interpretation sehr lange und teilweise ein Leben lang unaufgedeckt bleiben kann. Ganze Menschheitsgenerationen (insbesondere nach Kriegen, Krisen und Katastrophen) haben unter allen äußerlich sichtbaren Erfahrungen diesen Teufelskreis dauerhaft reproduziert – und viel, sehr viel verdeckt gelitten.

Jenseits der relativen Ruhe Ruhe nach dem Schatten frau die sich in haengematte entspannt

Schlussendlich führen die Investitionen zu höheren Ausgaben als Einnahmen. Eine Kultur der Ablenkung entsteht und selbst die Spiritualität, welche von innerer Ruhe als reale Möglichkeit berichtet, wird zu einem weiteren Stressfaktor. Das Erschaffen von Ruhe führt zu Stress, der dann in einem Teufelskreis mehr Ruhe fordert, was wiederum…

Über die Jahre habe ich mich durch diese Erfahrungsräume in wachsender Lebensverzweifelung und auf der Suche nach Erlösung bewegt. Jede neue Ebene, jede neue Strategie hat wieder zur gleichen Enttäuschung geführt und mich auf den Stress, die Unruhe und die Panik zurückgeworfen. Der relative Teufelskreis wurde offensichtlicher und offensichtlicher. Und so purzelte ich gerade mit den Strategien, die mich von der Unruhe erlösen sollten, mitten hinein. Es sind die Traumaräume, die unbewussten Themen und der Schatten.

Und genau da, wo ich mich als dem Grauen und der Schuld hilflos ausgeliefert erfahre, blitzt der Funke einer Ruhe abseits des Bekannten und Gewollten auf. Immer wieder tauche ich somatisch mit meinem Bewusstsein in diese Räume. Ich fing an, sie aktiv aufzuspüren. Aus einem Akt des Überlebens wird eine Praxis der Hingabe und Forschung, stetig neu fordernd. Jenseits der relativen Ruhemomente existiert eine absolute Ruhe. Sie beginnt dort, wo der Schatten integriert wurde.

Der Schatten als Tor zur wahren Ruhe

Im Schatten fristen die abgespaltenen, unbewussten und ungewollten Fragmente unseres Seins eine trostlose, notdürftige Existenz. Sie zittern vor Kälte, sie liegen zerstört am Boden und sitzen als Bettler am Straßenrand. Das ist ziemlich viel Stress. Mit den Strategien der relativen Ruhe werden diese Fragmente nicht beantwortet. Ganz im Gegenteil zur Ver-antwortung versuchen wir diese Erfahrungsräume zu umgehen oder sind schon längst darin versunken und verstrickt. Wir wollen dem ganzen entkommen.

Doch diese Anteile in uns, diese Energien, diese Erfahrungsräume brauchen unsere bewusste Antwort. Sie brauchen das Licht des Bewusstseins, was seine Wärme auf sie lenkt und sie aus ihrem Schattendasein erlöst. Denn nur so können sie Versorgung und Frieden, nach denen sie so wehleidig klagend rufen, erfahren. Können wir uns erbarmen und uns dem Leiden in uns zu wenden?

Die Unruhe ist die Meldung des Schattens. Sie abzuschalten und ihr entkommen zu wollen, steht in der Tradition der symptombehandelnden Schulmedizin. Die zitternde Hand, die kreisenden Gedanken und auftauchenden Krankheiten oder Krisen sind alle Ausdruck eines Rufes nach Integration und Heilung der fremdgewordenen Aspekte unseres Selbst. Das Symptom kann also der erste Wegweiser für die Reise in die Tiefen des Schattens werden. Zwar wird die Unruhe dann zunächst stärker und deutlicher, doch umso mehr ungefühlte Schattenaspekte wieder Teil des Ganzen sind, desto mehr kehrt wahre Ruhe ein.

Die Notrufe und Schocknachrichten können enden, denn die Botschaft wurde vernommen und die Anfrage nach Liebe beantwortet. Wahre Ruhe hat die Ursache der Unruhe erkannt und diese in göttlicher Liebe erlöst. Es ist die Ruhe der Meister, die inmitten des Trubels der relativen Welt einen tiefen Seelenfrieden ausstrahlen. Das Potenzial zu dieser Meisterschaft tragen wir alle in uns. Ein jeder von uns kann entscheiden diesen inneren Weg erforschend zu beschreiten und kennenzulernen.

In der immens leidhaften Struktur einer sich selbstvergessenen Menschheit wird deutlich, dass das kollektiv größer werdende Bedürfnis nach Ruhe viel tiefgreifender ist als der Wunsch nach einer kurzweiligen Atempause. Die Ruhe nach dem Schatten ist ein Lebensprojekt, was das tiefe Seelenbedürfnis nach Erwachen und Ganzwerdung beantwortet.

16.04.2024
Sara Tanoe Gnanzou
https://tiefbewegtblog.wordpress.com/

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Sara Tanoe GnanzouTanoe-Gnanzou-Profil

Die Sehnsucht nach Lebendigkeit führte Sara Gnanzou zunächst zu Reisen durch die Welt, einem interdisziplinären Philosophiestudium und Tätigkeiten im Beratungs- und Choachingbereich. Seit 2020 widmet sie sich der spirituellen Lebensforschung. In Ihre Arbeit fließen neben tantrischem Wissen und westlicher Philosophie auch die Körper- und Traumaforschung mit ein. Durch das Teilen ihrer Forschungserkundungen durch Wort und Bild möchte sie unterstützend dazu inspirieren, das eigene Sein zu erforschen und die Lebendigkeit erblühen zu lassen.

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