Die Lektion der Lapislazuli

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Lapislazuli Die Lektion der Lapislazuli

Ich liess meine Finger über das Durcheinander von kleinen Blauen Steinen rieseln, die auf dem Ausstellungstisch des Yorker Gesundheits- und Heilzentrum ausgelegt waren. Der Standbesitzer lächelte wohlwollend.

Ich las noch einmal die Aufschrift auf der kleinen Schachtel, und ließ die seltsamen Laute auf meiner Zunge herum rollen “Lapislazuli”.

Was für eine faszinierender Name, er klang fast wie ein hypnotischer Sing-Sang.
Ich wusste, dass lazuli etwas mit dem Blau zu tun hatte.
So eine Farbe hatte tatsächlich diesen wunderbar mysteriösen Namen verdient, dachte ich.
Ich wollte einen – nein zwei. Vielleicht noch mehr. Ich wollte alle. Alle ihre Ozeane, alle ihre Geschichten und jedes einzelne Geheimnis, das unter diesem polierten Glanz versteckt lag. Der Standbesitzer warf mir einen geübten Blick zu.
Er dachte wahrscheinlich:

  „Kauft dieser Zeitverschwender auch mal was oder will er nur gratis die Träume meiner teueren Ware inhalieren?’

Er kannte die Antwort. Er kannte sich mit Menschen wahrscheinlich so gut aus wie mit Edelsteinen.
Ich fühlte mich plötzlich unter Druck gesetzt und griff auf’s Geratewohl einen heraus. Ich bereute meine Voreiligkeit sofort und zögerte. Warum ausgerechnet dieser?
Ich drehte ihn im Licht. Das Blau reagierte sofort, breitete sich aus und raste über die Miniatur-Horizonte.

Als ich ihn still hielt, beruhigte sich die kleine Welt wieder und dehnte sich zu einem Eierschalen-Himmel aus. Die feinen Linien von schmutzigem Weiß kamen endlich auch ins Visier und ich konnte sie mir in bequemer Brennweite näher ansehen. Flecken von wildem Ocker folgten rasch hinter her und versprengten märchenhaften Feenstaub über das Ganze.
Ich hob einen anderen auf und bis mir frustriert auf die Lippen. Das verdammte Ding war genauso schön.
Was in aller Welt sollte ich nur machen?

Ich musste zuhören. Ich musste still werden und zuhören.

Der Standbesitzer guckte durch eine praktische kleine Spalte in seiner Reklametafel. Ich hatte hier schon viel zu lange herum getrödelt. Ich hatte schon wieder die Zeit vergessen.
Was ist Zeit überhaupt. Die Zeit hinterlässt nichts handgreifliches nur verblassende Dunststreifen. Zeit ist nichts als eine wässrige Gespensterfarbe, die durch sich unauffällig verändernde Wolken der Erinnerung rinnt.
Eigentlich war es egal was der Standbesitzer dachte.

Warum hörte ich überhaupt auf die negative Stimme in meinem Kopf?

Als ich darüber nachdachte, brachen sich meine Finger frei und tauchten in die Schachtel.
Betäubt von ihrer Verwegenheit, gab ich die Zügel frei und sie die Kollektion zu meinen Gunsten plündern.
Der erste Stein war schnell gewählt. Dann noch einer. Aber weder meine Finger noch ich waren völlig dafür verantwortlich.
Die Steine selbst waren an der Auswahl beteiligt.
Sie drückten ihre kühlen, eingedellten Backen in die kreisenden Spiralen, die auf meinen Fingerspitzen eingraviert waren. Sie tasteten die wunderlichen Linien ab und stimmten liebenswürdig zu mich, wenigstens für eine kleine Weile, zu begleiten.

Meine penibel ausgesuchten Lapislazuli waren überhaupt nicht teuer und kosteten nicht mehr als der Kaffee, den ich am morgen getrunken hatte. Als das Kleingeld auf die weich gepolsterte Handfläche des Standbesitzers rasselte, lächelte er warm. Einen Augenblick lang kam es mir so vor, als ob wir ein Geheimnis teilten? Taten wir das?
Ich schob die Steine beschützend in meine Tasche. Die beiden rannten freudig meinen Fingern voraus und versteckten sich im dunklen, verfusselten Saum.
Als ich mich umdrehte, erschrak ich.
Während ich ihnen den Rücken zugedreht hatte, waren die Wände irgendwie ganz eng um mich herum gekrochen, um mir über die Schulter zu gucken.

Es war proppenvoll. Ich war mitten in einer Ansammlung von vielen, so vielen Menschen in einem einzigen vollgestopften Abteil.
Zeit an die frische Luft zu kommen, dachte ich und machte, dass ich raus kam.
Draussen hatte die, für diese Jahreszeit ungewöhnliche Temperatur, das nasse Gebräu des Vorfrühlings durch einen großzügigen Schluck von goldener Sommerwärme ersetzt.
In den vom Winter bedeckten Häusern riss man auf einmal überall Fenster und Türen auf. Ganze Familien wurden am Stück auf die Strasse gekippt (und manche davon hielten sich noch immer an den Händen). Im Park waren es noch mehr, über den Rasen verstreut zwischen Bäumen und Osterglocken.

Ich suchte mir einen Weg durch das Kreuz und Quer von Beinen, Ellenbögen und Köpfen bis ich zu einer unbesetzten grünen Insel kam, auf der starrköpfig leuchtende Gänseblümchen Knopf an Knopf standen.
Als ich in die Hocke ging, bremsten die Silhouetten hinter mir und wippten zum Ausgleich nach oben. Dann schritten sie in gefährlicher Nähe vorbei; sie waren von ihrer Suche nach einem freien Platz so in Beschlag genommen, dass sie keine Zeit hatten auf ihre herum trampelnden Füsse zu achten.

War ich vor wenigen Augenblicken auch einer von diesen stumpfen, dumpfen Leuchttürmen gewesen?
Auf Bodenhöhe entspannten sich Zeit und Raum und traten in ein weniger formelles Verhältnis.
Ich fühlte mich wunderbar klein und sank ohne ein Kräuseln in die geheime Erde. Ich wurde zu einem fallenden Kiesel, der von seiner Reise in die Welt der Menschen zurückkehrte.
Ich schaute den Bäumen zu, wie sie wuchsen wenn sie in ihrem natürlichen, schnelleren Tempo wuchsen. Ihre Stämme reichten hoch hinaus über die gehetzten, verkümmerten Menschen.
Äste dehnten sich entspannt zu einer Wiege für den Eierschalen-Himmel aus, geschmückt mit lebendem Gitterwerk im Fibonacci-Muster. Blätter teilten sich geräuschlos und enthüllten riesige, vogelartige Knospen. Die neue, gefiederte Frucht schwoll an und warf auf feinen weissen Fäden silberne Lieder in den lazuli Himmel.

Ich legte mich zurück, gewillt mit den nebligen Wolken zu treiben.
Ich griff nach ihnen und versuchte glücklos den verblassenden Saum fassen. Sie entschlüpften mir wie Gespenster und lösten sich in heimlichen Geflüster unter dem blauen Dom des Himmels auf.
Ich polsterten die dünner werdende Zeit mit der prallen, satten Gegenwart. Ich stattete sie mit Ton und Kulisse aus um so die klebrige Vergangenheit abzuwehren und auch die Zukunft, die wie ein Kind an meinem Ärmel zog.

“Wir müssen jetzt gehen, wir müssen gehen”

Ich bat die Erde ein letztes mal eindringlich.
Könnte ich nicht wenigstens einen kleinen Teil von dir mitnehmen?
Aber als ich aufstand, floss sie einfach aus meinem Körper heraus. Verzweifelt schaute ich zu wie das Letzte von ihr unter meinen Schuhen verschwand. Ich widerstand der Versuchung sie auszuziehen um den gesundenden Saft der Erde durch meine Fußsohlen einzuziehen und begann zu gehen.
Erst fühlte sich alles sehr seltsam an, es brauchte aber nicht lange um zu vergessen und wieder einzuschlafen.
Als ich aufwachte, befand ich mich wieder zuhause.

Ich suchte nach eine Stelle, an der ich die Lapis Lapislazuli aufbewahren konnte. Am Fenster war der perfekte Platz. Dort wurden sie tagsüber von der heissen Bürste der Sonne gereinigt. Nachts wirkte der kühle Polierlappen des Mondes wie Balsam auf ihre Seele.
Ich grub meine Hand in die Tasche um sie heraus zu holen. Meine Finge stiessen ungehindert einfach nur auf Stoff. Mit sinkendem Herz durchsuchte ich alle Taschen. Bis auf ein paar verwaiste Münzen waren alle leer.
Schließlich musste ich mir eingestehen, dass meine Edelsteine verschwunden waren. Natürlich. Sie mussten mir aus der Tasche gerutscht sein, als ich sorglos im Park lag und träumte.
Wie achtlos von mir, was für eine Verschwendung.
Ich seufzte und wappnete mich für eine neue Welle der Selbstanklage. Sie kam aber nicht.

Irgend etwas hatte sich verändert. Ich tastete mich zaghaft und erstaunt in dieses Vakuum neuer Gelassenheit hinein und schlängelte meine mentalen Finger in die geheimnisvoll Zusatz-Tasche.
Sie war nicht leer. Sie füllte sich mit der sehr seltenen Art von leuchtender Neugier. Die Art die lächelt und in verblüfftem Entzücken die Augenbrauen zusammenzieht.
Wo war die negative Stimme in meinem Kopf hin verschwunden? (vermisste ich den alten Bettgenossen etwa?)

Es hatte keine achtlose Verschwendung gegeben. Nichts ist je verschwendet in der unendlichen Tasche der Universums.
Und so waren die Steine gar nicht verloren. Ich wusste genau wo sie waren.
Sie waren im Park.
Dort, wo die Bäume in den Himmel reichen um die Erde mit dem lazuli Eierschalen-Himmel zu verbinden; in einer Wiege aus lebenden Gitterwerk im Fibonacci-Muster.
Dort wo die Wolken sich am Himmel ausdehnen und flüsternd ins Nichts verschwinden. Dort wo ich ein Kiesel bin, der auf die Erde fällt und nach hause kehrt.
Konnte es einen besseren Platz geben um meine Lapislazuli aufzubewahren?

Am Abend hob ich mein Hemd vom Badezimmerboden auf. Etwas machte in der Brusttasche ‘klack’. Es waren die Lapislazuli.
Sie waren zurückgekehrt um mir zu gratulieren.
Ich hatte die Lektion gelernt.
Eine Lektion, die von dem eingravierten, verschnörkelten Namen in meinen Fingerspitzen aufgenommen wurde.
Die Lapislazuli und ich war wie vereinbart zusammen durch die Welt der Menschen gereist. Wir hatten einander für eine Weile Gesellschaft geleistet, auf dem seltsam gewundenen Pfad.
Ich schloss meine Hand um sie und fühlte mich in der tiefen Tasche des Universums zuhause.

03.06.2018
Carl Franz
Aus dem Englischen übersetzt von Michaela Wider
www.themindofmishka.weebly.com

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Der Autor und Künstler lebt auf dem Land im wunderschönen Yorkshire, England.
Er ist Reiki Meister und Traumdeuter, liebt Katzen und die Kommunikation mit der Natur.
Seine Werke erscheinen regelmäßig in der lokalen Zeitschrift “Howden Matters” und auch in Online-Zeitschriften.
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