Tiefe Schatten und die ungeschönte Heftigkeit

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Der tiefe Schatten und die ungeschönte Heftigkeit

Weltbilder brechen zusammen, wenn man beginnt in den Schatten einzutauchen und dem Dasein, wie es ist, zu begegnen. Anders kann es auch nicht sein, sonst befindet man sich nicht auf dem spirituellen Weg. Dies wird häufig genannt, doch die Heftigkeit der realen, somatischen Erfahrung hinter diesen schnell gesagten Worten wird weniger besprochen.

Am Anfang purzelt es hier und da in der Innenwelt. Neue Lebensbewegungen werden mit Neugier begrüßt und das Experiment “Ausbruch” wirkt sehr attraktiv. Freude über die Befreiung von aufgestauter Wut kommt vielleicht auf und die durchlebte Energiewelle macht hungrig auf mehr. Schattenarbeit wird gefeiert und die Engelmeditationen treten in den Hintergrund. Die Wahrnehmungsantennen sind auf den Schatten eingestimmt, auf die blinden Lebendigkeitsflecken und die tauben Orte der inneren Landschaft. Die Herausforderung und die Intensität geben dem spirituellen Abenteuer den Treibstoff für die Praxis.

Schattenabenteuer oder persönliche Hölle?

Nach einigen Monaten oder Jahren kommt die Kreuzung. Der eine Weg führt in einen angenehmen Dämmerschlaf im Snoozemodus auf dieser Ebene. Es finden sich soziale Gruppen, in denen man sich gegenseitig bestärkt die Energie zu verkörpern und klatscht sich gegenseitig dafür Applaus. Es ist ein angenehmer Raum bestehend aus machbaren Herausforderungen und der gegenseitigen Bestätigung für die nun neu entstandenen Bilder und Vorstellungen über das Leben, die sich wie eine warme Decke über den tieferen Schatten legt. Es ist die anerkannte, planbare Schattenarbeit, für die man sich trifft und verabredet. Sie berührt, sie verändert und sie schafft eine Szene mit vielen im Kreis gefangenen Bewegungen, die wahres Erwachen verhindern. Es passiert viel, doch es geht nicht (nur scheinbar) weiter. Der andere Weg führt direkt und ohne Umwege in die persönliche und kollektive Hölle. Wer den Dämmerschlaf erkennt und sich für das tiefere Eintauchen in die unbekannten Regionen des Selbst entscheidet, kommt mit Schmerzen, Leid und Elend in Kontakt, dass kaum in Worten wiedergegeben werden kann. Was andere ihrem Schutzengel überlassen wollen, durchströmt diese Menschen direkt und unmittelbar. Sie haben Ja zum Leben gesagt – bedingungslos. Und so bringen sie das Licht an die vergessenen Orte, die es brauchen.

Nichts wurde ohne Grund in den tiefen Schatten verbannt. Die Depression, die seit der Geburt existiert doch tief verdrängt war, wird plötzlich deutlich. Oder der Schuldenberg offenbart den ständigen Terror hinter dem Menschen gemachten Rechtssystem und lässt den Wahn eines herzlosen Lebensverständnis wie eine Lawine durch das Nervensystem rollen. Wie aus dem Himmel fallend, bricht die Existenzangst und die in Not lebenden inneren Kinder mit Wohnungslosigkeit oder fehlenden Geld für die Essensversorgung durch. Oder ein Verlust reißt die Urwunde der Trennung zum wahren Leben so stark auf, dass der physische Schmerz das Herz tatsächlich stocken lässt. Vielleicht und sehr wahrscheinlich ist es eine Kombination aus einigen intensiven Erschütterungen.

Tiefe Schatten frau geblendet blindHeftigkeit die keine Rettung braucht

Schritt für Schritt breitet sich das Licht des Bewusstseins durch die persönlichen und kollektiven Schichten aus. Und keine schnelle Lösung wie beim vorherigen Schattenabenteuer findet sich. Mit zwei oder drei Sessions ist es nicht getan und Planbarkeit wird zu einem müden Witz. Das Leben hat die Zügel übernommen – wie auch sonst soll man diese unbewussten Gefilde kennenlernen? Es bleibt nur noch der einzelne Mensch und das Leben, tief im Zwiegespräch versunken. Es lässt den Albtraum so real wirken, dass nun die Sinnfragen an Kontur gewinnen. Was vorher bereichernder Austausch war, wird nun eine lebensnotwendige Auseinandersetzung mit dem Allmächtigen. Es pulsiert laut und deutlich im Nervensystem – entweder die Antwort offenbart sich oder das Leben kann nicht weitergehen.

Es tobt, es wimmert und es fleht um eine Rettung. Und doch gibt es kein Umgehen und keine Verschiebung auf später mehr. Jetzt, unmittelbar und nackt entblößt von all den Vorstellungen, was Leben sein würde, sich anfühlen würde und bringen würde, ist man mit dem absoluten Wesentlichen inmitten des relativen Daseins konfrontiert. Statt Rettung beginnt ein Lebenstraining für Starkstromrealitäten. Das Ego gerät ins Wanken, denn dieser tiefe Schatten bietet ihm keine neuen Identifikationen und keine neue, tollere Geschichte über das Traumleben. Es sind die Erfahrungen, auf welche eine gute spirituelle Praxis vorbereitet. Denn so heftig und einsam dieser Streckenabschnitt sein mag, wahre Meister und Lehrer sind ihn selbst gegangen. Der Ruf des Erwachens führt dorthin und hindurch.

Wozu braucht es schillernde Angebote?

Auch in spirituellen Kreisen greifen die langen Arme des kapitalistischen Denkens, das lieber von Lösungen, Erkenntnissen und dem glücklichen Traum als von dem Blut und Schweiß der Taldurchquerung berichtet. Es ist unsexy und unattraktiv. Wer kauft noch die Coaching-Pakete, wenn von der Begegnung mit Ausweglosigkeit gesprochen wird, ohne es mit einer schillernden Zukunft zu verbinden? Die spirituelle Werbung spricht von Glück, von Erweiterung und von Verbundenheit. Sie spricht weniger von der Panikattacke, wenn Konditionierungen sich auflösen und kleine Entscheidungen beim Wocheneinkauf die fehlende Selbstverbindung schonungslos sichtbar machen. Sie spricht nicht von der Heftigkeit und somatischen Realität von Todesangst, wenn traumatisierte Anteile wieder zum Leben erwachen. Und weil sie dies nicht tut, brechen viele den Weg unbewusst ab und verharren an einem Teilabschnitt. Ihr konditioniertes Wesen gibt Warnsignale für diese Orte in der Tiefe ihres Seins.  

Manchmal sehe ich Artikel oder Coachingangebote und frage mich, was der Unterschied zum neuen Appleprodukt ist. In beiden wird etwas beworben, was das Leben besser machen soll. Ein Produkt, eine Methode oder ein Lebensstil werden als Quelle des Glücks beworben. Beim Mediamarkt ist klar, dass dies Kapitalismus ist. Doch beim Satsang oder bei der Therapie kann uns das Muster zunächst entgehen. Aus Verzweiflung wünschen wir uns nun endlich Hilfe gefunden zu haben oder wollen nicht mehr dem kritischen Verstand, der neue Erfahrungen verhindert, folgen. Nach einigen Jahren in der Heilungsszene wird es jedoch deutlich. Wenn Glück beworben werden muss, um das Angebot attraktiv zu machen, kann das nicht der Weg zur Wahrheit sein. Und wenn so viele es bewerben könnten, wieso ist die Welt dann noch in diesem aktuellen Bewusstseinszustand?

Wenn die Welt- und Heilvorstellungen zerbröckeln, lüftet sich die Heftigkeit des verdrängten Lebens. Durch die Begegnung und den tiefen, somatisch realen Kontakt mit den Gefühlen und Empfindungen entwickelt sich gleichzeitig Lebensintelligenz – ein Wissen darüber, wie Leben sich wirklich anfühlt. Die an der Oberfläche sprudelnden Gespräche über Glück verlieren ihren Magnetismus. Glücklich sein löst nicht alle Herausforderungen und alle Herausforderungen lösen kreiert kein Glück. Wir können unser Sein erkunden ohne Heldengeschichten danach daraus zu kreieren und unschlagbare Angebote zu erschaffen. Stattdessen plädiere ich für einen spirituellen Dialog, der die ungeschönte Realität des Weges genauso wie die Möglichkeit ekstatischer Verbundenheit anerkennt.

16.05.2024
Sara Gnanzou
https://tiefbewegtblog.wordpress.com/

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Sara GnanzouTanoe-Gnanzou-Profil

Die Sehnsucht nach Lebendigkeit führte Sara Gnanzou zunächst zu Reisen durch die Welt, einem interdisziplinären Philosophiestudium und Tätigkeiten im Beratungs- und Choachingbereich. Seit 2020 widmet sie sich der spirituellen Lebensforschung. In Ihre Arbeit fließen neben tantrischem Wissen und westlicher Philosophie auch die Körper- und Traumaforschung mit ein. Durch das Teilen ihrer Forschungserkundungen durch Wort und Bild möchte sie unterstützend dazu inspirieren, das eigene Sein zu erforschen und die Lebendigkeit erblühen zu lassen.

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2 Kommentare

  1. Sehr aus tiefer Weisheit geschriebener Artikel von Sara Tanoe Gnanzou ! Danke dir sehr!!!
    Genau diesen Verlauf meiner Entwicklung habe ich erlebt. Viele enthusiastische Gruppenerfahrungen mit den unterschiedlichsten Methoden zur Selbsterkenntnis lasse ich nun hinter mir, um genau das zu tun, was Sara beschreibt, – den Dialog mit mir selbst zu wagen . Ich habe unter Tränen alle Verletzungen meines inneren Kindes, Wut , Ängste, etc.,in mein Herzfeld genommen , und dort dürfen die Emotionen durch mein liebevolles und friedliches Sein geheilt werden !
    Mehr ist nicht zu tun, als tiefe Eigenliebe zu entwickeln. Alles andere kommt dann von selbst….
    Herzlichst Christina Beckmann

    • Liebe Christina Beckmann,

      danke für das Einlassen auf diese innere Zuwendung und Forschung sowie für die kleine Mitteilung. Es entzückt mich von der Resonanz zu hören. Das Feld der Tieftaucher ist auch unsichtbar lebendig – yeah! Viel Kraft und Mut und Genuss für deinen weiteren Weg!
      Gruß, Sara

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