Evolution der menschlichen Ziele
Ein Mensch empfindet sich in seinem relativ kurzen Leben oft als unvollkommen. Seine ständigen Bestrebungen in verschiedenen Lebensbereichen halten in ihm ein Gefühl der Minderwertigkeit aufrecht. Um seine Selbstempfindung der Unvollkommenheit loszuwerden, kämpft er in seinem Leben für viele Dinge und Ansichten.
Vier Kategorien menschlicher Anstrengung
Die Hauptthemen, in denen ein solcher Kampf stattfindet, sind
- die materiellen Bedürfnisse des Lebens, Sicherheit, Erfolg und Status (Artha),
- verschiedene Arten von Freuden, sowohl körperlicher als auch subtiler Art (Kama),
- die Einhaltung der Regeln und Vorschriften der Gesellschaft, Ethik (Dharma).
In der vedischen Kultur gibt es eine weitere Kategorie menschlicher Anstrengung, die Moksha genannt wird: der Wunsch nach Befreiung oder die Befreiung selbst. In der europäischen Gesellschaft sind solche Wünsche eher die Ausnahme, dennoch gibt es auch hier eine gewisse Anzahl von Menschen, deren Ziel die Befreiung aus dem Kreislauf von Geburt und Tod und die Überwindung von Samsara (Kreislauf der Wiedergeburten) ist.
Damit das Leben der Menschen als menschenwürdig bezeichnet werden kann, haben alle Kulturen der Welt ethische Werte und Ideale für die Interaktion zwischen den Menschen, die in der Kindheit vermittelt werden und im späteren Leben eines Menschen als Maßstab und Verhaltensmuster dienen.
Unvollkommenheit der menschlichen Ziele
Da das wirkliche menschliche Leben sehr weit von idealen Vorstellungen entfernt ist, kommt es bei jedem Menschen früher oder später zur Unzufriedenheit mit sich selbst und zu einem Gefühl der Unvollkommenheit in Bezug auf die ethischen Standards (Dharma), die ihm in der Kindheit mehr oder weniger intensiv vermittelt wurden.
Egal wie gut ein Mensch ist, es wird immer Menschen geben, denen sein Verhalten nicht gefällt. Da jeder die Welt auf seine eigene Art sieht, werden auch allgemein anerkannte ethische Normen von jedem Einzelnen mehr oder weniger unterschiedlich interpretiert. Aufgrund dieses Pluralismus ist es unmöglich, ein Gefühl der ethischen oder moralischen Perfektion zu erreichen.
Betrachtet man die Themen von Artha, kann man auch erkennen, dass aufgrund der Vergänglichkeit und ständigen Variabilität aller Lebensfaktoren, z.B. Gesundheit oder Klima und des Zustandes der Gesellschaft, in der ein Mensch lebt, keine Perfektion erreichbar ist.
Kama – also Vergnügen – ist der treibende Faktor im Lebens in den sogenannten Welten der Leidenschaft (Samsara). Dieser Begriff meint Welten, in denen die Wesen auf eine Art von Glück in der Erfüllung ihrer endlosen Wünsche hoffen, die sie in der Außenwelt und nicht in sich selbst suchen.
Die Erfüllung äußerer Wünsche ist für junge, unreife Seelen, die von Samsara verzaubert sind, wichtig, um das Leben in der grobstofflichen Dimension zu erfahren und ihre unterscheidende Weisheit zu entwickeln. Nur wenn ein Mensch zumindest den Großteil seiner Wünsche erfüllt bekommen hat und danach sicherstellen kann, dass keine weiteren äußeren Wünsche der Seele oder dem Bewusstsein ein Gefühl der Unvollkommenheit verleihen, kann er erfolgreich nach der Erfüllung seiner inneren Wünsche streben, insbesondere des Wunsches nach Befreiung von der Unwissenheit.
Entstehung des Wunschs nach Befreiung
Der Wunsch nach Befreiung aus dem Kreislauf von Geburt und Tod entsteht im Menschen zunächst nur oberflächlich. Vielleicht hat er irgendwo etwas über den Weg der Befreiung gehört, über das Leiden der Wesen in Samsara, und das hat ihn angezogen.
Dann beginnt er, ernsthafter über dieses Thema nachzudenken, liest heilige Texte, hört sich die Satsangs erleuchteter Meister an. Der Wunsch nach Befreiung nimmt in seinem Kopf immer stärkere Formen an.
Nachdem der spirituelle Sucher wie eine Biene den Nektar verschiedener Traditionen, Lehren und Meinungen probiert hat, findet er seinen Meister, der ihm einen Vorgeschmack auf den natürlichen Geisteszustand und die Natur des Geistes gibt. Der Wunsch nach Befreiung wird dominant und im Idealfall alles verzehrend. Die eigentliche spirituelle Suche und Weiterentwicklung beginnen.
Advaita Vedanta als Gipfel aller Ziele
Die Geschichte der menschlichen Evolution ist auch die Geschichte der Entwicklung menschlicher Ziele und Werte in verschiedenen Kulturen und räumlich-zeitlichen Kontexten. Trotz der großen Anzahl unterschiedlicher Kulturen, die es auf der Welt gibt, kann man sagen, dass die meisten kulturellen Traditionen der Menschheit die Ethik zwischenmenschlicher Beziehungen zum Ziel haben und nach edlen Eigenschaften wie Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit, Hilfsbereitschaft, Bescheidenheit, Vergebung usw. streben. Im Kontext verschiedener Religionen werden meist Liebe und Hingabe an Gott gepflegt.
Diese grundlegenden menschlichen Werte sind in fast jeder Kultur zu finden. Aber nur in der Kultur der vedischen und buddhistischen Traditionen kann man das höchste Ziel der menschlichen Existenz finden: die Befreiung vom Kreislauf von Geburt und Tod oder den Wunsch nach Erleuchtung.
Das höchste und transzendentale Ziel des Lebens
Advaita Vedanta ist solch eine kulminierende Lehre. Vedanta gilt als abschließende Zusammenfassung der Veden und ist in der Lage, einen Menschen dazu zu bringen, seine wahre Position in dieser pluralen Welt verschiedener Kulturen, Werte und Denkformen zu verstehen und zu erkennen. Es hilft dabei, die eigene ursprüngliche, subtile Schicht des Bewusstseins jenseits aller Definitionen und Kulturen zu öffnen, um sein wahres Wesen zu offenbaren, unabhängig von jeglichen Vorstellungen und jenseits von Zeit und Veränderung.
In diesem Sinne ist Advaita Vedanta die Kulmination der indischen Philosophie und kann von jedem vernünftigen Menschen als das größte Geschenk dieses vergänglichen und seltenen menschlichen Lebens angesehen werden. Man vergleicht es mit einem wunscherfüllenden Juwel, das sehr schwer zu bekommen ist. Ein solches Juwel entwertet alle anderen Schätze, materielle wie geistige, und selbst die klassischen menschlichen Gefühle.
Advaita Vedanta zielt darauf ab, einem Menschen sein wahres Wesen zu offenbaren, unabhängig von inneren oder äußeren Einschränkungen, und seine Existenz auf eine völlig andere Ebene zu übertragen: die Ebene der Wahrnehmung der ewigen Realität, jenseits von Zeit und Raum, kulturellen und familiären Konventionen sowie den Beschränkungen von Körper und Geist.
Es wird angenommen, dass ein Mensch nur dann beginnen kann, nach dem Sinn seiner Existenz zu suchen und tiefe Fragen über die Grundlagen seiner Existenz zu stellen, wenn die Seele und/oder der Geist eines Menschen ausreichend gereift und mit den verschiedenen Erfahrungen dieses samsarischen Lebens gesättigt sind. Der menschliche Geist muss so verfeinert werden, dass er mit Konzepten arbeiten kann, die jenseits der Sinneswahrnehmung liegen und subtilere Bewusstseinskonturen entwickelt haben als der gewöhnliche konzeptionelle Geist (Manas).
Wenn der Mensch die Natur seines Geistes aus welchem Grund auch immer als leer, leuchtend, subtil und glückselig erkennt, sucht er nicht mehr im Außen, sondern beginnt seine Suche im Inneren. Im westlichen Kulturkreis heißt dies die Suche nach Gott. Buddhisten nennen diese Dimension Dharmakaya, die Grundlage von allem. Und die Suche danach als Streben nach Erleuchtung. Hindus sagen Brahman oder Paramshiva zu dieser Realität und suchen nach Befreiung aus dem Kreislauf der Wiedergeburten und dem Leben in der Unwissenheit.
Wie immer man es nennt, es ist eine innere, heilige Dimension, die erst dann interessant wird, wenn der Mensch genug Enttäuschungen im Äußeren erlebt hat und beginnt, sich selbst die Frage nach dem eigenen Ursprung zu stellen.
Advaita Vedanta sagt (als Kern der Upanishaden):
- Prajnanam Brahman Alles ist Bewusstsein.
- Aham Brahmasmi Ich bin das Absolute.
- Tat Tvam Asi Das (Absolute) bis du.
- Ayam Atma Brahman Dieser Atman ist Brahman. (Das individuelle Bewusstsein ist in
seiner Essenz das transzendente Brahman, also das Absolute.)
Um diese Aussagen wirklich für sich und im Leben zu realisieren, bedarf es eines langen inneren Weges. Aber der Anfang ist gemacht. Früher oder später wird die Unwissenheit weichen. Ziele wie Erleuchtung und Befreiung erscheinen am Horizont der zukünftigen Möglichkeiten.
15.01.2025
Ramanatha Giri
www.de.advayta.org
Ramanatha Giri ist Yogi, Philosoph, Lektor, seit 20 Jahren Mönch in der Advaita-Tradition der Siddhas in der Linie des Meisters Swami Vishnudevananda Giri und ist in der Ukraine geboren.
Seit 2010 führt er Seminare und Retreats im Jnana-, Raja- und Kundaliniyoga sowie Pranavidya in Westeuropa, den USA und der Ukraine durch und bietet persönliche spirituelle Beratungen an.
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