Dzogchen – Erkenntnis der höchsten Wirklichkeit

moench landschaft buddha

Dzogchen – Tor zur Erkenntnis der höchsten Wirklichkeit

Bede Griffiths (1906 – 1993), der Benediktinermönch, Mystiker und Weise war überzeugt, dass das Wissen und die Praxis von Dzogchen das Tor ist, das direkt zur Erkenntnis der höchsten Wirklichkeit führt.

1992 führte Bede Griffiths mich in die innerste Essenz jener geheimen Lehre ein und übergab mir am

GRIFFITHS Portraet 17. Dezember 1991
GRIFFITHS Porträt 17. Dezember 1991

4. Dezember 1992 eines seiner letzten handgeschriebenen Manuskripte. Dieses Dokument ist kostbar und so verdichtet, dass es Zeugnis ablegt von der tiefsten Quelle eines großen spirituellen Meisters des 20. Jahrhunderts.

Dzogchen ist die Hauptlehre der Nyingma Schule des Tibetischen Buddhismus, die als die wichtigste und geheimste Lehre des Shakyamuni Buddhas angesehen wird.

Dzogchen, was die große Vollkommenheit“ (Dzog = Vollkommenheit, chen = groß) bedeutet, ist ein Weg der Verwirklichung, ein Weg, um die Fülle von Weisheit und Mitgefühl zu erfahren. Die Tradition des Dzogchen wurde im 8. Jahrhundert von Padmasambhava und Vimalamitra nach Tibet gebracht und im 14. Jahrhundert von Longchenpa zu einem einheitlichen System verdichtet.

Normalerweise sind drei Übungsstufen notwendig, um die große Vollkommenheit zu erreichen.

Man beginnt mit der Lehre und der Disziplin des Buddha. In der ersten Phase – Meditation oder Sutra – wird außerdem meditiert, man praktiziert Yoga, führt Rituale aus und wird in die verschiedenen Stufen des spirituellen Lebens eingeführt.

Danach kommt Tantra, die zweite Stufe. Anders als auf der Sutra-Stufe, wo man dazu neigt, die Welt hinter sich zu lassen und sich auf das Innere zu konzentrieren, beginnt man hier auf der Tantra-Stufe mit dem Körper, dem Atem, dem Blut und den Gefühlen. Es ist das Gegenteil der Sutra-Stufe. Dort lässt man alles hinter sich. Man vergisst seinen Körper, vergisst seine Gefühle und konzentriert sich auf seinen Geist, der sich dem Transzendenten öffnet. Auf der Tantra-Stufe beginnt man mit dem Körper, mit den Sinnen, den Gefühlen und dem Atem – besonders dem Atem. Im Tantra beginnt man aus den Mächten des Unbewussten zu schöpfen.

Die Christen wissen im Allgemeinen überhaupt nichts über diese Mächte des Unbewussten. 

Unsere (christliche) Religion bleibt im bewussten Bereich, den wir ganz wunderbar entwickelt haben. Doch jenseits des Bewussten, da wo wir eins sind mit der Natur sind, gibt es das Unbewusste mit all seinen dynamischen Kräften, die ungeheuer mächtig sind, aber kontrolliert werden können. Denn man kann lernen, sie in der Natur und im eigenen Wesen (Sein) zu beherrschen.

Auf der dritten Stufe dann geht man über Meditation und Tantra hinaus und erkennt, was als der ursprüngliche Zustand, als die eigene innere Buddha-Natur bekannt ist. In christlicher Ausdrucksweise würden wir sagen: Man hat einen Körper und gelernt, einen großen Teil dieses physischen Organismus zu beherrschen. Außerdem hat man hat einen psychologischen Organismus mit Sinnen, Gefühl, Einbildungskraft, Verstand und Wille. Schließlich geht man über den Körper und über die Psyche hinaus zum Geist (spiritus im Lateinischen), dem Pneuma (im Griechischen), dem Atman (im Sanskrit), um sich dort dem Göttlichen, dem Transzendenten, dem Unendlichen zu öffnen. Das Ziel all dieses Übens ist die Öffnung zum Unendlichen und Ewigen, das in jedem Menschen und in allem ist.

Gott ist in jedem und in allem, aber er ist verborgen.

Wir leben im Körper und vergessen den Geist (engl. = spirit). Wir leben in unserer Psyche und sind vollkommen mit ihr beschäftigt.

Die meisten von uns Christen haben den Geist (spirit) noch gar nicht entdeckt.

Unsere Religion bewegt sich zum größten Teil auf der Ebene von Körper und Psyche, in unserem Intellekt, unserem Willen, unserem bewussten Verstand (engl. = mind). Das ist gut, aber begrenzt.

Denn erst jenseits von Körper und Psyche, auf der Ebene des Pneuma oder Geistes (spirit), befindet sich der Ort, den der heilige Franz von Sales den „Öffnungspunkt der Seele und der große Jesuit und Theologe Karl Rahner als den Punkt der Ich-Transzendenz bezeichnete. Wir besitzen die Fähigkeit, den Körper und die Seele zu transzendieren und uns dem Göttlichen, dem Unendlichen und Ewigen zu öffnen: Dem, was jedem menschlichen Wesen innewohnt. Dem, was die Buddha-Natur genannt wird. Aber sie ist verborgen. Sie ist sozusagen der Urgrund. Dieses verborgene Zentrum, in dem wir eins sind mit dem Höchsten, mit dem Ewigen, sollen Meditation und Tantra öffnen helfen.

Die Lehre des Dzogchen jedoch besagt, man müsse diese ganze Disziplin und das Tantra nicht auf sich nehmen.

Es ist möglich, plötzliche Erleuchtung zu erfahren, was normalerweise durch Übertragung (Transmission) geschieht.

Das entspricht auch der Hindu-Tradition. Sie sagt, dass ein Guru die Erfahrung von Brahman, die Erfahrung des Unendlichen gemacht hat. Er ist der Übertragung auf jemanden fähig, der sich ihm öffnet und dann erleuchtet wird. So kann ein Mensch plötzliche Erleuchtung erfahren: die vollkommene Einheit mit dem Höchsten – brahmavidya –, die Verwirklichung des Atman, die Verwirklichung des eigenen inneren Selbst.

Dabei entdeckt man das Unendliche, das Ewige. In der buddhistischen Tradition ist es die Entdeckung der Buddha-Natur – man tritt ein in die Buddhaschaft. In Indien bezeichnet Jivanmukta einen zu Lebzeiten befreiten Menschen. Und Dzogchen spricht von der höchsten Stufe als von dem ursprünglichen Zustand, der von Anfang an da war, verborgen jenseits des Körpers, der Sinne, der Gefühle und aller Begrenzungen.

In der Dzogchen-Lehre erfährt man seine Buddha-Natur, seinen ursprünglichen Zustand.

Dieser Zustand ist absolute Vollkommenheit. In ihm ist alles in vollkommener Ganzheit, Fülle und Glückseligkeit (Sanskrit: Ananda) enthalten. In der Hindu–Tradition sprechen wir von Sat-Chit-Ananda: Sein in vollkommener Bewusstheit und absoluter Glückseligkeit. Das ist das Ziel für alle Hindus.

Im Dzogchen, so heißt es, kann der Meister einen in die Erfahrung des ursprünglichen Zustandes einweihen. In diesem Zustand lässt man die Welt nicht hinter sich. Ich glaube, dass bei der Meditationsbewegung eine Tendenz dazu besteht, die Welt hinter sich zu lassen. Man konzentriert sich auf seinen Verstand und geht über ihn hinaus – aber die Welt geht verloren. Man weiß nicht mehr, wie man zu ihr in Beziehung treten soll. Man neigt dazu, alles für eine Illusion zu halten. Das ist sehr gefährlich: Es ist eine Art Dualismus.

Im Dzogchen und in den tieferen Traditionen des Buddhismus und Hinduismus aber muss man alle anderen Stufen der Wirklichkeit in das Höchste integrieren.

Das Physische und die Psyche mit allen jeweiligen Aspekten müssen in die höchste Weisheit integriert werden. Das ist Jnana wobei die Wurzel jna (Sanskrit) dieselbe ist, wie im englischen Wort know – das göttliche Wissen. In Indien sprechen wir von Jnana, im Buddhismus von Prajna und im Griechischen von Gnosis, dem Göttlichen Wissen. Wenn man das Göttliche Wissen teilt, macht man die Erfahrung des Unendlichen Transzendenten Einen.

Dzogchen sagt, dass man in diesem Zustand sein ganzes Sein integriert hat, das Sein der Natur um einen herum, das Sein des Körpers und der Psyche mit all ihren Fähigkeiten. Sie alle sind in der einen Höchsten Wirklichkeit vereint. Diese totale Einheit zu erreichen, ist das Ziel von Dzogchen. Damit steht es übrigens der christlichen Idee von Pleroma (griech.), wie sie in der Bedeutung von Fülle in den Briefen des heiligen Paulus zu finden ist, außerordentlich nahe. Die Idee besagt, dass Christus die Pleroma Gottes ist. Die Fülle des Göttlichen war in Christus gegenwärtig. „In ihm war die Fülle der Gottheit verkörpert.“

So ist für uns Christen Jesus Christus der eine, in dem die Fülle der göttlichen Wirklichkeit vollkommen gegenwärtig ist. Später heißt es: „Er ist der erste von den Toten Auferstandene und die Kirche ist die Fülle Christi.“ So kommt die Fülle vom Vater, der Quelle, zu Christus, und geht von Christus auf die Kirche über, auf uns und auf die Jünger. So erfahren wir seine Fülle. Nun können wir sehen, so scheint mir, dass der Hindu, der Buddhist, der Moslem und der Christ alle nach der Erfahrung dieser Fülle, dieser Pleroma der Wirklichkeit streben, die in jeder Lehre gleichermaßen Weisheit und Liebe ist. Das sind die beiden Merkmale.

In unserer christlichen Tradition sagen wir, dass der Vater die Quelle ist, der Ursprung, das Jenseitige.

Wir können den Vater nicht angemessen benennen: Es ist nur ein Name für das, was jenseits aller Namen und Formen ist.

In der Tibetischen Tradition ist in jenem ursprünglichen Zustand alles vollkommen eins. Alles ist in der Einheit versammelt und manifestiert sich dann im Universum. Das Universum entspringt aus seinem ursprünglichen Zustand in all seiner Vielfältigkeit. Die Erde, der Himmel, die Bäume, Menschen.

Wir alle sind Manifestationen der höchsten Weisheit, die wie in einem Spiegel reflektiert wird. Das Universum ist wie ein Spiegel, der den ursprünglichen Zustand, die ursprüngliche Wirklichkeit wiedergibt. Wir alle reflektieren sie auf unsere begrenzte Art und Weise. Aber wir können im Verstehen wachsen, bis wir ganz und gar Spiegel werden.

Wir sagen, dass Jesus das Abbild des unsichtbaren Gottes, der vollkommenen Wirklichkeit ist. Und da wir alle nach dem Bilde Gottes geschaffen sind, können wir dieses Bild der einen Wirklichkeit in uns selbst finden. Im Dzogchen erkennen wir es plötzlich, in anderen Lehren nähern wir uns ihm schrittweise durch Meditation, Studien, Yoga und Disziplin an.

Es geht nicht nur um Sitzen und Meditation: Karuna (Sanskrit) = Mitgefühl ist einer der wesentlichen Wege, um Gott zu erfahren. Man erfährt die Fülle, die Ganzheit und die Nicht-Dualität. Dies ist ein sehr wichtiges Konzept, das heute gerade in unsere Theologie eindringt: dass die absolute Wirklichkeit nicht eins ist und nicht zwei. Das ist das Problem mit dem Gott der christlichen Tradition. Wir denken an ihn als an eine Person – als den Himmlischen Vater. Es ist immer eine Person; wir projizieren ein Bild und beten jenes Bild als Gott an. Aber wir wissen, dass kein Bild und kein Konzept ausreichend sind.

Wir müssen über unsere Bilder hinausgehen.

Wir müssen unsere Bilder von Jesus usw. zurücklassen. Wir müssen unsere Konzepte von der Trinität und auch der Inkarnation zurücklassen, weil die Wirklichkeit immer jenseits unserer Bilder, jenseits all unserer Gedanken ist. Wir bewegen uns immer auf die unendliche Transzendenz, das Heilige Eine zu, und das wird das Ende unseres Lebens sein. So enthüllt sich das göttliche Mysterium in der Schöpfung, in der Menschheit und erreicht für den Christen in Christus seinen Höhepunkt. Die Kirche ist der Körper und Christus ist der Kopf dieses Körpers, der Kopf der ganzen Schöpfung und dann geht er darüber hinaus und führt die ganze Schöpfung, die ganze Menschheit zurück zu ihrer Quelle in der Gottheit.

Es gibt einen Aspekt von Dzogchen, der eine sehr enge Analogie zum Christentum hat. Im Dzogchen wird der ursprüngliche Zustand, die Höchste Wirklichkeit plötzlich, ohne die Vorbereitung durch Meditation oder Yoga, erfahren. In der christlichen Tradition ist die Kontemplation auch ein Geschenk Gottes. Es ist nichts, was wir durch Meditation oder persönliche Anstrengung erreichen können. Es ist reine Gnade. Es kommt zu jenen, die bereit sind, zu empfangen – nicht als etwas durch menschliche Anstrengung Erreichtes, sondern als ein Geschenk der Gnade.

In der hinduistischen und in der buddhistischen Tradition kann es als Geschenk des Gurus in Erscheinung treten, der den Schüler zu seiner Gegenwärtigkeit erweckt. Für den Christen kommt es als Geschenk des Heiligen Geistes, das von Christus als dem Sat-Guru, dem höchsten Lehrer gegeben wird, der sein eigenes inneres Leben auf seine Jünger überträgt.

29.12.2022
Roland R. Ropers
Religionsphilosoph, spiritueller Sprachforscher, Buchautor und Publizist

www.KARDIOSOPHIE-NETWORK.de


Über Roland R. Ropers

Dzogchen Roland Ropers 2021

Roland R. Ropers geb. 1945, Religionsphilosoph, spiritueller Sprachforscher,
Begründer der Etymosophie, Buchautor und Publizist, autorisierter Kontemplationslehrer, weltweite Seminar- und Vortragstätigkeit.
Es ist ein uraltes Geheimnis, dass die stille Einkehr in der Natur zum tiefgreifenden Heil-Sein führt.

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Buch Tipp:

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Weg-Weiser zur kosmischen Ur-Quelle

von Roland R. Ropers und
Andrea Fessmann, Dorothea J. May, Dr. med. Christiane May-Ropers, Helga Simon-Wagenbach, Prof. Dr. phil. Irmela Neu

Die intellektuelle Kopflastigkeit, die über Jahrhunderte mit dem Begriff des französischen Philosophen René Descartes (1596 – 1650) „Cogito ergo sum“ („Ich denke, also bin ich“) verbunden war, erfordert für den Menschen der Zukunft eine neue Ausrichtung auf die Kraft und Weisheit des Herzens, die mit dem von Roland R. Ropers in die Welt gebrachten Wortes „KARDIOSOPHIE“ verbunden ist. Bereits Antoine de Saint-Exupéry beglückte uns mit seiner Erkenntnis: „Man sieht nur mit dem Herzen gut“. Der Autor und die sechs Co-Autorinnen beleuchten aus ihrem individuellen Erfahrungsreichtum die Vielfalt von Wissen und Weisheit aus dem Großraum des Herzens.

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