Bewusstsein als Ich-Identität – Essenz der Selbsterforschung

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Bewusstsein als Ich-Identität-Selbsterforschung-federn-farben-plumageBewusstsein als Ich-Identität – Die Essenz der experimentellen Selbsterforschung
– Teil 2

Im Teil 1 dieses Beitrages zur Selbsterforschung wurde gezeigt, wie durch experimentelle Untersuchung unserer Wahrnehmungen das gegenwärtige bezeugende Bewusstsein als Ich-Identität wiedererkannt werden kann.

Unter Bewusstsein wird hier das unveränderliche reine Gewahrsein der eigenen Anwesenheit als Zeuge aller Erfahrungen verstanden. Die bezeugten Bewusstseinsinhalte umfassen dagegen sämtliche wechselnden objekthaften Erfahrungen wie Gegenstände, Gedanken und Empfindungen. Auf dem Weg der Selbsterforschung ist es zunächst sehr sinnvoll, das Bewusstsein und die bezeugten Bewusstseinsinhalte streng zu trennen.

Bewusstsein als Ich-Identität – Durch diese Trennung wird deutlich,

dass das Ich im Bewusstsein wurzelt und nicht in instabilen Objekten, wodurch die Identifikation des Ich mit dem Körper bzw. dem Verstand aufgelöst wird.
Die verbleibende Dualität zwischen Ich-Bewusstsein und den Bewusstseinsinhalten als „Nicht-Ich“ ist jedoch problematisch und behindert das ganzheitliche Verständnis unserer Selbst.

Denn diese Trennung fördert die gewohnheitsmäßige Aufteilung der Wirklichkeit in zwei Bereiche:
a) In eine außenliegende stoffliche Realität aus Materie (die wir NICHT sind) und
b) eine innere geistige Welt aus Bewusstsein (die wir sind). Intuitiv haben wir normalerweise den Eindruck, aus unseren Augen wie durch Fenster auf eine konkrete stoffliche Wirklichkeit aus Materie zu blicken.

Wenn wir z.B. ein Trinkglas in der Hand halten, zweifeln wir keinen Augenblick daran, dass dieses Glas aus einem harten, durchsichtigen Material gefertigt ist. Dagegen halten wir die Wirklichkeit unserer Gedanken und Gefühle für ein nachgeordnetes geistiges Modell aus Bewusstsein, das sich von der „realen“ stofflichen Materie unterscheidet.

Im Folgenden soll gezeigt werden, dass die Trennung der Welt in Materie und Bewusstsein eine gedankliche Interpretation darstellt, die einer experimentellen Überprüfung nicht standhält.

Untersuchung der Subjekt-Objekt-Trennung

Berühren Sie mit der einer Fingerkuppe eine Tischfläche und konzentrieren Sie sich auf das entsprechende Tastgefühl. Am besten schließen Sie dabei die Augen. Sie spüren möglicherweise eine leicht kühle Temperatur verbunden mit einem sanften Druck.

Versuchen Sie möglichst genau zu ergründen, was Sie an der Stelle spüren. Fragen Sie sich dann, wieviel Empfindungen Sie im Bereich ihrer Fingerkuppe wahrnehmen. Wieviel Tastempfindungen gibt es an ein und derselben Stelle? Mehrere? Zwei? Eine?

Sie werden sicher zustimmen,

dass Sie nur eine einzige Tastempfindung spüren. Stellen Sie sich jetzt folgende Frage: Spüren Sie den Tisch oder Ihren Finger? Sie müssen zugeben, dass die Tastempfindung weder dem Tisch noch ihrem Finger allein zugeschrieben werden kann. Im Augenblick der direkten Wahrnehmung verschmilzt der Gegenstand, der berührt wird, mit demjenigen, der ihn berührt.

Das eben durchgeführte Experiment lässt sich nun in gleicher Weise auf sämtliche andere Sinneswahrnehmungen wie z.B. Hören oder Sehen übertragen. Fragen Sie sich z.B. ob Sie beim Vorgang des Hörens zwischen dem wahrgenommenen Geräusch und demjenigen, das hört, unterscheiden können.

Lässt sich der jeweilige Höreindruck in zwei Teile aufteilen?

Gibt es einen Anteil des Geräusches, den Sie z.B. dem zwitschernden Vogel und einen anderen Anteil, den Sie sich selbst als dem Zuhörenden zuschreiben können?

Wandern Sie mit der Aufmerksamkeit vom Geräusch zu Ihrer Erfahrung des Geräusches, also hin zu Ihrem „Wissen“, dass das Geräusch ertönt. Müssen Sie dabei mit Ihrer Aufmerksamkeit eine Grenze überschreiten?

Sind Geräusch und dessen Erfahrung tatsächlich getrennt?

Nein, Sie werden zustimmen, das gehörte Geräusch kann weder Ihnen als Subjekt noch dem vermeintlichen Objekt, das es verursacht, alleine zugeschrieben werden. Das Hören des Geräusches ist das Geräusch, das Wissen um das Objekt ist das Objekt.

Im Augenblick der Wahrnehmung sind Subjekt und Objekt eins. Es gibt keinen Hörenden und es gibt kein Gehörtes. Es gibt nur „Hören“. Das ist unsere direkte Erfahrung, die sich entsprechend Bild 1 auch auf den Sehsinn übertragen lässt.

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Bild 1

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es im Moment der Erfahrung keine Trennung gibt zwischen dem Objekt der Wahrnehmung (Berührung, Geräusch, Seheindruck etc.) und dem Subjekt, das es wahrnimmt.

Die Substanz der Realität

Aus welcher Substanz besteht dann aber die wahrgenommene Erscheinung (Berührung, Geräusch, Seheindruck etc.)? Besteht sie aus dem, was wir gemeinhin als Materie bezeichnen, oder handelt es sich um Bewusstsein?

Eine einfache Überlegung löst das Problem: Da ohne unsere Anwesenheit als beobachtende Zeugen keine Beobachtung möglich wäre, besteht alle Erfahrung eindeutig aus dem, was wir als Bewusstsein bezeichnen.

Oder wird zusätzlich zu der Erfahrung selbst (hart, warm, laut, grün, sauer etc.) noch etwas Zweites wahrgenommen, das sich als eine weitere Substanz, etwa als konkrete Materie, deuten ließe?
Nein, wir haben ja eben selbst festgestellt, dass es so etwas „Zweites“ nicht gibt.

Blicken Sie um sich!

Egal was Sie betrachten, jedes Objekt, jede Farbe, jede Form besteht nur aus Ihrer bewussten Erfahrung, dass dieses Objekt, diese Farbe oder diese Form gerade da ist. Auch in Ihrer Erinnerung finden Sie kein Objekt, dass unabhängig von Ihrer bewussten Erinnerung wäre.

Sämtliche Empfindungen, die der höchsten Freude ebenso wie die der tiefsten Depression, setzen Ihre wissende Gegenwärtigkeit, also Bewusstsein, voraus.

Alles Erfahrbare ist aus Sehen, Hören, Spüren etc. zusammengesetzt. Das sind alles Attribute des Bewusstseins. Dagegen stellt die Interpretation dieser Erfahrungen als „Materie“ einen nachgeordneten intellektuellen Akt dar. In der direkten Erfahrung ist so etwas wie Materie nicht auffindbar.

Folgende kurze Überlegungen stützen die oben aufgeführte Schlussfolgerung:

  • Vom Eindruck her ähneln sich die im wachen wahrgenommene Realität und die erträumte Welt in der Nacht. Da Nachtträume eindeutig im Bewusstsein des Träumers erscheinen und daher aus Bewusstsein gemacht sind, kann auch die Realität am Tag nur aus Bewusstsein bestehen. Dies lässt sich anhand der Escheinung „Licht“ sehr leicht nachvollziehen. Licht ist sowohl in der „physikalischen“ Welt als auch in unseren geistigen Vorstellungen und Träumen vorhanden. Da in unserem Gehirn keine Lichtquelle existiert, muss Licht demnach aus Bewusstsein bestehen.
  • Auch die Naturwissenschaft interpretiert unsere Wahrnehmungen als Bewusstseins-Konstrukt, als sogenanntes Repräsentationsmodell der Welt. Ganz offensichtlich existiert hinter unseren Augen kein sehender Geist, der aus diesen wie durch Fenster herausschaut. Hinter der Netzhaut mündet lediglich ein Sehnerv, der elektrische Impulse ins Gehirn leitet. Das Gehirn konstruiert aus den elektrischen Informationen ein virtuelles Bild der Welt, das sog. Repräsentationsmodell.
  • Eindrücke wie „Farbe“ und „Klang“ sind keine realen Bestandteile einer äußeren Welt, sondern Qualitäten des Bewusstseins. So steht z.B. die Farbe Grün für eine Lichtwellenlänge von 550 nm. Der Kammerton „a“ repräsentiert eine mechanische Schwingung von 440 Hz, der Geschmackseindruck „süß“ vertritt ein bestimmtes Zuckermolekül. Aber auch Wellenlänge, Schwingung und Molekül sind für sich genommen wiederrum Vorstellungen im Bewusstsein. Daraus folgt, dass niemand der Vorstellungswelt bzw. dem Repräsentationsmodell des Bewusstseins entkommen kann. Alles, von dem wir wissen, ist aus Bewusstsein gemacht.
  • Es gibt keinen Beweis, dass es eine materielle Welt außerhalb des Bewusstseins tatsächlich gibt. Jeder Beweisansatz für Materie setzt einen Wahrnehmungsprozess voraus, der wiederrum das Vorhandensein von Bewusstsein voraussetzt. Damit liefert jeder Beweisversuch immer nur einen Nachweis für Bewusstsein, niemals aber für Materie.

Alles ist Bewusstsein, alles ist „Ich

Um die aufgezeigte non-duale Wahrheit besser zu verstehen, eignen sich verschiedene Metaphern.

Zwei davon werden im Folgenden kurz skizziert:
Die Bildschirm-Metapher vergleicht Welt und Bewusstsein mit Film und Bildschirm.

Während der Film sich in Zeit und Raum ständig ändert, bleibt der Bildschirm als Projektionsfläche immer gleich. Film und Bildschirm können nicht getrennt werden. Der Film lässt sich nicht vom Bildschirm abheben oder abkratzen. Film und Bildschirm bestehen daher aus ein und derselben Substanz.

Und doch gibt es einen wesentlichen Unterschied:
der Film kann ohne Bildschirm nicht existieren, der Bildschirm ist vom Film dagegen unabhängig. Der Film kann den Bildschirm nicht verschmutzen, beschädigen oder gar zerstören. Entsprechend ist das Bewusstsein Voraussetzung für jede gegenständliche Erfahrung, es kann jedoch auch ohne diese Erfahrung im reinen „Ich bin“ zeitlos verweilen.

Auch wenn das Bewusstsein nicht mit dem träumenden Geist einer Person gleichgesetzt werden darf, so zeigt die Betrachtung des Wesens eines Traumes wie im Wahrnehmungsprozess das Wahrnehmende und das Wahrgenommene zusammenfallen können.

Im Traum ist diese Übereinstimmung offensichtlich.

Der träumende Geist erzeugt nicht nur eine Traumkulisse, sondern auch eine Traumfigur, die den Traum aus ihrer Ersten-Person-Perspektive erlebt und ggf. gedanklich bewertet. Traumfigur und Traumkulisse, Ich und Welt scheinen getrennt.

Tatsächlich sind aber sämtliche Bestandteile des Traumes eindeutig aus dem Bewusstsein des Träumers zusammengesetzt. Die Traummetapher versteht sich daher als Modell für eine ungeteilte nicht-duale Weltsicht, die sich von unserem Verstand ansonsten nur sehr schwer verstehen lässt.

Sie verdeutlicht außerdem die in den verschiedenen Experimenten gewonnene Einsicht, dass alles was wir erleben ein und demselben Bewusstsein entspringt auch wenn wir nicht genau wissen, was dieses Bewusstsein eigentlich ist.

Liebevolle Zuwendung zur Welt

Die übliche Identifikation des Bewusstseins mit einem getrennten gegenständlichen Ich in Form des Körpers und/oder denkenden Geistes ist die Ursache für psychologisches Leid, das sich u.a. in Wettbewerbs- Anpassungs- und Selbstverbesserungsmechanismen ausdrückt.

Daher ist es im ersten Schritt so wichtig, dass die tatsächliche Natur des Ich als unbegrenztes Bewusstsein wiedererkannt wird, auch wenn dadurch zunächst scheinbar eine neue Trennung bzw. Distanz zwischen Ich-Bewusstsein und bezeugter Lebenswirklichkeit geschaffen wird.

Mit dieser Loslösung findet jedoch gleichzeitig eine Öffnung statt, da keine eng begrenzten persönlichen Präferenzen mehr bestehen. Das Wiedererkennen des eigenen Ich in sämtlichen erfahrbaren Erscheinungen dieser Welt fördert im zweiten Schritt eine liebevolle und vorbehaltlose Zuwendung zum Leben und der Welt ohne einschränkende persönliche Begrenzungen und Bewertungen.

03.05.2020
Peter Pfrommer

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Vita: Prof. Peter Pfrommerkamphausen-Peter-Pfrommer

Peter Pfrommer geb. 1966, studierte in Stuttgart und promovierte im Bereich der Gebäudeklimatik.
Seit 1998 lehrt er als Professor an der Hochschule Coburg im Spannungsfeld von Wissenschaft und Kunst. Seine Erfahrungen in Fragen der Selbsterforschung vermittelt er u.a. seit 2013 im Hochschulseminar „Wer ist Ich?“.
Mehr unter: www.ichexperimente.de


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