Dürers Magisches Quadrat – Verbindung der Endpunkte der Materie und des Geistes
Albrechts Dürers magisches Quadrat erscheint als eine von vielen wissenschaftlich-mathematischen Anspielungen in seiner Melencolia I und zählt zu den berühmtesten magischen Quadraten überhaupt. In Dan Browns Das verlorene Symbol spielt dieses Quadrat eine besondere Rolle und wurde dadurch zu einer Art popkulturellem Mem erhoben, mit dem sich auch Mathematiker ernsthaft befasst haben.
Die Definition eines normalen magischen Quadrates lautet in etwa:
Ein magisches Quadrat der Kantenlänge n ist eine quadratische Anordnung der natürlichen Zahlen 1, 2, 3,…, n2, sodass die Summe der Zahlen aller Zeilen, Spalten und der beiden Diagonalen gleich ist. Diese Summe wird als die magische Zahl des magischen Quadrates bezeichnet. Die Kantenlänge n wird als Ordnung der magischen Quadrate verwendet. Nach dieser Definition ist die Summe der Zahlen aller Reihen, Spalten und der beiden Diagonalen im Dürer-Quadrat jeweils 34 oder in einer mathematischen Ausdrucksweise:
Dürers magisches Quadrat weist darüber hinaus jedoch eine Fülle weiterer Bedingungen auf.
Die Summe der Zahlen der vier der Quadranten und des zentralen Quadranten ergibt ebenfalls jeweils 34, ebenso die Summe der Zahlen der vier Ecken:
Darüber hinaus ist die Summe der Ecken der vier in Dürers magisches Quadrat eingeschlossenen 3 x 3 Quadrate 34:
Die Ecken der beiden zentralen 4 x 2 und 2 x 4 Rechtecke ergeben wiederum 34, wobei die beiden zum Zentrum symmetrischen Zahlen jeweils in Summe 17 ergeben.
Ebenso ist die Summe der Zahlen der vier diagonalen Rechtecke 34:
Auch die Summe der vier schiefen oder verzerrten Rechtecke ist 34:
Die beiden lateinischen Kreuzformen ergeben wiederum 34, ebenso wie die beiden auf dem Kopf stehenden Kreuze des Südens oder Petrus-Kreuze:
Die Summe der ersten beiden Zahlen einer Zeile und der letzten beiden der gespiegelten Zeile ergibt stets 34. Dies gilt entsprechend auch für Spalten:
Die Zahlen der beiden mittleren Zeilen oder Spalten in Zickzack-Reihenfolge ergeben jeweils 34:
Auch bei den äußeren Zeilen oder Spalten ergibt sich in Zickzack-Reihenfolge stets die Summe 34:
Durch die aufgezeigten zusätzlichen Symmetrieeigenschaften des Dürer-Quadrates können mittels Tauschoperationen sog. Zwillingsquadrate erzeugt werden.
Der Tausch der Zeile 2 mit Zeile 3 erzeugt zum Beispiel ein Zwillingsquadrat mit identischen Symmetrieeigenschaften. Gleiches gilt für den Tausch der Spalten 2 und 3:
Es existieren weitere Möglichkeiten zu Tauschoperationen, die im Rahmen mathematischer Beweisführungen Bedeutung erlangt haben. Allerdings geht dabei ‒ wie beim aufgeführten Spalten-Tausch ‒ eine weitere wichtige Eigenschaft des Dürer-Quadrats verloren, da die letzte Zeile verändert wird. Nicht übersehen werden sollte, dass in dieser letzten Zeile sowohl Dürers Initialen sowie das Jahr der Erschaffung der Melencolia I enthalten sind:
Die beiden Zahlen in der Mitte der unteren Zeile ergeben das Datum der Radierung, 1514.
Die Zahlen 1 und 4 am Ende und Anfang dieses Datums entsprechen im deutschen Alphabeth den Buchstaben A und D, welche die Initialen des Künstlers sind. Zieht man hierbei in Betracht, dass in Dürers Monogramm das große A als Kapitel das kleinere D umschließt, so lesen sich die Initialen im Quadrat als AD und nicht als DA. Dürers Platzierung der 1 und der 4 war keineswegs zufällig, denn sie diente auch dazu, Anno Domini (A.D.), d.h. im Jahre des Herrn zum Datum der Melencolia I hinzuzufügen.
Wir hatten gesehen, dass Dürers magisches Quadrat eine ganze Fülle von Bedingungen aufweist, die über die einfache Definition von magischen Quadraten hinausgehen. Mit zusätzlichen Bedingungen wird die Konstruktion des magischen Quadrats immer restriktiver in dem Sinne, dass weniger potentielle Möglichkeiten verbleiben. Unter der Annahme, dass Dürer die Jahreszahl der Erschaffung der Melencholia, flankiert von A und D oder D und A für die letzte Zeile festlegte, ergeben sich lediglich vier Möglichkeiten, die er gekannt haben muss. Warum hat er sich für die Variante DA entschieden, die in seiner Melencolia dargestellt ist?
DA DA’ AD AD’
Wir können davon ausgehen, dass es sich bei den beiden Kreuzformen in Albrecht Dürers magischem Quadrat, d.h. dem Lateinischen Kreuz und dem Petruskreuz, nicht um Zufall handelt, zumal Dürer die Algorithmen für die Erstellung magischer Quadrate aus den Werken von Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim und Athanasius Kircher wohl bekannt gewesen sein müssen. Den beiden Varianten, die die Initialen des Künstlers in der richtigen bzw. uns vertrauten Reihenfolge aufweisen (die Quadrate AD und AD’) fehlen die entsprechenden Kreuzsummen, was Dürer veranlasst haben könnte, diese beiden Varianten zu verwerfen. Das Zugrundelegen der Bedingungen für die beiden Kreuzformen, zusammen mit der Jahreszahl und den Initialen Dürers in der letzten Zeile ergibt genau die beiden Quadrate DA und DA’.
Würde man als weitere Bedingung das Nordische Kreuz einführen, so würde die von Dürer gewählte Variante DA ausscheiden und lediglich DA’ verbleiben. Nach welcher Methode auch immer Dürer sein Quadrat erstellt haben mag, wir können sicher sein, dass seine Methode auch zum Quadrat DA’ geführt hat, das sich durch einen einzelnen Zahlenaustausch von DA unterscheidet. Es stellt sich natürlich die Frage, welche der beiden Varianten das bessere Quadrat ist?
Im Vergleich zu DA hat DA’ vier zusätzliche kreuzförmige Summen, die horizontalen Nordischen Kreuze. Eine weitere Eigenschaft liegt in der von Dürer verworfenen Variante DA’ verborgen. Die Elemente der Spalten sind in einer angenehm sortierten aufsteigenden oder absteigenden Reihenfolge angeordnet.
Es scheint also, dass Albrecht Dürer uns in seiner Melencolia I nur sein zweitbestes magisches Quadrat offenbart.
Warum sollte er das tun?
Vielleicht liefert uns das Thema der Gravur selbst eine mögliche Antwort. Die zentrale Figur der Melencolia ist umgeben von den seinerzeit modernsten wissenschaftlichen und mathematischen Werkzeugen und erkennt dennoch die Unvollständigkeit jeglichen intellektuellen und kreativen Unterfangens. Die auf dieser Welt unerreichbare Perfektion erstrahlt von jenseits des Regenbogens, auch wenn dieses leuchtende Gestirn ganz unterschiedliche Deutungen erfuhr.
Die Melencolia hält in Ihrer rechten aktiven Hand einen Zirkel, Symbol für die intellektuelle und emotionale Arbeit an sich selbst, für Mathematik und Geometrie. Die Geschichte der Mathematik zeichnet die Renaissance als einen Zeitraum aus, in dem wesentliche mathematische Fortschritte gehäuft von Praktikern kamen. Der mathematischste Kopf unter den Künstlern seiner Zeit war jedoch Albrecht Dürer, der wissenschaftliche Werke über Mathematik, zur Perspektive und über menschliche Körperproportionen veröffentlichte. Überhaupt scheint Dürer sein eigenes Selbstverständnis in das Bild eingearbeitet haben.
Zumindest weisen die geometrischen Gegenstände auf die neuen wissenschaftlichen Hilfsmittel hin, derer sich der Künstler nun auch bedienen sollte. So können Polyeder und Kugel auf die von Dürer erfundene zeichnerische Konstruktionsmethode von Polyedern hinweisen und verdeutlichen die Verbindung von Wissenschaft und Kunst in der Renaissance. Auch das herumliegende Werkzeug und der mit einem Stichel an einer Platte arbeitende Putto veranschaulichen dies. Polyeder und magisches Quadrat verweisen wiederum auf die Verbindung von Wissenschaft und Kunst. Und dennoch kann der Mensch aus sich heraus durch sein eigenes Wirken nur eine gewisse geistige Höhe erreichen und so liegt das Zentrum des magischen Quadrates als Ergebnis eigener Anstrengung unterhalb des leuchtenden Gestirns.
Der Aufstieg über die Leiter mit den sieben Stufen erfolgt auf einer anderen Ebene, außerhalb des materiellen Gebäudes.
Das materielle Gebäude der Schöpfung als die Welt der Dualität findet seine Erfüllung in der Vier als der Ordnung des Magischen Quadrats, weshalb dieses magische Quadrat an diesem Bauwerk angebracht ist. Das ist vielleicht auch der Grund warum Dürer sich mit dem Magischen Quadrat, das schließlich nur ein einziges Detail im gesamten Stich darstellt, so ausgiebig beschäftigt haben muss. Erst wenn die eigene Arbeit getan ist und alle Möglichkeiten ausgeschöpft sind, kann der weitere Aufstieg jenseits der Welt alles Irdischen erfolgen.
So erscheint die in dieser Welt unerreichbare Perfektion im Einklang mit dem zweitbesten Magischen Quadrat, das Dürer für seinen Stich wählte. Die gespiegelte 5 in der zweiten Zeile könnte ein entsprechender Hinweis sein: Nimm die dritte Reihe nach oben über die zweite und die Göttliche Trinität steht über der Welt der Dualität. Bei der horizontalen Spiegelung dieser beiden Zeilen des Quadrates entsteht die perfekte Variante des Quadrats, die Dürer offensichtlich bewusst nicht für seinen Stich verwendet hat.
Die Magische Zahl 34 des Dürer-Quadrats verweist auf die Verbundenheit der Drei mit der Vier.
Zum Beispiel erfolgen innerhalb der beiden Drei-Tages-Zyklen der biblischen Schöpfungsgeschichte vier Schöpfungsvorgänge, jeweils einer an den Tagen eins und zwei sowie vier und fünf und jeweils zwei Schöpfungsvorgänge an den Tagen drei und sechs. Dieses eigentümliche Prinzip, d.h. die Besonderheit der Doppelung der Drei und damit die Verbundenheit der Drei mit der Vier kennen wir auch aus anderen Zusammenhängen. So ist zum Beispiel das Dritte in der Reihe der Tierkreiszeichen ein Doppeltes, die Zwillinge, also zwei. Häufig bezeichnet man die 34 als Magische Konstante der Alchymie und auch hier finden wir, dass aus den beiden primären Elementen Feuer und Wasser die beiden gemischten oder zusammengesetzten Elemente Luft und Erde entstehen. Dieses Prinzip erkennen wir auch in unserer Welt des Menschen, konkret als Mann, Frau und Kind. Auch hier ist die Drei, das Kind, etwas Doppeltes; es kann Sohn oder Tochter sein. Wir sehen also jeweils eine Dreiheit, welche durch eine Vierheit quasi nach außen tritt. Man könnte auch sagen, eine Manifestation vollendet sich in der Drei und erscheint in der Vier.
Wir können wohl annehmen, dass wenn Dürer sich alleine mit Magischen Quadrat so ausgiebig beschäftigt hat und sich bewusst für die zweitbeste Variante entschied, dass auch all die anderen Details nicht lediglich ästhetischen Gründen geschuldet sind. In der Zeit bevor Dürer die Melencolia I schuf, entwarf und überarbeitete er eine Sammlung von Reflexionen über das menschliche Wissen, die er mit den Worten begann: „Etwas zu sagen, das keine Traurigkeit bringt.“ In diesen unveröffentlichten Abschnitten schreibt Dürer, dass wir, obwohl es die Natur der Individuen ist, absolutes Wissen über alle Dinge zu begehren, „unfähig sind, zu einer solchen Vollkommenheit in der Wahrheit, der Kunst und der Weisheit zu gelangen“, […] „dass wir trotzdem nicht vollständig von der Weisheit ausgeschlossen sind, denn wenn wir unser Lernen durch Vernunft schärfen und uns darin üben, können wir dadurch auf korrekte Weise suchen, lernen, erkennen, und hierdurch zu verschiedenen Wahrheiten gelangen.“ Es scheint genau diese Erkenntnis von unseren begrenzten, aber dennoch großen Fähigkeiten zu sein, die die Traurigkeit aus den intellektuellen und kreativen Bestrebungen verbannt.
Zwar mögen wir die volle Bedeutung der Radierung niemals kennen, aber wir können sicher sein, dass sie viele von Dürers zentralen Interessen berührt: die Rolle des Künstlers als Schaffendem; die Beziehungen zwischen dem physischen, dem psychischen und dem spirituellen Bereich; das Studium der Welt der Natur; Mathematik; esoterisches Wissen und Selbsterkenntnis. In ihrem Wesen wurde die Melencolia Dürers Manifest dessen, was Karl Galle als „das Unwissbare wissen und das Unmachbare machen“ beschreibt.
Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim, dessen Werke Dürer gekannt hat, drückt es in seiner Occulta philosophia so aus:
“Zahlenquadrate, welche man die heiligen Planetentafeln nennt, und die sehr viele und große himmlische Kräfte besitzen, insofern sie jene göttlichen Zahlenverhältnisse, die nach den Ideen des göttlichen Geistes durch die Weltseele in die himmlischen Dinge gelegt sind, sowie die liebliche Harmonie der himmlischen Strahlen darstellen, nach Maßgabe der die übersinnlichen Intelligenzen bezeichnenden Bilder, die nicht anders als durch Zahlzeichen und Charaktere ausgedrückt werden können. Die materiellen Zahlen und Figuren haben in den Mysterien verborgener Dinge keine andere Bedeutung, denn als Repräsentanten formaler Zahlen und Figuren, die durch die Intelligenzen und Göttlichen Sephiroth, welche die Endpunkte der Materie und des Geistes nach dem Willen der Erhobenen Seele verbinden, regiert und bestimmt werden.”
06.01.2022
Dr. rer. nat. Alexander Crocoll
Bild und Text (c) AMORC
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Vita des Autors:
Dr. rer. nat. Alexander Crocoll, geb. 1966. Während seiner wissenschaftlichen Tätigkeit Publikation von Arbeiten zur Genetik molekularer Embryologie. Er beschäftigt sich seit frühester Jugend mit spirituellen Fragen, ist seit drei Jahrzehnten AMORC-Mitglied und arbeitet heute als Sekretär in der deutschen AMORC-Zentrale.
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