Schwelle des Himmels | Über Albrecht Dürers Melencholia
Albrecht Dürer zählt zu den größten deutschen Künstlern. Er war Maler, Graphiker, Zeichner, Mathematiker, Sprachwissenschaftler und Kunsttheoretiker. Dürer war tatsächlich ein Universalgelehrter vom Rang eines Michelangelo oder Leonardo da Vinci und brachte die italienische Renaissance nach Nordeuropa. Mit seinen Gemälden, Zeichnungen, Kupferstichen und Holzschnitten zählt er zu den herausragenden Vertretern dieser Epoche. Er erkannte frühzeitig die Möglichkeiten der Vervielfältigung durch Drucken und revolutionierte die Druckgraphik, indem er sie zu einer unabhängigen Kunstform erhob.
Heutzutage erscheinen Druckerpressen als antiquierte Technologie; aber als Albrecht Dürer 1471 geboren wurde, war in Europa das System von beweglichen Lettern gerade mal 35 Jahre alt. Johannes Gutenbergs Erfindung war die Innovation seines Zeitalters. Anstelle des Abschreibens ganzer Bücher in Skriptorien konnten Drucker einen einzelnen Block setzen oder eine Platte gravieren und so viele Exemplare drucken, wie sie wollten. Den Holzschnitt hat Dürer aus dem Dienst der Buchillustration befreit und ihm den Rang eines eigenständigen Kunstwerks verliehen. Wie den Holzschnitt, so perfektionierte und revolutionierte er auch die Techniken des Kupferstichs.
Dürer sah die Bedeutung der Druckgrafik darin, den eigenen künstlerischen Ruf zu verbreiten und durch den Vertrieb Einnahmen zu generieren. Benutzten die Italiener die Grafik zur Verbreitung ihrer Gemälde, so erhebt Dürer druckgrafische Blätter selbst zum Kunstwerk, durch deren Vertrieb neue künstlerische Entwicklungen schnell und gleichmäßig in ganz Europa Verbreitung fanden. Zu einer Zeit, in der die Kunst noch zum gemeinen Handwerk gezählt wurde, thematisiert Dürer die Wertigkeit der Kunst als intellektuelle Disziplin.
Das Bild Melencolia I aus dem Jahre 1514 zählt zusammen mit den Werken Ritter, Tod und Teufel und Der heilige Hieronymus im Gehäus zu den drei Meisterstichen Albrecht Dürers.
Dieses rätselhafte Werk zeichnet sich durch eine wunderbar komplexe und mehrdeutige Ikonographie und Symbolik aus und verschließt sich nicht zuletzt dadurch bis heute einer vollständigen Interpretation. Als einzige von Dürers Radierungen trägt die Melencolia einen Titel im Druck, zumal in einer eigenartigen Schreibweise.
Das Wort Melencolia bildet das Anagramm Caelo Limen, dessen lateinische Bedeutung wörtlich mit Schwelle des Himmels übersetzt werden kann. So erkennen wir, dass trotz unterschiedlicher Interpretationsmöglichkeiten der vielfältigen Symbole die Gravur im Hinblick auf Dürers Welt und Philosophie klar ist und Hoffnung auf spirituelle und intellektuelle Höherentwicklung vermittelt.
Die zentrale und wichtigste Figur ist eine geflügelte Gestalt. Dieser androgyne Engel steht nicht nur für die Melancholie, sondern auch für den Künstler. Melancholisch ist eines von den vier mittelalterlichen Temperamenten. Es erscheint meist als das am wenigsten erstrebenswerte Temperament, weil es für Depression, Apathie und sogar Wahnsinn verantwortlich sein soll. Und doch hatte melancholisch zu sein den Vorteil, dass dieses Temperament gewöhnlich mit den kreativsten und intelligentesten Individuen assoziiert wurde. Man nahm an, dass Zimmermänner, Mathematiker, Künstler und Grammatiker alle dazu neigten, melancholisch zu sein.
So ist es vielleicht auch Dürers Symbol des höheren Selbst eines jeden Menschen, zu dem es gilt, Zugang zu finden.
Stellt man das Werk in Beziehung zu den beiden anderen Meisterstichen, so stellen diese insgesamt drei unterschiedliche Lebensformen dar. Den mittelalterlichen Vorstellungen der vita activa des Ritters und der vita contemplativa des Hieronymus stellt Dürer eine dritte, möglicherweise modernere Lebensform gegenüber. Als eines seiner zahlreichen Selbstbildnisse betrachtet, steht die Melancholie für den Künstler, der anders ist als seine Mitmenschen, von einem tiefgründigeren Wesen. Sein Genie ist zugleich Segen und Fluch, da er dennoch die illusorische Natur dieser Welt überschreiten muss, ehe er zur wahren Kunst gelangt. So wird Melancholie auch als eine Voraussetzung für Kreativität verstanden.
Die zentrale Figur der Melancholie bzw. des Künstlers scheint untätig Gedanken zu wälzen, anstatt sich aktiv künstlerisch zu betätigen. Dieser Passivität gegenüber sitzt an ihrer Seite erhöht ein Putto, d.h. ein kindlicher Engel als Vermittler zwischen irdischer und himmlischer Sphäre. Beide Figuren berühren sich an ihren Flügeln und stehen somit über diese Schwingen, d.h. einen erhobenen Geisteszustand in enger Beziehung. Die Putte hält das Werkzeug des Graveurs, Symbol des Genius oder Daimons der Inspiration. Der Komet oder Lapis Exilis zielt als vom Himmel stammender Stein direkt auf den eifrig beschäftigten himmlischen Boten ‒ auf einem Mühlstein sitzend und schreibend oder zeichnend, und so möglicherweise das unerbittliche Mahlen der Zeit verdeutlichend. Vielleicht verspürt die zentrale Figur der Melancholie ein gewisses Unbehagen angesichts der Begrenztheit der eigenen Existenz und der eigenen Kunst, die nicht an das Göttliche heranzureichen vermag. Gerade deswegen gilt es, sich immer wieder auf dieses Höhere abzustimmen, um von dort Inspiration zu erlangen.
Melencolia I ist eine allegorische Komposition und eines der am häufigsten interpretierten Kunstwerke in der Geschichte.
Viele Kunsthistoriker, Philosophen und Psychologen sind der Ansicht, dass es keine einsichtsvollere und beständigere Studie des bekümmerten Geistes gibt als Dürers Stich Melencolia. So sollen Dürers Intellekt, Introspektion und sein unbeugsamer Perfektionismus ihn in einen Zustand von Melancholie geführt haben, oftmals als Depression missverstanden. Als psychologisches Selbstportrait betrachtet zeigt das Bild angeblich den furchtbaren Kampf von zu hohen Erwartungen und schwächender Trägheit, wenn exzessive Innenschau die Vorstellungskraft lähmt. Allerdings bezieht sich der Titel dieses Werkes in Anlehnung an die mittelalterliche Lehre der vier Temperamente eindeutig auf den Gemütszustand der Melancholie und nicht auf den des Phlegmatikers. Daher vermag auch die Tatsache, dass 1514 das Jahr gewesen ist, in dem Dürers Mutter starb, eine Wirkung auf Dürers Gefühle und auf den Zustand seines Geistes gehabt haben, aber doch allenfalls eine verstärkende und sicherlich nicht die auslösende.
Während sanguinische, cholerische und sogar phlegmatische Typen mit ihrem Leben vorankommen, scheint die Melancholie antriebslos nur dazusitzen, und dennoch steht dieses Gestimmtsein in Verbindung mit den kreativsten und intelligentesten Individuen. Daher sind deren Symbole um die Figur der Melencolia verstreut. Der androgyne Engel kann nicht fliegen, bevor nicht Kontemplation und Melancholie durch Impulse aus höheren Ebenen und den daraus resultierenden Genius der Tat transzendiert werden. So gilt es, zunächst alle eigenen Möglichkeiten auszuschöpfen, um sich daraufhin nach entsprechender Kontemplation und Meditation an die Schwelle des Himmels zu erheben, um von dort Inspiration und Impulse zur Tat zu erhalten, Einsicht und Weisheit.
In diesem Sinne sehen wir zum Beispiel auch den Hund nicht auf Grund einer Vernachlässigung durch die Untätigkeit der Melancholie als abgemagert. Vielmehr erscheint der als Hund dargestellte Intellekt durch dessen zuvor erforderliche Tätigkeit nun als ruhend, so dass der Mensch als dessen Herr sich zu höheren Ebenen des Geistes aufzuschwingen vermag. Falls Dürer tatsächlich jemals an Melancholie gelitten hat, müssten wir Jonathan Jones zustimmen, der über ihn sagte: „Aus seiner Melancholie heraus hat er Wunder hervorgebracht.“ Einige Erforscher der Renaissance-Periode behaupten, dass Dürer eine neue Interpretation der Melancholie vorschlug, als ein neues fünftes Temperament, nämlich das des Genies in einem durchaus modernen Sinn.
Treffender im Sinne der rosenkreuzerischen Geisteshaltung Dürers wäre die Melancholie als Quintessenz anzusehen,
als übergeordneten verborgenen Zustand, der die vier Temperamente überhaupt erst ermöglicht. So erscheint das Magische Quadrat auch weniger als eine inspirierende Flucht aus der Depression in das komplizierte logische Denken, das erforderlich ist, um es herzustellen. In diesem Sinne stellt dieser Stich vielmehr die Transzendierung oder Wandlung des melancholischen Zustandes dar. Bei der Ziffer im Titel könnte es sich daher um den Buchstaben I handeln und nicht um eine 1. Das I entspräche der Imperativ-Form des lateinischen Verbs ‚ire‘, das ‚weggehen‘ oder ‚sich hinweg bewegen‘ bedeutet. Bei dieser Lesart wird die Inschrift nicht zum Titel, sondern zu einem Befehl: „Melancholie, geh weg!“ und tatsächlich scheint sich die fledermausartige Kreatur zur linken Seite des Bildes zu entfernen. So könnte der Buchstabe I auf die erste der drei Arten von Melancholie hinweisen, die von dem deutschen humanistischen Schriftsteller Cornelius Agrippa von Nettesheim definiert worden sind.
In diesem Typus, der Melancholia Imaginativa, unterliegt der Mensch einem Zustand, in dem Imagination über Verstand oder Vernunft vorherrscht. Dürer war sehr belesen und wird die Werke von Ficino und Cornelius Agrippa durch die Verbreitung von gedruckten Büchern unter den Gelehrten Europas gekannt haben. Eine solche Inspiration für die Radierung ist durchaus plausibel, zumal sie Dürer in die Tradition der Rosenkreuzer stellt. Auch wenn man zu jener Zeit eher von Pansophie sprach, so ist doch überliefert, dass Dürer in Nürnberg aktiv an der Arbeit in einem ebensolchen Cirkel war. Er hatte durch Wissen und persönliche Erfahrung Weisheit und Einsicht erlangt und damit eine Meisterschaft dieser Kunst erreicht, um dieses vielschichtige Werk voller klassischer platonischer und pythagoreischer Symbolik mit Bezugnahmen auf Psychologie und Alchymie zu schaffen.
Das Werk Melencolia I spiegelt mit Sicherheit die kreativen und intellektuellen Entdeckungen zu jener Zeit in Dürers Leben.
Einige Gelehrte interpretieren die Symbole in Melencolia I als ihrer Natur nach hermetisch. John Reed interpretiert die Ikonographie als Offenbarung des Wissens über den Prozess sowohl der spirituellen als auch der praktischen Alchymie. Natürlich kann die von Dürer dargestellte Melancholie ganz allgemein als die Figur des alchymischen Suchers nach dem Stein der Weisen interpretiert werden. Allerdings sind die zahllosen Hinweise dem nicht mit der entsprechenden Symbolik vertrauten Menschen heute kaum mehr zugänglich. Allein in der Melencholia sind mehr als 500 offene und versteckte Symbole enthalten und Kenner behaupten, dass besondere Geheimnisse in Dürers Gemälde und Drucke eingebettet sind.
Philip Ball hingegen ist der Ansicht, dass in Dürers Zeit für in der pansophisch-rosenkreuzerischen Überlieferung Stehende nichts Verborgenes auf diesem Bild gewesen sei. Und so sind die Hinweise auf das alchymische Transzendieren des melancholischen Zustandes auch heute für jene gegenwärtig, die sie erkennen, und die Melencolia I erscheint als revolutionäre Erklärung der geheimnisvollen, zweifachen Natur des Menschen. Über die inneren Ebenen vermag sich der Mensch in kosmische Bereiche zu erheben, um von dort Inspiration zu erhalten und sich dem Göttlichen anzunähern. Wem diese Geisteshaltung vertraut ist, dem fällt es nicht schwer, dies in Dürers Melencolia bildlich dargestellt zu erkennen. Wir alle mögen unsere Erfahrung bei unserer individuellen Interpretation dieses reichhaltigen und komplexen Werkes mit einbringen, was im Gegenzug unser emotionales, intellektuelles und spirituelles Leben bereichert.
19.12.2021
Dr. rer. nat. Alexander Crocoll
Bild und Text (c) AMORC
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Vita des Autors:
Dr. rer. nat. Alexander Crocoll, geb. 1966. Während seiner wissenschaftlichen Tätigkeit Publikation von Arbeiten zur Genetik molekularer Embryologie. Er beschäftigt sich seit frühester Jugend mit spirituellen Fragen, ist seit drei Jahrzehnten AMORC-Mitglied und arbeitet heute als Sekretär in der deutschen AMORC-Zentrale.
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