Das Nouminose – die höheren Ebenen der Realität
Das Nouminose ist jene Essenz, die den Ursprung aller sichtbaren und fühlbaren Manifestationen bildet. Diese Realität hinter den Dingen können wir mit unseren äußeren Sinnen nicht erfassen. Der Mensch kann diese höheren Ebenen der Realität nur dadurch erfahren, indem er sich innerlich harmonisch auf sie abstimmt. Gelingt uns dies, dann ist das Denken seines Amtes enthoben und ruht. Das Innere Ich ist erhoben und in dieser vollkommenen Stille von Gott ergriffen. Alles Sein ist aufgeheitert.
Versuchen wir, uns von unserer üblichen auf das Äußere gerichteten Identifikation zu lösen bzw. diese Identifikation auszudehnen und zu erweitern ‒ über unseren Leib, unsere Gefühle und unsere Vernunft hinaus. Versuchen wir, unseren Blick zu erweitern bis jenseits der Grenzen des irdischen Exils und befassen uns mit der Welt des Nouminosen.
Nodin greift im 8. Jh. n. Chr. ein Thema philosophischer Natur auf, das alle Probleme der menschlichen Existenz sowie der relativen materiellen Welt, in der sich der Mensch entwickelt, zusammenfasst. Die Thematik selbst geht auf den altgriechischen Philosophen Empedokles zurück. Der Mystiker Nodin ist bei den Rosenkreuzern bekannt für seine Definition der Gesetze über die Manifestation von NOUS in der belebten und unbelebten Materie. In einem seiner Manuskripte schreibt er…
„Der Mensch ist im Zustand des Exils unempfindlich für die Noumena, Nouminose der Göttlichen Realität. Für die Dauer seiner Inkarnation ist sein Bewusstsein den Phänomenen der irdischen Aktualität unterworfen.“
Wir wollen diese Aussage genauer betrachten, um uns ihrer mystischen Bedeutung anzunähern. Wie bei vielen Ausdrücken bei Nodin ist das Wort ‘noumenon‘ griechischen Ursprungs. Die Noumena, Nouminose sind ‒ wörtlich übersetzt ‒ die Dinge an sich. Im philosophischen Sinne bedeutet das Noumenon das Gedachte. Im mystischen Sinne sollte man vielleicht besser von dem Erkannten sprechen, wohl wissend, dass im Hebräischen, der Sprache der Bibel, erkennen so viel bedeutet wie vereinigen. Die Etymologie des Wortes reflektiert letztlich den NOUS (griechisch für Geist). Zu Grunde liegt auch das griechische Wort ‘noein‘ (denken im Sinne von erkennen). Der Ausdruck Noumenon wird in der Regel als Gegensatz zum Begriff Phänomen (bzw. Phainomenon) verwendet.
Wo die Götter wohnen
Platon, ein Schüler von Sokrates, soll diesen Begriff im 5. Jh. n. Chr. erstmals in dem philosophischen Sinn verwendet haben, auf den sich auch die Lehren der Rosenkreuzer beziehen. Er sagte: Das Noumenon, Nouminose ist das mit dem Geist zu Erkennende, im Gegensatz zu dem mit den Augen zu Sehenden. Platon bezeichnete damit jene Essenz, die seiner Ansicht nach den Ursprung aller sichtbaren und fühlbaren Manifestationen in der Welt der Erscheinungen bildet.
Platon betrachtete alle materiellen Dinge und jedes lebende Wesen als einen irdischen Ausdruck eines immateriellen Noumenon. Für ihn waren also die Sonne, die Planeten, die Ozeane, Berge ‒ alle Dinge und Lebewesen ‒ Materialisationen einer noumenalen Realität. Und diese Realität hinter den Dingen konnte man nicht mit den äußeren Sinnen erfassen. Das Ziel allen mystischen Suchens bestand für Platon darin, „sich in die Welt der Noumena, Nouminose zu erheben, und zwar dorthin, wo die Götter wohnen“, wie er sich ausdrückte. Diese symbolische Aussage vermittelt einen wunderbaren Eindruck von der Bedeutung, die Platon der Spiritualität beimaß.
In der Terminologie der Rosenkreuzer verwenden wir das Wort Noumenon (Nouminose) nur selten. Beziehen wir diesen Begriff jedoch auf unsere Lehren, dann entsprechen die Noumena jenen höheren Kräften, die im Raum und in allen materiellen Formen schwingen, seien diese nun belebt oder unbelebt. Das wiederum bedeutet, dass die noumenale Realität aller materiellen Manifestationen nichts anderes ist, als deren reine Schwingungsnatur. Es handelt sich hierbei um eine Verbindung aus positiven und negativen Schwingungen der immateriellen Ebene, die ihren Ursprung im Äther haben, in Atziluth oder wie auch immer man diese Ebene bezeichnen will.
Es ist uns nicht möglich, diese schwingende Essenz als solche sinnlich wahrzunehmen, denn sie ist immateriell. Folglich erlauben es weder unsere äußeren Sinne noch unsere subjektiven Fähigkeiten, diese Noumena zu erkennen. Warum aber ist das so? Wir nehmen die sog. Außenwelt nur mit Hilfe der Sinnesorgane wahr und interpretieren diese Wahrnehmungen auf Grund von Denk- und Handlungsstrukturen. Somit leben wir in einer Welt der sinnlichen Illusionen und können die wahre Natur unserer irdischen Umwelt nicht erkennen. Darum sagt auch der große Mystiker Jakob Böhme:
„Die Welt ist eine Illusion“
Zum besseren Verständnis dieser abstrakten Aussage wollen wir uns ein paar Beispiele anschauen:
Wenn wir eine Landschaft betrachten, sehen wir Himmel, Bäume, Felder, Tiere und all die anderen zugehörigen Erscheinungen. Diese haben für uns eine greifbare Realität, denn ihre materielle Existenz steht für uns außer Zweifel. Dass wir dieses jedoch dergestalt wahrnehmen, beruht auf den sinnlichen Eindrücken, die sie in unserem Bewusstsein auslösen. Wir können also nicht sagen, was wirklich außerhalb von uns ist oder was die schwingungsmäßige Essenz ist. So ignorieren wir vollständig die noumenale, Nouminose Natur eines Steins, der Bäume, der Vögel. Was wir von ihnen wissen, beschränkt sich lediglich auf die mentale Interpretation unserer sinnlichen Wahrnehmung.
Ebenso verhält es sich mit den Klängen, die wir im Verlauf eines Tages hören, denn es ist uns nicht möglich zu erkennen, was sie als Noumena sind. Wir sind unfähig zu erkennen, als was sie im Absoluten bestehen. Wir wissen nichts über die wirkliche Natur eines Klanges. Die einzige Vorstellung, die wir hier davon haben, beschränkt sich auf den Klang, den unser Ohr wahrzunehmen scheint. Auch mit den Gegenständen ist es so. Die Tatsache des Berührens eines Gegenstandes erlaubt es uns nicht, seine wahre Wirklichkeit zu erkennen, sondern nur, dessen äußere Aspekte wahrzunehmen. Dies gilt entsprechend für den Geruch und den Geschmack, d.h. also für die Sinneswahrnehmungen aller Erscheinungen. Denn all das, was hinter der Auslösung der sinnlichen Wahrnehmung steht, überschreitet den sinnlichen Eindruck, der von unserem Bewusstsein wahrgenommen und interpretiert wird.
Jenseits der Grenzen von Zeit und Raum
Für die antiken griechischen Philosophen bildet das Noumenon also das, was Nodin als sogenannte „Göttliche Realität“ bezeichnet. Die „Göttliche Realität“ ist das spirituelle Gegenstück zur materiellen Welt. Die griechischen Philosophen dachten, dass der Mensch überhaupt nicht in der Lage sei, die Göttliche Realität mit seinen sinnlichen Fähigkeiten wahrzunehmen, weil diese Realität aus Schwingungen bestehe, deren Frequenz auf die physischen Sinne keinen Reiz auslösen. Und es ist schon so, dass wir die Noumena, Nouminose mit den Sinnesorganen nicht wahrnehmen können.
Diese philosophische und mystische Vorstellung stimmt vollkommen mit den Aussagen der Rosenkreuzer über die unsichtbaren Ebenen der Schöpfung überein. Die Meister unseres Ordens vertreten die Ansicht, dass der Mensch Kosmische Ebenen nur dadurch zu erfahren vermag, indem er sich selber innerlich harmonisch auf sie abstimmt. Es ist sicher, dass eine solche Harmonisierung unmöglich mit den Sinnesorganen erreicht werden kann. Für eine solche Abstimmung muss man die Fähigkeiten der Seele entfalten, denn nur so gelingt es, die Begrenzungen von Raum und Zeit zu überschreiten.
Mystische Schau
Wenn es uns wirklich einmal gelingt, eine Abstimmung auf die Welt der Noumena, Nouminose harmonisch herbeizuführen, schwingt unser ganzes Wesen in Resonanz mit dem spirituellen Gegenstück der Dinge und Wesen, die wir in diesem harmonischen Zustand wahrnehmen, denn wir haben hier dann den Eindruck der reinen Einheit mit der Essenz der Dinge oder Wesen. Dies ist auch der Grund dafür, dass wir im Verlauf besonders tiefer Meditationen das Gefühl haben, das zu sein, was wir im Bewusstsein “sehen“. Wenn uns unser tiefes inneres Gewahrsein einen Baum oder einen Vogel bringt, so “sind“ wir dieser Baum oder dieser Vogel.
Normalerweise identifizieren wir uns vollständig mit jenen Phänomenen, die unser lebendiges Bewusstsein als Eindrücke wahrnimmt, d.h. mit der Welt der Erscheinungen. Es gilt also eine Art psychisches Gewahrsein zu entwickeln und so jene Ebene zu erreichen, auf der die Sinneseindrücke nicht in einzelne Kanäle aufgegliedert sind, wie dies bei unseren äußeren Sinnen der Fall ist. Wenn ein Meditierender beispielsweise während seiner Meditation Weihrauch oder den Duft einer Rose wahrnimmt, so “ist“ er dieser Weihrauch oder dieser Duft, zumindest nähert er sich diesem an.
Früher oder später werden wir alle diesen Zustand in seiner ganzen Fülle erleben können. Dann werden wir auch wirklich verstehen, warum die Rosenkreuzer sagen, dass die Vielfalt zur irdischen Welt gehört und dass auf der spirituellen Ebene einzig die Einheit existiert. Es ist wichtig zu verstehen, dass im Kosmos alles in Einem ist und dass nichts unabhängig von diesem Einen wahrgenommen werden kann.
„Die Göttliche Realität ist Eins.
Alles, was ist, kommt aus Ihr und wird im Kosmos zur Einheit.“
Plotin,der griechische Philosoph beschreibt im 3. Jh. n. Chr. dieses “Alles in Einem“ im Kosmos mit folgenden schönen Worten:
„Der Mensch ist mit dem Letzten verschmolzen und bildet mit ihm eine Einheit. Die Dualität existiert nur in der Trennung. Aus diesem Grunde überschreitet eine solche Vision alle Beschreibungen; denn wie könnte ein Mensch die Eindrücke des Letzten wie ein getrenntes Ding beschreiben, nachdem er erfahren hat, dass er mit Ihm vereint ist? Das Denken ist seines Amtes enthoben und ruht, und das Innere Ich ist erhoben und in dieser vollkommenen Stille von Gott ergriffen; alles Sein ist aufgeheitert.“
Wenngleich die materielle Welt ihrem spirituellen Gegenstück, der Göttlichen Realität, entspricht, so ist die materielle Welt dennoch lediglich ein Ausfluss des Göttlichen. Und dieser Ausfluss, diese Emanation ist natürlich nicht Gott selbst, denn Gott als Oberste Intelligenz ist absolut unerkennbar, unvorstellbar und steht über der gesamten Schöpfung. Es ist uns als inkarnierte Wesen unmöglich, Gott zu begreifen. Aus diesem Grund bezeichnen wir Ihn in unseren Lehren auch als den “Gott unseres Herzens, Gott unseres Verstehens“.
Die Art, wie wir uns hier auf Erden eine Vorstellung von Gott machen können, ist meist mehr gefühlsmäßig als intellektuell, denn unsere Art der Vorstellung von Gott ist im Allgemeinen ein Ausdruck unserer Gefühle, die wir empfinden, wenn wir an IHN denken. Die Qabalisten benutzten eine sehr schöne Formulierung, um auszudrücken, dass Gott für uns unbegreiflich ist:
„Gott, Elohim, Allmächtiger, der jenseits und über den drei Schleiern des Nichts thront, dessen Himmel über der Erde sind, dessen Gedanken nicht unsere Gedanken sind, dessen Wege nicht unsere Wege sind.“ …
Die Meisterung des Lebens
In einem Augenblick nach unserer Transition, d.h. dem sog. Tod auf der irdischen Ebene, nähern wir uns Gott ein wenig, denn unsere nun vom physischen Körper befreite Seelenpersönlichkeit kann sich in Richtung zu IHM hin erheben. Doch einem Aufgehen im Göttlichen entspricht das nicht, denn aus der Perspektive der Rosenkreuzer kann dies erst geschehen, wenn die Seelenpersönlichkeit auf dem irdischen Plan in ihrem Ausdruck Vollkommenheit erlangt haben wird. Und diese Vollkommenheit bedeutet mit anderen Worten: Die „Meisterung des Lebens“.
Vorher vereinigt sich unsere Seelenpersönlichkeit zwischen den Inkarnationen jeweils mit dem ihrem Stand der Entwicklung entsprechenden Bereich auf der Kosmischen Ebene ‒ zusammen mit weiteren Seelenpersönlichkeiten. Und gerade so, wie der Umkreis von seinem Zentrum entfernt ist, so sind auch die kosmischen Ebenen im Äußeren ‒ so erhaben sie auch sein mögen ‒ noch immer von Gott entfernt und erstrahlen lediglich als Emanationen des Innersten Kreises um das Zentrum Gottes.
Der Zustand des Exils, den Nodin in einem seiner Manuskripte anspricht, stellt nun den Zustand dar, in dem sich die Seelenpersönlichkeit während ihrer Inkarnationen auf dem irdischen Plan befindet. Und dieser Zustand erschwert es natürlich besonders, die göttliche Wirklichkeit wahrzunehmen oder auch, um es mit den Worten der griechischen Philosophen zu sagen, Kenntnis der noumenalen Welt zu erlangen. Wie wir festgestellt haben, ist eine solche Wahrnehmung nur mit unsern seelischen Fähigkeiten möglich und bedingt eine ausreichend hohe Entwicklung unserer Persönlichkeit.
Früher oder später machen wir alle ein erstes Mal im Verlaufe einer unserer Inkarnationen die Erfahrung dieser Realität und erblicken darin die wunderbarste Reflexion Gottes, die wir bis dahin mehr oder weniger bewusst zu erkennen suchten. Durch eine solche Erfahrung erhalten wir unsere Initiation in die wahre innere Wirklichkeit und nehmen so teil am Glanz der Schöpfung. Als Rosenkreuzer schöpfen wir dann aus dieser Erfahrung die Kraft und die Inspiration, unaufhörlich dem nachzustreben, was wir unter dem Symbol des Rosenkreuzes begonnen haben. So gelingt es uns, das Leben ausgeglichen und mit Heiterkeit zu meistern und freudvoll am Großen Werk mit zu wirken.
28.01.2019
Dr. rer. nat. Alexander Crocoll
Bild und Text (c) AMORC
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Vita des Autors:
Dr. rer. nat. Alexander Crocoll, geb. 1966. Während seiner wissenschaftlichen Tätigkeit Publikation von Arbeiten zur Genetik molekularer Embryologie. Er beschäftigt sich seit frühester Jugend mit spirituellen Fragen, ist seit drei Jahrzehnten AMORC-Mitglied und arbeitet heute als Sekretär in der deutschen AMORC-Zentrale.
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