Was ist Kindheit? Kritische Betrachtung

lachen Junge boy

Was ist Kindheit lachen Junge boyWas ist Kindheit?

„Kinder sind heute Waisen mit Eltern.“
(Michael Hüter)

Der Historiker Michael Hüter ist einer der großen Mahner, die unermüdlich, gesellschaftskritisch und belegt mit vielen Zahlen die fortschreitende Zerstörung der Kindheit beschreiben: Jedes zweite Kind in Europa weise eine chronische Krankheit auf. Vierzig Prozent der Kinder gingen mit Angst in die Schule. Jedes vierte Kind brauche irgendeine Therapie. Und die Selbstmordrate bei Jugendlichen habe sich in den letzten Jahren in den Industrienationen vervierfacht. Auf diesen kollektiven Kindheitsalptraum, wie ihn Hüter in seinem Vortrag „Evolution durch Liebe“ beschreibt, haben vor ihm schon viele Andere hingewiesen.

Rainer Böhm, Kinder- und Jugendarzt, nimmt in seinem bereits 2012 in der FAZ erschienen Artikel „Die dunkle Seite der Kindheit“ kein Blatt vor den Mund: Kleinkinder dauerhaftem Stress auszusetzen sei unethisch, verstoße gegen Menschenrecht und mache akut und chronisch krank. Das Wissen um die extrem erhöhten Kortisolwerte bei Kleinkindern in Krippenbetreuung hat jedoch weder die Bundesregierung noch die einschlägigen Wirtschaftsverbände daran gehindert, die Erhöhung der Anzahl außerfamiliärer Betreuungsplätze zum Wahrzeichen moderner Familienpolitik zu machen.
„Risiken und Nebenwirkungen der deutschen Krippenoffensive“ wurden einfach unter den Teppich gekehrt.

Bereits 2007 hatte die Deutsche Psychoanalytische Vereinigung (DPV) in ihrem Memorandum zum Krippenausbau Stellung bezogen: es sei Forschungs- und Erfahrungswissen – und keine Ideologie – dass für die Entwicklung eines kindlichen Sicherheitsgefühls, für die Entfaltung seiner Persönlichkeit und für die seelische Gesundheit eine verlässliche Beziehung zu den Eltern notwendig ist.

Gerade in den ersten drei Lebensjahren sei die emotionale und zeitliche Verfügbarkeit von Mutter und Vater von großer Bedeutung.

Doch hat der politische Feminismus es hervorragend verstanden, den jungen Frauen den Dienst an der Wirtschaft immer wieder schmackhaft zu machen. Bascha Mika (ehem. TAZ-Chefredakteurin) hatte gar in ihrem Buch „Die Feigheit der Frauen“ (2011), den Frauen selbstverschuldete Unmündigkeit vorgeworfen, wenn sie als Mutter der „Faszination traditioneller Rollen“ erliegen würden. Dass eine Feministin und Nicht-Mutter die biologisch begründete Mutterschaft als Rolle abwertet, ist vielleicht individuell biographisch noch nachvollziehbar, dass allerdings so viele junge Mütter diesem Narrativ hinterherrennen, ist bis heute eine mehr als fragwürdige Entwicklung, in dessen Abgründe dann 2016 das Buch „die Abschaffung der Mutter“ (Bronsky, Wilk) sich vor wagte.

Der schön geredete Begriff von der „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ als Leitbild deutscher Familienpolitik hatte jedoch eine magische Sogwirkung, in der die Bedürfnisse von Kindern einem gefräßigen Kapitalismus mehr und mehr geopfert wurden und werden. Ja, es gab immer wieder hier und da einen Aufschrei, z.B. das 2014 erschienene Buch „Die Alles ist möglich – Lüge: Wieso Familie und Beruf nicht zu vereinbaren sind“ (Garsoffky, Sembach) und das 2014 erschienene Buch „Vater, Mutter, Staat: Das Märchen vom Segen der Ganztagesbetreuung“ (Stadler), sowie „Kinder brauchen Mütter: Die Risiken der Krippenbetreuung“ (Götze), einschließlich meines eigenen Versuches 2015, mit dem Buch „Die verkaufte Mutter“ die Vereinbarkeitsillusion zu entlarven.

Doch das Wachstumsmonster fraß sich weiter durch die Kinderzimmer, bis es sogar politisch korrekt war,

24/7-Kitas (den ganzen Tag, die ganze Woche) auf die Agenda zu setzen! Denn schließlich müssten ja auch Schichtarbeiter Zeit zum Arbeiten haben… dass die Politik selbst die Familienarbeitszeit der heiligen Kuh des Arbeitsmarktes opferte, davon sprach niemand.

Der mahnenden Stimmen gab es Viele! Und auch wenn heute Michael Hüter den „Muttermangel“ als „kollektiven Alptraum“ bezeichnet, ist eine öffentliche Debatte über dieses Drama gesellschaftlicher Entwicklung noch lange nicht salonfähig. Erst im September 2021 wurde der Anspruch auf eine Ganztagesbetreuung für Kinder im Grundschulalter im Parlament verabschiedet. Dieses sog. „Ganztagsförderungsgesetz“ stelle einen notwendigen Baustein dar, da die ganztägige Betreuungssicherheit im Übergang von der Kita in die Grundschule immer noch bedroht sei. Betreuungssicherheit entsteht also nur, wenn der Staat sie institutionell gewährleistet? Diese Vereinnahmung der Betreuung von Kindern durch staatliche Strukturen wird nun wieder sehr erfolgreich – wie 2008 mit der Krippenoffensive bereits vollzogen – als einzig lichtvolle Lösung für die durch Doppel- und Dreifachbelastung völlig überforderten Mütter und Eltern vor gedacht.

„Die Eroberung der Kindheit durch die Schule als den alles umfassenden Ort, an dem Kindheit stattfindet, kulminiert in der Ganztagesschule.“
(Norbert Blüm)

Doch wider dieser Liason von Kindheit und Schule gab es bereits 2012 eine gewichtige Stimme an der Spitze vieler Mahner. Norbert Blüm hatte als ehemaliger Arbeitsminister in der ZEIT einen äußerst klugen Artikel „über die Enteignung der Kindheit und die Verstaatlichung der Familie“ geschrieben. In Kenntnis politischer Machtstrukturen war es ihm ein großes Anliegen, die Unterordnung der Familien unter die Wirtschaft und in Folge davon den schulischen Imperialismus anzuprangern. Blüms Artikel „Freiheit!“ wurde zur Streitschrift, weil keiner wie er es wagte, als politische Figur in der Öffentlichkeit Kindheit als etwas Kostbares und Unwiederbringliches zu beschreiben. Kindheit war für ihn der „Raum und die Zeit der abenteuerlichen Erkundung der Welt und ihrer Geheimnisse zusammen mit Spielkameraden und Cliquen und Verschworenen, dazu noch auf eigene Gefahr“.

Kindheit war für ihn ein Abenteuer, das verloren zu gehen drohte.

Würde Blüm heute noch leben, er wäre vielleicht die Lichtfigur der heutigen Freilerner-Bewegung, denn auch er wetterte gegen die Allzuständigkeit der pädagogischen Experten, die lebenslange Schulbank und die Wissensgesellschaft als Inbegriff des Fortschritts und wusste Praxis und das Leben selbst als den besten Schulmeister.

Die Verwissenschaftlichung des Lebens hat sich selbst ad absurdum geführt. Das Paradigma der frühe Bildung hat die Kitas bereits verschult und die Kindheit verkopft. Kleine vier oder fünfjährige Erwachsene erklären uns heute ohne Augenzwinkern, dass die Kita gut sei, da Mama und Papa ja arbeiten müssten… wie sie ihr Potential darstellen und sich demokratisch verhalten. Ganz nebenbei gehören noch Umweltschutz und Sexualerziehung zu ihrem Alltag. Denn diese Welt ist bedroht und sie ist gefährlich. Man muss frühzeitig wissen, wie man sich in ihr verhält, wer die Bösen sind und wie man Grenzen setzt. Seit kurzem ist diese Welt noch gefährlicher denn je…

Doch wie fühlt sich ein Kind, dass schon im Kleinkindalter sein Verhalten kontrollieren und das Böse von Angesicht zu Angesicht gelehrt bekommt?

Welches Vertrauen in sein Leben und in seine eigene Wahrnehmung kann es dann noch entwickeln? Muss es denn nicht erst mal Ankommen dürfen in dieser Welt, sich zurecht finden und diese erforschen dürfen? Mit solchen Fragen werden wir schnell realisieren, dass ihre Beantwortung die Reflexion des eigenen Welt- und Menschenbildes einfordert. Die Bildungsideologen bilden das Kind, weil es wohl von sich aus einer unbeschriebenen Festplatte gleicht, die mit Blick auf eine immer komplexer werdende Erwachsenenwelt möglichst viele Informationen aufnehmen muss und diese möglichst früh.

Das Resultat unserer Wirtschafts- und Wissenschaftsgläubigkeit erreicht das kleine Kind heute unmittelbar und ohne Reflexion seiner Bedürfnisse. Diese distanzlose Konfrontation des kleinen Kindes mit einer bereits an ihrer Gier erkrankten Welt ist nicht nur eine Überforderung der kindlichen Seele sondern vereinnahmt das noch wahre Potential des Kindes mit Gedanken von gestern.

Denn Kinder kommen aus der Zukunft.

Sie tragen ihr Licht für eine Welt, in der sie als Erwachsene mitgestalten und heilen wollen. Dafür brauchen sie das Recht auf ihre eigene Kindheit! Denn Kinder sind eben keine noch unbeschriebenen Festplatten, die möglichst schnell mit möglichst viel Aufklärung und Informationen geprägt werden sollten. Und vor diesem Erwachsenenübergriff sind übrigens auch viele wohlmeinende Eltern nicht gefeit. Kinder brauchen Schutz in ihrer Andersartigkeit, die sie aus einer jenseitigen Welt mitbringen. Die Reinheit, Zeitlosigkeit und Freude, die sie ausstrahlen, können uns davon erzählen. Wir sind immer berührt, wenn wir kleine Kinder sehen. Wer in uns erlaubt es, ihre faszinierende Präsenz mit unseren Gedanken zu verdunkeln?

„Man muss den Erwachsenen als Erwachsenen und das Kind als Kind betrachten.“
(Jean-Jacques Rousseau)

Die vielleicht folgenreichste der pädagogischen Einsichten Rousseaus besteht darin, dass er Kindheit als Lebensphase eigenen Wertes anerkennt. Und dass man sich davor hüten solle, „stets den Erwachsenen im Kinde“ zu suchen. Das Kind solle seine eigenen Erfahrungen machen und der in der Erwachsenenwelt herrschenden Hektik entzogen werden – in der Kindheit gelte es, Zeit zu verlieren, nicht Zeit zu gewinnen.

Welch wunderbarer philosophischer Ansatz, der das Erleben des Kindes aus der Sicht des Kindes versucht zu verstehen.

Ein kleiner Mensch, der eben noch nicht geprägt ist, vom Denken, Fühlen und Handeln anderer Menschen, der noch frei und ganz offen in diese Welt schaut. Diese Kostbarkeit des Staunens über die kleinste Kleinigkeit in dieser Welt, über die Ameise, die den Brotkrumen in ihren Bau trägt oder den Sonnenstrahl, der sich in einem Wassertropfen spiegelt, über das Blatt im Wind oder die köstliche Himbeere scheint mir heilig. Denn sie ist ein Relikt aus einer Welt, in der wir nicht das Wissen über sie als einzige Erkenntnisgrammatik verstehen.

Eine Welt, in der die Offenbarung der Schöpfung noch einem Wunder gleicht, das weit mehr verspricht als unser Verstand je ermessen kann. In dieser Welt lebt das Kind, erforscht sie voller Freude, im eigenen Tempo und mit ganz eigener Neugier und Phantasie. Dieser Wille, die Welt zu erforschen, sie selbst zu begreifen und ergreifen, sich ihrer zu bemächtigen, ist eine Grundvoraussetzung für die wahre Selbstheit im Kind. Es fühlt sich in Verbindung mit dieser Welt, weil es selbst die Erfahrung an ihr machen darf. Die Welt wird so zur Heimat, in der es wirksam sein kann und seiner selbst bewusst wird.

ICH-Beheimatung, ICH-Wirksamkeit und ICH-Bewusstsein sind die drei grundlegenden Schritte, die dem Kind das Ankommen ermöglichen.
Für diese SELBST-Erfahrung braucht es Schutz. Schutz vor zu vielen Eindrücken von Außen, vor allem Eindrücken, die aus einer künstlichen und toten Umwelt kommen, sei es zu viel Lärm, grelles Licht, künstliche Bildschirme oder zu viel Spielzeug, genauso wie Schutz vor zu vielen Gedanken und Anforderungen von Menschen, die es bilden möchten.

Kindheit ist der Ort, an dem ich noch voller Vertrauen als Held oder Heldin meine eigene Geschichte schreibe.
(Sabine Mänken)

Jede Form von Angst zerstört dieses Vertrauen.

Jede kommunizierte Angst zieht das Kind aus einer möglichen Selbstermächtigung zurück und hindert es, anzukommen in seiner eigenen Erfahrungswelt. Entscheidend ist das Vorbild, das wir selbst sind und an dem das Kind sich aufgrund seiner Nachahmungskräfte orientiert. Denn das Kind ist vor allem in den ersten Jahren, aber im Prinzip bis zum Eintritt der Vorpubertät an den Menschen in seinem Umraum orientiert und ahmt sinnvolle und sinnlose Haltungen, Gedanken und Handlungen nach und speichert sie.

So entsteht Prägung und Sozialisierung, angefangen beim Medienkonsum, der Art und Weise, wie Erwachsene sich streiten oder wahrhaftige Gespräche miteinander führen, bis hin zur Geste des Belehrtwerdens, die es natürlich auch aufnimmt und später weiter gibt. Nicht „du musst jetzt DANKE sagen“, ist das, was das Kind zu einem dankbaren Menschen macht, sondern das Vorbild eines aus dem Herzen zu tiefst dankbaren Menschen. Nicht das Wissen in einem schlauen Buch oder Film ist das, was das Kind zu einem intelligenten Menschen macht, der auch komplexe Vorgänge durchschaut und löst. Sondern die Erfahrung sich aufeinander beziehender sinnvoller Handlungsabläufe, die es selbst nachahmen und ausprobieren kann.

Doch die Nachahmung als ein wesentliches Entwicklungsprinzip der Kindheit fordert uns alle heraus.

Sie fragt nach den Gedanken, Worten und Taten der Erwachsenen selbst und wie weit diese bereit sind, Lebensführung und Umraumgestaltung nachahmungswürdig zu verantworten, so dass Kindheit eine von Glück, Freude und Staunen durchzogene Erfahrung werden kann, in der sich ihnen diese Welt als eine gute, schöne und wahre offenbart. Denn die Frage nach dem Guten, Schönen und Wahren war seit jeher eine selbsterkennende Orientierung, von der sich jeder berühren lassen darf. Dann brauchen wir auch nicht mehr zu fragen, ob Krippe, Kita und Ganztagesschule richtig oder falsch, gut oder schlecht für Kinder sind, wir brauchen nicht unzählige teure wissenschaftliche Studien, um zu beweisen, das kleine und größere Kinder auch selbstlos spielen wollen und Abstand brauchen von dieser aufs Unzumutbare beschleunigten Erwachsenenwelt.

Mögen wir nicht vergessen, dass wir alle mitverantwortliche Kulturgestalter sind, die in ihrer Art zu leben und zu sein Vorbild für eine glückliche Kindheit werden können. Dazu gehört es, dass wir Großen wieder das Spielen lernen, das Ausprobieren und unser Leben kreativ und schöpferisch gestalten wollen, dass wir Lust haben, unser Leben zu erforschen und es SELBST zu ergreifen. So wird das magische Geheimnis der Kindheit zum Entwicklungsauftrag für uns Erwachsene!
Und diese Weisheit ist nicht neu:

„Wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen.“
(Matthäus 18,3)

08.10.2021
Sabine Mänken

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Mütter der Neuen Zeit
von Sabine Mänken

Selbstbestimmt Mutter sein
Die Fremdbetreuung bereits von Kleinstkindern scheint das »Normale« zu sein. Sie wird uns als notwendige Förderung des Kindes suggeriert. Doch ist dies wirklich die Ultima Ratio? Dieses Buch stellt die Erfahrungen und Beobachtungen von jungen Müttern in den Vordergrund, die ihre Kinder in den ersten Jahren selbst betreuen. Sie folgen ihrer inneren Stimme, ganz im Bewusstsein ihrer Aufgabe und des finanziellen Verzichtes. Sachinformationen zwischen den biographischen Berichten ergänzen die komplexe Thematik der Selbstbetreuung….
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Sabine MaenkenSabine Mänken
ist Mutter von drei Kindern und Nonna einer Enkeltochter, Dipl. Volkswirtin und Seelenwegbegleiterin auf Grundlage der biographischen Rhythmen, freie Autorin und Netzwerkerin. Sie hält Vorträge und Retreats.
Von 2017 bis 2019 war sie stellv. Vorsitzende des Verbandes Familienarbeit.
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