Eine Begegnung mit der Schnitterin
Weich fallen Schneeflocken aus dem Bett der Holle auf uns hernieder. Die Luft ist klar. Am Tag knackt das Eis auf den Seen, in der Nacht stürmen Winde um Haus und Baum. Mutter Erde hütet das Leben in ihrem Leib. Krähen zerreißen hin und wieder die Stille. Und ein Zauber liegt in der Luft. Komm, trinken wir einen Tee, und hast du ein klein wenig Zeit, so lausche, was ich zu berichten habe.
Die Mōdraniht
Auf der Schwelle zwischen dem Reich der Träume und dem beginnenden Tag, höre ich den Knochenbeutel rasseln. Die Schnitterin, die Tödin, die Winterhex, die alte Hag, sie kichert leis‘ zur blauen Morgenstunde. Ihr eisiger Atem legt sich über Wasser, Wald und Wiesen. Der Nebel, gleichsam einem Flüstern, raunt: „Wach auf, Erdenkind, wach auf. Die Rauhnächte beginnen.“ Es ist die Mōdraniht, die Mütternacht, die heiligste Zeit des Jahres, geborgen im Schoß rabenschwarzer Finsternis. Es ist die Nacht der Wintersonnenwende. Ich spüre es: Eine fast greifbare Erwartung schwebt in der Luft. Etwas geschieht, regt sich in der Tiefe.
Ich springe aus dem Bett. Der Ruf der Schnitterin zieht mich fort von zu Hausʼ. Ich verlasse meine kleine Hütte in der Tiefe des Waldes, um einen der vielen Kraftplätze in der Umgebung aufzusuchen. Je näher ich der alten Höhle komme, desto mehr verliere ich mich in Raum und Zeit. Schleier sind dünn in dieser Zeit. Die Dimensionen vermischen sich.
Ich bin ein Erdbauchkind. Höhlen sind mein Seelenhaus. In der Welt der Wurzeln atme ich auf. Ich habe ein dichtes Fell dabei und lasse mich auf dem steinigen Boden nieder. Meine Augen schließen sich und mein Geist geht auf die Reise. War es eben noch Tag, beginnt in der anderen Welt soeben die Nacht. Das Abendrot lässt mich tiefer sinken. Hinein in dieses Reich, welches alles zersetzt und neu gebiert. Sanft schmiege ich mich in den Mutterboden. Raben kreisen immerfort über mir und erzählen Geschichten von der Welt. Leise nur erklingt ihr Ruf in der Ferne der Nacht. Magie flimmert, verwebt die Räume. Sie vibriert in den Knochen. Müde sind sie vom Jahr. Ich krieche eine Höhle weiter. Verliere mich im Fell von Mutter Bär.
„Bald“, flüstert mein Krafttier, ehe es wieder schläft. »Ja«, denke ich, »bald. « Den wilden, animalischen Duft atmend, lausche ich fasziniert dem gleichmäßigen Rhythmus ihres Herzens.
„Ja, große Bärin, bitte schlag die Trommel“, raune ich leis‘, ehe mein Geist mehr und mehr versinkt.
Im Traum webe ich mich tiefer in den erdigen Schoß. Sickere ich der unausweichlichen Geburt entgegen. Die Kontraktionen im Erdenbauch nehmen zu. Ich spüre den Puls. Mein Atem steht nahezu still. Da! Die rote Glut des Erdkerns bäumt sich auf. Sie ist bereit zur Eruption. Jetzt, in dieser Nacht, eingeschlossen im Schoß von Mutter Erde, passiert das Wunder: Das Licht, die Sonne wird neu geboren. Es ist wie im Leben. In den dunkelsten Schatten wartet der eine Funke, der alles zum Leuchten bringt. Die neue Sonne steigt auf, trägt mich mit sich fort, zurück in das Fell der Bärin.
Wieder rasseln die Knochen. Meine Augen öffnen sich, suchen das feixende Gesicht der Winterhex‘.
„Hab ich dich!“ Dort im Verborgenen steht sie. Silberfäden glänzen in ihrem schlohweißen Haar. „Jetzt wach auf, Erdenkind, wach auf. Die erste Rauhnacht beginnt.“ Lichter Nebel verlässt den faltigen Mund. Ihre Pupillen, dunkler als die Nacht, weiten sich. Sie lacht unbekümmert wie ein junges Mädchen, doch hager sind Gesicht und Gebein.
„Sag, Schnitterin, wohin soll ich gehen?“
„Zur Quelle, Kind, zur Quelle. Folge dem Pfad der Ahninnen. Reise mit der Falkin. Nordwärts geh, immer nordwärts. Halt ein im Tal der vier Winde, eingebettet zwischen Felsen und Moos. Sieben Häuser, dreizehn Geschichten. Eile geschwind.“
Kaum hat sie gesprochen, ist sie fort, einmal mehr mir entwischt. Nur ihr Kichern hallt in den Wänden nach.
„Folge dem Pfad der Ahninnen. Halt ein im Tal der vier Winde. Die Falkin. Zur Quelle. Eile.“ Müde erwehre ich mich des Wunsches, tiefer ins Fell der Bärin zu sinken und gebe mir einen Ruck.
„Bis bald, Mutter Bär.“ Ich ertaste die schroffen, archaischen Wände. Folge der schwindenden Spur der alten Hag. Der raue Gesang eines uralten Liedes vibriert in meiner Seele:
»Erdmutter,
Dunkelmutter,
Schädelmutter,
Knochenmutter,
Blutig rot ihr glühend Schoß,
wie das Morgenrot und das Abendlicht,
wenn die Sonne die Naht zwischen
Tag und Nacht zerbricht.«
Roh und ungeschliffen ist der Klang. Ursprünglich, unverfälscht. Meine Hände tasten sich weiter vor an der felsigen Wand, bis ich den Ausgang finde und Haut und Haar im Mondlicht baden.
Ich bin zurück aus meiner Trance, oder nicht?
Tonlos, wie ein Bergsee, gleitet die Nacht durch Zeit und Raum. Vielleicht hält sie inne, wohlwissend, dass jeder weitere Tag an Stärke gewinnt. Oder wartet sie auf den Sturm? Meine Augen suchen am mondfarbenen Himmel nach Odin, Frigg und der wilden Jagd. Gott und Göttin und ihre Heerschar verlorener Seelen, Geistwesen – das Totenheer. Flankiert von krächzenden Raben, schwarz wie die Nacht selbst.
Odin reitet auf seinem achtbeinigen Pferd, Sleipnir genannt. Frigg steht mit der Peitsche auf ihrem Wagen, die durch die Finsternis knallt. Zahllose Wesen übertreten die Grenze zu unserer Welt – Götter und Geister, Hexen und Walküren, tote Seelen, allerlei Getier. Rosse wiehern, Wölfe jaulen. Klagegeschrei zerreißt die Nacht. Einst fürchtete das Volk die wilde Jagd wie der Teufel das Weihwasser. Vor allem im Gebirge tosten in der Winterzeit die Stürme. Sie brausten und krachten, dröhnten und wüteten um bergiges Land.
Sausten Täler hinab, rüttelten an der Bauern Häuser. Unerbittlich zerfetzten sie die Stille der Nacht. Die Türen und Fenster fest verschlossen, hofften die Bauern, den dunklen Wesen zu entgehen. Düstere Geschichten am Feuer flossen schon den Kleinsten mit der Muttermilch ins Blut.
Selbst heute finden im Alpenraum, wie einst, die sogenannten Perchtenläufe statt. Zumeist Männer tragen gruselige Masken. Sie gebären sich furchterregend. Feuer glühen, Peitschen knallen, Böller pfeifen durch die Nacht, Glocken läuten, Töpfe werden geschlagen. Ein Heidenlärm ertönt bis in die Wolken hinein, um die finsteren Wesen anderer Welten zu vertreiben. Sie trommeln, sie fegen, sie schießen und schnalzen. Alles scheint erlaubt, Hauptsache, das Böse bleibt fern.
Die Percht ist eine Magna Mater, eine große Mutter. Dieser Archetyp kennt die Mysterien des Lebens und des Todes. Sie spinnt, webt und trennt die Lebensfäden. Du findest sie in Frau Holle, der Frigg oder der keltischen Wintergöttin Cailleach. All diese Göttinnen sind eine Göttin, allesamt verwoben, miteinander verbunden. Die Nacht der Percht ist die Perchtennacht, die Hollenacht, vom fünften auf den sechsten Januar eines jeden Jahres. Für mich persönlich ist es gleichsam eine Rauhnacht, die dreizehnte und letzte. Sie schließt einen Raum der Transformation. Sie ist eine Schwelle der Initiation. Lassen wir uns bewusst auf ihre Energie ein, so wartet Erneuerung. Mit dem Segen der weiblichen göttlichen Urkraft säen wir die Samen für das kommende Jahr. Neue Wege entfalten sich. Künftige Erfahrungen zappeln erregt. Sie warten darauf, durchlebt zu werden.
Wie die Holle kehrt die Percht in Haus und Hof ein. Sie schenkt ihren Segen dem Gebäude, dem Stall und dem Land. In den Gärten segnet sie die Apfelbäume. Sie sind die Frucht des Lebens. Im Märchen „Frau Holle“ ist der Apfel ein bewusst gewähltes Element. In einigen Gegenden ist es heute noch Brauch, die Bäumchen zu schütteln, um den Segen der Göttin zu empfangen. Diese Frucht spendet die Kraft des Lebens. So die Kunde. Wer sich seinen Aufgaben stellt, den belohnt am Ende das Leben, wie bei der Goldmarie.
Noch immer stehe ich im Mondlicht und lausche. Kein Laut ist zu hören. Es ruht die wilde Jagd hinter den Schleiern der Anderswelt, dem Reich der Ahnen. So bleibt mir Zeit, weiter zu berichten, mit dir zu reisen. Weben wir uns tiefer in die Rauhnachtszeit. Stets die Tiere im Blick, die nervös werden, wenn die Heerschar nicht mehr fern ist. Hast du ein Haustier, egal ob Katze, Hund, Schaf, Hase oder Pferd? Beobachte sie. Sie wittern die sich wandelnden Energien lange, bevor wir selbst sie erspüren. Zur Geisterstunde, so wird sich erzählt, sprechen sie mit menschlicher Stimme. Die Alten munkeln, wer es vernimmt, dem wird Böses geschehen. Ob es wahr ist? Ich vermag es nicht zu bezeugen. Eines indes ist gewiss, in den rauen Nächten erwachen Wunder. Warum ist das so? Was ist so besonders an dieser Zeit?
Komm, spitz deine Ohren, Erdling. Ich erzähle dir von einer längst vergangenen Zeit. Schau, wir richten uns nach dem Lauf der Sonne. Heute bemisst sich ein Jahr nach der Zeit, in welcher die Erde die Sonne einmal umrundet. Die Sonne ist der Ankerpunkt. Wir sehen sie am Tage, nicht wahr? Wusstest du, dass einst der Tag mit der Abenddämmerung erwachte? Die Arbeit war geschafft. Der Raum für Neues öffnete sich mit der Nacht. Jetzt hatte die Sippe Zeit füreinander. Sie speisten und tranken. So manch eine Geschichte verflocht sich mit den Flammen des Feuers. Kinder wurden gezeugt, Verstorbene beklagt. Der Zeitgeber für all dies war nicht die Sonne. Es war der Mond. Wie wir Menschen selbst wandelt er sich stetig. Er schwillt an und ab, zieht sich zurück und erneuert sich, erblüht und vergeht. Nebenbei bemerkt, gleicht dies dem Zyklus einer Frau und dessen drei Phasen: vor, während und nach dem Eisprung.
Eine Mondphase dauert 29,5 Tage. Zwölf lunare Monate ergeben 354 Tage und nicht 365 solare Kalendertage wie heute. Zwischen Mond- und Sonnenjahr klafft eine Lücke von elf Tagen und zwölf Nächten. Diesen Zwischenraum schließen die Rauhnächte. Sie sind ein Kontinuum außerhalb der Zeit. Und wie alle Schwellenzeiten bergen sie Geheimnisse, rätselhafte und wundersame Begebenheiten sowie uraltes Wissen. Jedes Ufer ist eine Schwelle, jedwede Dämmerung ist ein verbindender Raum inmitten zweier Welten. Die Schleier zur Anderswelt fallen in den Rauhnächten. Die Tore zwischen den unterschiedlichen Dimensionen öffnen sich. Tiere sprechen, Geistwesen erscheinen und die Vorfahren gesellen sich in unsere Mitte.
Weißt du, ich bin durch zahlreiche Leben gereist.
Wie viele es waren? Es lässt sich nicht sagen. Genug, um zu versichern, dass jede Zeit ihre Geschichten webt. Mit der Verbreitung des Christentums zerstob das alte Wissen in alle vier Winde. Die Menschen wurden ihrer Wurzeln beraubt. Das Unheil nahm in der Spätantike bis ins frühe Mittelalter seinen Lauf. Aus vielen Göttern wurde ein Gott. Wer sich nicht ködern ließ, der lebte gefährlich. Auf einst heiligen Plätzen schossen Kirchen empor, in denen ein Mann ans Kreuz genagelt hing. Die neue Religion basierte auf dem Prinzip von Schuld und Sühne. Wer nicht nach den Geboten der Kirche lebte, den erwartete die Hölle.
Mit der Etablierung des Christentums veränderten sich uralte Legenden. Das Element der Bestrafung spann sich in den Aberglauben des Volkes: „Traue keinen fremden Tieren. Es könnten Gestaltenwandler sein, Hexen und Dämonen, die sich in Haus und Hof einschleichen, um Unglück und Verderben zu bringen. Bekreuzige dich dreimal zum Schutz.“ Die Botschaft dahinter lautete: Wissende, sehende Frauen sind Hexen. Alte Wesen und Gottheiten sind Dämonen, waren sie doch in der Lage, die Gestalt von Tieren anzunehmen. So wandelte sich Freyja, eine Göttin der nordischen Mythologie, in einen Falken, der Gott Loki in eine Fliege, einen Lachs oder eine Stute – um zwei Beispiele zu nennen. Ein anderer Aberglaube mahnt: „Wer in den Rauhnächten seine gewaschene Kleidung aufhängt, den besucht die wilde Jagd.“ Unheilvolle Erzählungen verbreiten sich schnell. Das wissen wir alle. Viele Rauhnachtslegenden wurden umgewandelt, um das Vertrauen in den christlichen Gott zu stärken und die Angst vor heidnischen Gebräuchen zu schüren.
Geschichten gehören zu uns Menschen.
Wir lieben sie. Sie erscheinen harmlos, nur sind sie es nicht. Geschickt eingesetzt, durchtränken sie unser Bewusstsein mit neuen Doktrinen. Sie sind versteckte Waffen, die sich wie von selbst im Volk verbreiten. Oh nein, ich verurteile Sagen, Märchen und Legenden nicht. Sie sind der Motor unserer Fantasie. Die Frage ist gleichwohl, wie vergiftet der Stoff ist, den wir einatmen. Nicht nur die Kirche nutzte Geschichten für ihre Zwecke. In vielen Märchen überlebte uraltes Wissen. Sie sind wahre Schätze an versteckten Überlieferungen. So ist der Brunnen im Märchen der Holle ein Tor zur Anderswelt, eine Schwelle in eine andere Dimension. Die Geschichte selbst beschreibt den Weg der Initiation. Der Stich mit der Spindel symbolisiert die erste Blutung. Ein Mädchen wird zur Frau. Die Goldmarie, bereit für diesen Schritt, meistert den Übergang. Die Pechmarie blutet nicht. Zu unreif in ihrem Wesen und von der Mutter gezwungen, ist sie der Aufgabe nicht gewachsen. Ihre Zeit kommt erst. Ich erinnere: Hinter der Holle steckt die Kraft der Großen Göttin.
Psst – sei still. Hast du dieses Grollen gehört? Was bin ich für ein Träumerle. Verliere mich in Geschichten, statt zu spurten. „Eile!“, sagte die Knochensammlerin in der Höhle. Leicht reden hat sie, so mitten in der Nacht. Komm, rück nah an mich heran. Mir war so, als hörte ich den Himmel beben. Da, schon wieder! Oh ja, da ist sie, jetzt kommt die wilde Jagd. Bei den Göttern, für heute ist es zu spät, um aufzubrechen. Komm, Erdenkind, ich nehme dich mit in mein Heim. Es ist nicht weit.
Auszug aus der Leseprobe vom Buch “Ein Rauhnacht-Märchen aus dem Tal der vier Winde”
Die gesamte Leseprobe und das Buch finden Sie hier23.10.2024
Alexa Szeli
Die Autorin
Alexa Szeli ist ein Kind des alten Pfades. Das Brauchtum früherer Zeiten und vergessenes Wissen sind ihre Leidenschaft. Alexa studierte Publizistik und Kommunikationswissenschaften. Im Jahr 2014 gründete sie den Blog “Taste of Power”, um neben ihrem Hauptberuf über spirituelle Themen zu schreiben.
2019 machte sie sich damit selbstständig. Mit ihren Texten möchte sie das alte Wissen bewahren, und es mit der heutigen Zeit zu verbinden. Alexa hat sich mit den Welten der nordischen Mythen befasst, die Magie studiert, alte Religionen erforscht und verbindet heute Magie mit Wissenschaft, Natur mit urbanem Leben.
Ihr Wissen zu teilen ist ihr magisches Erbe, ihre Leidenschaft und ja – ihre Seelenaufgabe.
https://www.taste-of-power.de/