Mit offenen Armen dem Schatten entgegen

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Mit offenen Armen dem Schatten entgegen

Was bedeutet es wahrhaft zu leben? Diese Frage taucht immer wieder in meinem Bewusstsein auf. In vielfältiger Weise bewegt sie mich. Mal bebt es dann tief und anmutig in mir. Die Gewaltigkeit von Leben meldet sich wie ein imposanter Schimmer am Horizont, der die Kraft der Sonne mit den ersten Strahlen am Morgen verkündet.

Andere Male gerate ich wankelmütig in knochentiefes Zittern, denn ich weiß, um die darin liegende Herausforderung und die Aufgabe, ohne dessen Einlösung meine Seele keine Ruhe findet. Ich bin in diesem Körper geboren, um wahrhaft zu leben, um wirklich hier zu sein, um wahres Leben zu verkörpern. Und so tun es mir viele Seelen gleich.

Doch häufig erblicke ich eine Welt, die eine andere Geschichte von Leben und Lebendigkeit erzählt. Vielmehr erzählt sie vom Tod und einem Glück, dass weniger als die Krümel vom Lebenskuchen sind. Die relativen Freuden des modernen Alltags stellen eher ein Trauerspiel dar und offenbaren in welch Aussichtslosigkeit die Seele, die damit zufrieden ist, sich erfährt. Eine Weltgeschichte, die sich nicht chronologisch entfaltet, sondern sich immer wieder in ihrer Essenz in neuen Formen manifestiert.

Es ist die Geschichte, die Krieg, Schuld und Lebensablehnung in schöne Gewänder der Gerechtigkeit, Wohlstand und Freude hüllt und dabei wahre Werte bis zur Unerkennbarkeit verdreht. Und das gilt für spirituelle Angelegenheiten genauso wie für die praktischen Objekte. Wir haben uns als Menschheit zu einem großen Teil so sehr vergessen, dass wir wahres Leben nicht nur nicht erinnern und erkennen, sondern es sogar zu variierenden Graden ablehnen und bedrohlich finden. Da ist es möglich sich mit Leidenschaft für die Natur und spirituelle Dialoge zu interessieren, ohne zu bemerken, dass dies nur ein zarter Windhauch ist, der tiefere Schichten unbetrachet lässt und so in spirituellen Gewändern ebenso einen energetischen Krieg gegen das Leben unterstützt.

Starr vor Überlebensmodus

Auf dem Weg in den Park fiel mir neulich eine alte Frau auf. Sie lief zögerlich starr ein kleinen Schritt nach dem anderen gebeugt und mühsam mit einer Hand einen Rollbeutel hinter sich herziehend auf dem Gehweg entlang. In der anderen Hand hielt sie einen Gehstock. So starr wie Ihr Blick nach unten auf den Boden gerichtet war, war auch ihr ganzer Körper. Etwas in mir erschrak. Ich sah eine Frau und in ihr den Lebensmodus eines überwiegenden Teiles der Menschheit. Es war der Anblick des Überlebenskampfes, der kein wahrhaftiges Leben mehr verspricht, sondern nur noch an ein Vorankommen durch Härte, Täuschung und Selbstverleugnung glaubt. Licht und Liebe als wahre Natur?

Ein sich durch das Leben schlagender Mensch stellt sich die Frage um die Quelle des Lebens schon lange nicht mehr. Vielmehr dreht sich der Geist unbewusst, um eine Möglichkeit mit äußeren Mittel zu kompensieren, was innerlich nicht existent und erreichbar erscheint. Vermutlich war die alte Frau darauf konzentriert sicher voranzukommen und es irgendwie zum Ziel zu schaffen – und das vielleicht ihr ganzes Erdenleben schon.

In solchen Momenten bin ich sehr betroffen von dem kollektiven Unglauben an wahres Leben, der sich in unseren Lebensbewegungen manifestiert. Spirituelle Weisheiten über die wahre Natur des Menschen wirken dann wie schöne Märchen, die Trost in Schwierigkeiten sind doch darüber hinaus wenig Wahrheitsgehalt im Alltag zu haben scheinen. Da ähnelt die spirituelle Auseinandersetzung eher einem Betäubungsmittel als einem Erwachenskick. Wie konnten wir uns so vergessen?

Diese Frage hallt zermürbend nach und berührt wunde Punkte meines Herzens. In uns soll das Licht der Welt wohnen und damit DIE Kraft und Intelligenz, die jenseits jeglicher Vorstellungen liegt. Und wir sorgen uns darum, ob die nächste Rechnung bezahlt werden kann oder wie wir wohl unseren passenden Partner finden. Wir versuchen bemüht die Natur zu retten und sind mit den richtigen spirituellen Praktiken für unsere Entwicklung beschäftigt, ohne zu bemerken, dass wir auch darin weiterhin fernab vom wahren Leben bewegen und in Kleingeistigkeit eine getrennte Welt kreieren können.

Radikalität als Herzenspflicht schatten tanz

Ein trauriges Bild, was viele als zu negativ betrachten mögen. Doch ich bin nicht zufrieden mit neuen, schöneren Geschichten. Ich will nicht alte Formen in neuen Farben anmalen. Mir ist sehr daran gelegen, die Geschichte enden zu lassen und die Strukturen, die auf unwahren Leben und existentiellen Zweifeln aufbauen, an ihrem Ursprung im Lichte des Bewusstseins zerbröckeln zu lassen. Ich vermisse das absolute Leben wie eine verlorene Liebe, ohne die ich nicht atmen kann. Und so muss ich als Herzenspflicht radikal und radikaler bis in subtile Ebenen hinein hinterfragen und kann mich nicht mit Erklärungen, die wieder nur an äußeren Formen bekannte spirituelle Hinweise zur Schnelllebigkeit und kapitalistischer Oberflächlichkeit darstellen, zufrieden sein.

Es geht um Leben und so bestehe ich darauf, genauer hinzuschauen – auch wenn das unsere gesamte Kapazität in Anspruch nimmt und uns die Tiefe der verankerten Schuld und Lebensablehnung bis ins Knochenmark erschüttert. Hinter die wissenschaftlichen Erfolgsrufe und Meditationsabsichten sowie hinter die anziehenden Beziehungsbilder und den ausgefüllten Herzbusinessalltag.

Ich rufe auf, die Gespräche in Parks und den herumrennenden Kindern auf Spielplätzen zu lauschen. All diese Räume scheinen bei kurzer Betrachtung doch auch die guten Seiten des Lebens zu zeigen. Doch öffnet man sein Bewusstsein und spürt tiefer in die Energieebene hinein, zeigt sich oft hinter dem Schein des Wohlstandes und der Entspannung genau dieses traurige Bild – überlagert von Schichten steckt in der Tiefe ein Unglauben an wahres Leben und ein Nerven zermürbender Überlebenskampf, der genauso hyperaktiv mit finanziellen Mitteln, Beziehungen oder Weltrettungsaktionen unbewusst versucht wird zu beantworten wie er bereits als Kollabierung des Nervensystems in Resignation geführt hat.

Viele Menschen leben mit besten Intentionen und doch bleiben die wirklich tiefen Beweggründe ihrer Handlungen, Gedanken und Gefühle unbetrachtet. Die Selbstanalyse und emotionale Heilung auf Verstandesebene werden diese tiefe existentielle Angst nicht aufzeigen. Da können Jahre und Jahrzehnte vergehen, ohne dass dieser Unglaube sichtbar wird. Und so kann dann auch mit grüner Ökofahne und Satsangkreis kollektiv ein Leben zelebriert werden, was künstlich nachahmt, woran wir nicht glauben, es könne natürlich entstehen.

Weil wir nicht wissen, wer wir sind, wissen wir auch nicht, was Leben ist. Denn wir sind ja dieses Leben. Erleben wir uns in den Schutzschichten und im Ego, wird uns das als Leben erscheinen – aussichtslos. Da kann es kunterbunt auf und ab in den Gefühls- und Gedankenwelten gehen ohne wahres Leben zu berühren. Wahres Leben kann in die Ebene von Gedanken und Gefühlen hineinströmen, die Genies unserer Welt deuten darauf hin, doch es geht über Gefühle und Gedanken weit hinaus. Etwas in mir prickelt und weiß, wahre Lebendigkeit entspringt DER Lebenskraft, die uns allen innewohnt und sich weit über kulturell entkörperte Vorstellungen über Lebendigsein geht.

Aufruf zur bedingungslosen Schattenzuwendung

Aussichtslos und erschwerend können diese Ausblicke wirken und uns dann davon abhalten tiefer damit auseinanderzusetzen. Doch genau darin habe ich einen Fehler entdeckt. Mir macht es immens viel Freude darauf hinzuweisen und mich mit dieser existentiellen Trennung und Frage, um wahres Leben auseinanderzusetzen. Leidenschaftlich brenne ich dafür, weil ich diese vergessenen, in den Schatten gedrängten Anteile so sehr nach Erlösung flehen höre und um ihr immenses Geschenk kenne. Sie sind das Leben, was wir uns ersehnen.

Die alte Frau ist nicht nur ein Sinnbild für kleingedachtes Leben, sondern sie ist meine Erinnerung an Erlösung. Durch sie kann ich direkt in unseren kollektiven Schatten blicken. Was ich damit nun mache, ist meine Verantwortung. Und wie antworte ich darauf?

Meine Forschung endet nicht mit kultureller Kritik und spiritueller Mahnung. Vielmehr will ich sie einen Aufruf sein lassen. Sie soll Ermutigung sein, mit offenen Armen und bedingungslos diesem Schatten, dieser existentiellen Angst und dem Unglauben, entgegenzurennen. Nichts in uns wartet und ruft so sehr nach Liebe wie sie. Nichts bringt so viel Verbundenheit, Vertrauen und Weisheit. Die Schwere, die uns fürchtet, entspringt nicht dem Inhalt. Sie ist eine Folge unseres Umganges mit ihr. Denn Schweregefühle entstehen dort, wo Energie stagnierend auf uns lastet. Sobald wir die Energie erblicken, hineinrennen und sie in uns bewegen lassen, verwandelt sich das Schwere in eine Treibkraft des Wachwerdens.

Das ist die Weisheit und Kraft der Schattenarbeit. Wenn wir aufhören dem Schattengeflüster zu glauben, diesen tausend Jahre alten Weltgeschichten, und dem Geflüster sanft und kraftvoll zur Quelle folgen, sind wir erstaunt und vermutlich tiefberührt, was sich ich uns offenbart. Endlich kehrt die Liebe zurück – wahres Leben.

21.03.2024
Sara Tanoe Gnanzou
https://tiefbewegtblog.wordpress.com/

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Sara Tanoe GnanzouTanoe-Gnanzou-Profil

Die Sehnsucht nach Lebendigkeit führte Sara Gnanzou zunächst zu Reisen durch die Welt, einem interdisziplinären Philosophiestudium und Tätigkeiten im Beratungs- und Choachingbereich. Seit 2020 widmet sie sich der spirituellen Lebensforschung. In Ihre Arbeit fließen neben tantrischem Wissen und westlicher Philosophie auch die Körper- und Traumaforschung mit ein. Durch das Teilen ihrer Forschungserkundungen durch Wort und Bild möchte sie unterstützend dazu inspirieren, das eigene Sein zu erforschen und die Lebendigkeit erblühen zu lassen.

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