Vom verborgenen Ursprung unseres Seins
Beschäftigt man sich gedanklich mit dem Ursprung des Seins, so erscheint als Ausgangspunkt für die Existenz jeglicher Vielheit zunächst etwas Einfaches und Undifferenziertes. Dieses Einfachste ist das Eine und erscheint als Ursprung und Existenzgrund aller Dinge, also als das Höchste, was es geben kann. Dieses unsagbare Eine bleibt einem verstandesmäßigen Begreifen prinzipiell verborgen, und dennoch zwingt die Vernunft zur Annahme des Einen. In einer religiösen Terminologie käme ihm faktisch die Rolle der obersten Gottheit zu. Und doch stellt sich die Frage nach dem Vorherigen ‒ noch so weit entfernt von Zeit und Raum ‒ dass selbst der Begriff Uranfang nicht treffend erscheint, denn wie kann etwas jenseits von Zeit und Raum einen Anfang haben?
Wenn auch nicht in einer linear zeitlichen Folge gedacht, eher vom Prinzip her, so „beginnt“ doch bereits „vor dem“, was „später“ als Schöpfung bezeichnet wird, der Grund allen Daseins in der diesseitigen Welt mit einem Impuls aus einer anderen Ebene heraus. Mathematisch entspräche dies vielleicht der Null, d.h. einer völlig anderen Ebene als der der „nachfolgenden“ Zahlen, beginnend mit der Eins. Qabalisten würden sagen „von jenseits der drei Schleier“. Doch „wo“ auch immer wir den zeitlosen Ursprung „verorten“, ob als Null oder Eins; weit jenseits der sich innerhalb der sieben Tage der Schöpfung vollziehenden zehn Akte der Schöpfung erfolgt „zunächst“ weit „oberhalb“ das Erscheinen der ersten Triade dreier übergeordneter transzendenter Kräfte als Lenker der nachfolgenden Sphären.
Diese Oberste Dreiheit der drei göttlichen Prinzipien erscheint auf Kosmischer Ebene in unterschiedlicher Terminologie, als „Vater, Sohn und Heiliger Geist“,
als „Licht, Leben und Liebe“, in alchymischer Sprache als „Mercurius, Sulphur und Sal“ oder als konkrete Widerspiegelung in der unteren Welt als „Vater, Mutter und Kind“. Diese Oberste Dreiheit ist eine Einheit. Einheit bedeutet, dass zwei sich begegnen und ein Drittes als Frucht dieser Begegnung hervorkommt. Erst die Dreiheit bildet die Einheit; ohne Dreiheit wäre es keine Einheit. Die Eins „von unten gesehen“ oder „von außen“ ist starr, einsam, leblos, gewissermaßen allein. „Von oben gesehen“ enthält die Eins als Einheit bereits die Drei, das Prinzip der Begegnung, die Frucht. Dieses Mysterium der Geburt ist das Mysterium der Schöpfung, die nur durch ständige Geburten aufrechterhalten werden kann ‒ und es ist zugleich das Mysterium der Zahl Drei in der Schöpfung und im Menschen.
In allen weiteren Schöpfungs-Abläufen wird sich diese Manifestation durch den Einklang der Gegensätze wiederholen und so die Schöpfung zur Vollendung bringen. Alles, was fruchtbar werden soll, alles, was Neues entstehen lassen soll, wird bis in alle Zeiten dieses schöpferische Geheimnis zur Grundlage haben. Die kosmischen Urkräfte sollen von diesem Punkt in der göttlichen Verborgenheit heraus hineinwirken bis in die untersten Bereiche der materiellen Welt. Dieser hoch mystische Akt ist für das Erwachen des Menschen von grundlegender Bedeutung.
Die drei Göttlichen Prinzipien von Licht, Leben und Liebe sind die Emanationen aus jener großen Einheit, aus der alles entströmt, sei es im sichtbaren oder im unsichtbaren Bereich.
Drei Lichter, die einer Quelle entströmen, oder drei Quellen als Grundlage der einen Realität. Diese Dreiheit können wir als verborgene Wurzel in der oberen Welt empfinden, und so sind wir selbst in dieser unteren Welt nicht wurzellos, wir sind gewissermaßen Zuhause im Ewigen.
Der Mensch lebt also in zwei Welten, der oberen himmlischen und der unteren irdischen Welt, und sein tiefstes Wesen entspricht der Verbindung dieser beiden Welten als Mittler zwischen Himmel und Erde. So betrachten die Rosenkreuzer den Menschen als ein duales Wesen. Der äußere Mensch, seine Individualität ist die äußere Wirkungsweise, so wie das Erscheinungsbild des Menschen im Allgemeinen ist. Der Innere Mensch hingegen bildet seine wahre Persönlichkeit, sein Inneres Selbst und ist wesentlich umfassender und großartiger als das äußere Ich vermuten lässt. Dort ist das angelegt, was man als den Inneren Meister bezeichnet, jene Instanz, die alles im Menschen lenkt und genau weiß, was zur wahren Persönlichkeit des Menschen gehört.
So geht es darum, uns bewusst zu sein, dass wir nicht nur da leben, wo das äußere Leben stattfindet, dasjenige, das auch wissenschaftlich geordnet werden kann. Diese äußere Seite ist keinesfalls zu vernachlässigen, aber das Primäre ist die andere Seite. Wenn wir die äußere rationale Seite bewusst pflegen und sauber „wissenschaftlich“ denken, so kann auch diese Seite sehr weitgehend erfahren werden. Und doch bleibt uns immer eine Verborgenheit, der unser tiefstes Sein entspringt und die kaum bewusst gelenkt werden kann. Unser Nicht-Bewusstes ist die Summe all dessen, was sich in uns bewegt, und in diesem Sinne liegt dort die eigentliche Persönlichkeit des Menschen.
Es gilt also, Zugang zu einer Quelle zu finden, die aus uns selber hervorströmt.
Die direkte unmittelbare Beziehung zu uns selber, zu unserem tiefsten Wesen steht im Vordergrund. Man hört keine Stimme, die einem sagt, was zu tun sei; das kann auch sein, doch geht es eher um eine Stimmung. Man weiß etwas oder ahnt es vielmehr im Sinne einer kaum fassbaren Gewissheit. Diese Art einer Gewissheit erlangen wir nicht mit unserer Ratio oder weil wir so gescheit sind; deren Quelle liegt anderswo, im Verborgenen, im Nicht-Bewussten.
Natürlich gilt es, sich die Botschaften der anderen Seite zugänglich zu machen. Um auf dieser Seite unseres Lebens verstanden zu werden, bedarf es stets einer Interpretation, die aber immer nur eine persönliche sein kann und dementsprechend zahlreichen Prägungen unterliegt. So erzählt sich das eigene Leben aus dieser anderen verborgenen Seite heraus ‒ und wo das nicht mehr funktioniert, da erscheint der Mensch beziehungslos in jeder Hinsicht, beziehungslos zu sich selbst und der Welt.
So erscheint unser Leben als eine Art Erzählung, eine Überlieferung aus dem Nicht-Bewussten hinein ins Bewusste. Leben entspricht diesem Dualismus, Leben im Erscheinenden, Bewussten, und Leben im Verborgenen, Nicht-Bewussten. Und diese Gegenüberstellung ist der Beginn jeglicher Schöpfung. Die Schöpfungsmythen aller Kulturkreise verweisen darauf, dass alles sein Gegenüber hat, denn ohne dieses Gegenüber hätte nichts Bestand. Der Beginn jeglicher Schöpfung besteht darin, dass sich aus einer unergründlichen ewigen Einheit heraus ein Gegenüber entwickelt.
Dies ist der Ausgangspunkt dafür, dass überhaupt eine Wahrnehmung stattfinden kann.
Wahrnehmung ist ein Prozess der Gegenüberstellung, und nur das kann wahrgenommen werden, was als Gegenüber in Erscheinung tritt. So ist das Hervortreten der Schöpfung aus der Einheit, aus dem “Urgrund”, dem “Ungrund” des Seins für jegliches Erkennen erforderlich, und die Welt der Schöpfung dient als Spiegel, sowohl für die Gottheit als auch für den Menschen.
Wie aus dieser Zweiheit die Dreiheit im Menschen hervorgeht, verdeutlicht der christliche Schöpfungsmythos, in dem Gott als Geist dem Körper des Menschen den Odem des Lebens einhaucht und der Mensch so zu einer lebendigen Seele wird. Durch diesen Schöpfungsmythos können wir die Dreiheit des Menschen erfassen, die sich als Körper, Geist und Seele offenbart. So verbildlicht dieser Mythos das kosmische Gesetz der Drei. Seit jeher lehren die Mystiker aller Traditionen, dass das Wesen des Menschen aus Körper, Geist und Seele besteht, und das bewusste Erfahren der dreifachen Zusammensetzung seines Wesens und das harmonische Zusammenwirken aller dreier Wesensteile ist seit jeher Ziel jeglichen spirituellen Weges.
Doch ist die vermeintlich lineare Entwicklung aus der Einheit heraus über die Zweiheit der Schöpfung zur Drei lediglich eine symbolische Brücke, die nicht als raum-zeitliche Folge zu verstehen ist, uns aber eine erste Annäherung zu einem Verstehen und Begreifen erleichtern kann. Dort, wo ein gesundes Leben in Harmonie stattfindet, da empfinden wir diese Dreiheit. Nicht nur in dem Sinne, dass sich zwei vereinigt hätten, sondern dass ein Drittes hervorkommt, als Frucht aus dem Widerspruch. Der Widerspruch bleibt dabei bestehen, so wie bei der Entstehung eines Kindes Mann und Frau als Eltern bestehen bleiben. Dies ist das Mysterium der Trinität, der Einheit in der Drei ‒ sowohl in der oberen als auch in der unteren, konkreten Welt.
08.03.2022
Dr. rer. nat. Alexander Crocoll
Bild und Text (c) AMORC
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Vita des Autors:
Dr. rer. nat. Alexander Crocoll, geb. 1966. Während seiner wissenschaftlichen Tätigkeit Publikation von Arbeiten zur Genetik molekularer Embryologie. Er beschäftigt sich seit frühester Jugend mit spirituellen Fragen, ist seit drei Jahrzehnten AMORC-Mitglied und arbeitet heute als Sekretär in der deutschen AMORC-Zentrale.
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