Altwerden ist schön
Jungbleiben, das Diktat der Zeit! Sei es im Aussehen, in der Kleidung, in der Ernährung oder im gesellschaftlichen Verhalten. Immer und überall wird einem eingeprägt, man soll sich anstrengen, jung zu bleiben. Warum eigentlich? Was ist denn so großartig am Jungsein? Und was ist so schrecklich am Altsein? Altsein ist schön!
Und, wie definiert sich dieser Status eigentlich?
Wie lange ist man jung und ab wann ist man alt?
Jungsein und Altsein
Mit Jungsein verbinden wir im Allgemeinen die Vorstellung von Frische, Kraft, Gesundheit, Schönheit, Beweglichkeit und Abenteuerlust.
Bei Altsein dagegen, denken wir an Schwäche, Falten und Gebrechen, Krankheiten, Vergesslichkeit, Starre und Einrosten.
Nun ja, der Körper altert, so, wie Blumen nach der Blüte langsam verwelken. Das ist der natürliche Lauf des Lebens. In der Pflanzenwelt sehen wir das als normal an, und wenn die Pflanze noch jung ist, warten wir fast ungeduldig darauf, dass sie endlich blüht. Wir pushen sie mit Dünger und Gewächshäusern sogar zum schnelleren Wachstum, zur Reife. Pflanzen, die eine langsame Wachstumszeit benötigen, werden gentechnisch verändert, so dass der Prozess schneller abläuft.
Aber bei den Menschen ist es genau umgekehrt. Da tun wir alles dafür, den normalen Prozess zu verlangsamen.
So oder so greifen wir in den natürlichen Ablauf ein
Dieses ständige Eingreifen in die natürliche Entwicklung des Lebens scheint völlig normal und legitim zu sein. Ganz, wie es uns gefällt. Wie absurd das doch ist!
Betrachten wir den Wachstumsprozess aus der inneren Perspektive, dann sieht es ein wenig anders aus mit der tollen Jugend.
Dann sehen wir, dass kleine, noch völlig unbeholfene Kinder jede Kleinigkeit erlernen müssen, bis Körper und Gehirn funktionieren. Jugendliche werden angehalten, einen Haufen unnützer Dinge zu lernen und sich stets damit zu befassen, was sie werden wollen.
Der Fokus liegt auf der Zukunft
Der Fokus liegt auf der Zukunft, auf Zielen und Erreichen.
Es ist bekannt, dass dadurch ein enormer Druck ausgeübt wird auf junge Menschen. Ständig müssen sie sich vergleichen, sich beweisen und viel Leistung erbringen. Nicht nur beruflich, auch im Privaten sieht es so aus. Man muss modisch, gutaussehend und auf sozialen Medien „in“ sein, um Anerkennung zu finden, und wer mit sechzehn noch keine sexuellen Erfahrungen hat, gilt als Hinterwäldler.
Die Ängste, mit denen Jugendliche umgehen müssen, werden meistens verschwiegen. Die Angst, es nicht zu schaffen, nicht dazu zu gehören, nicht den richtigen Beruf zu finden, keinen passenden Partner zu finden… das sind Hauptthemen, die ständig mitwandern in der „Ach-so-schönen-Jugend“.
Wir leben unter Druck
Wachsen Jugendliche zu erwachsenen Menschen heran, bleibt der Druck bestehen. Der Druck, Geld zu verdienen ist dabei wohl einer der größten. Und meistens sollte es viel Geld sein. Nicht nur die Deckung der Grundbedürfnisse für Wohnen und Essen, sondern viele von außen suggerierte Bedürfnisse wollen erfüllt werden. Die Medien diktieren ständig, was man unbedingt brauche im Leben. In den meisten Fällen handelt es sich dabei um Statussymbole, man will dazugehören, mitreden können, imponieren. Und das erzeugt Druck.
Stress ist heutzutage normal geworden.
Die Zeit reicht nicht mehr aus, um alles zu erfüllen, was verlangt wird. (Was die Menschen meistens von sich selbst verlangen, wenn sie den vorgegebenen Bedingungen gerecht werden wollen.)
Es ist keine Zeit mehr da, die Kinder zu Hause zu betreuen. Meistens arbeiten beide Partner und schicken ihre Kinder in die Obhut einer Kita, damit genug Geld verdient werden kann.
Meistens gibt es keine Zeit für Ungeplantes.
Es gibt keine Zeit für Nichts-Tun.
Es gibt keine Zeit für richtige Entspannung.
Damit der Körper das alles mitmacht, werden teure Abonnements in Fitnesszentren gekauft, und um diese einzulösen, wird halt oft am Abend trainiert. Es gibt also wenig Zeit für gemütliches Beisammensein. Es gibt genauso wenig Zeit für Kreativität. Auch der Urlaub ist heutzutage oft zum Aktivurlaub geworden mit teuren Freizeitvergnügungen.
Faulenzen (ohne Handy!), Entspannung und Freizeit ohne Programm scheinen langweilig zu sein.
Der Alltag gestaltet sich aus den vorgegebenen Mustern und Abweichung liegt im Allgemeinen nicht drin. So sieht es jedenfalls bei sehr vielen jungen Menschen aus. (Natürlich gibt es wie überall Ausnahmen).
Das Erreichte erhalten
Werden diese Menschen älter und erreichen etwa die Mitte des Lebens, sind die Sorgen und Ängste nicht weniger. Nun geht es darum, das Erreichte erhalten zu können.
Am Ball bleiben, heißt die Devise!
Oftmals kommen Sorgen um die Kinder und deren Ausbildung und Finanzierung hinzu. Im Beruf entstehen immer wieder Veränderungen, die Weiterbildungen erfordern. Körperliche Veränderungen werden mit Diäten, Kosmetik und Schönheitsoperationen bekämpft.
Dieses „Am Ball-Bleiben“ fordert aber sehr viel Kraft. Der Anspruch, beruflich als auch familiär und gesellschaftlich alle Erwartungen erfüllen zu können, übersteigt oft die Kapazität der Menschen in mittlerem Alter. Depressionen schleichen sich ein. Versagensängste. Burn-Out.
Wer in seinem Beruf nicht wirklich glücklich ist, wird sich gegen Fünfzig nach der Rente sehnen und beginnen, die Zeit bis dahin zu zählen.
Wenn die Rente erreicht ist
Und irgendwann ist es dann soweit: Das Rentenalter ist erreicht.
Was für eine Befreiung!
Aufatmen, entspannen…
. . . so denkt man doch, würde es sein.
Aber nein, auch Rentner dürfen ja nicht zur Ruhe kommen! Man soll am Ball bleiben, sich fit halten, Gedächtnistraining betreiben, Diäten halten, Interessen bewahren, sich gesellschaftlich engagieren… die Liste der Vorschläge, wie man die Zeit nach der Pensionierung am besten lebe, ist endlos.
Dabei geht es immer nur um das Eine: Trotz Alter jung bleiben!
Welch unsinniger Druck!
Wie in einem Gewächshaus
Ein Bild schleicht sich ein: Es ist, als wären die Menschen von einem größeren Wesen, einem Züchter, in einem Gewächshaus gehalten. Sie werden von Anfang an gepuscht, sie müssen die Vorgaben des Züchters erfüllen, sie werden mit Informationen gedüngt, ihre Form und ihr Charakter wird zurecht geschnitten, aufgebunden… und damit die Erträge groß sind und alles schnell genug von Statten geht, wird mit künstlichem Licht und zusätzlicher Wärme und Luftfeuchtigkeit gearbeitet in Form von gesellschaftlichem Druck und medizinischen Eingriffen. Ist die Ernte vorbei, werden die Pflanzen kaum noch beachtet, Sie verwelken und verlieren an Wert.
Bei Menschen heißt das, sie gehören jetzt in die Kategorie „alt“. Sie verlieren damit an Ansehen in der Gesellschaft, denn sie produzieren ja nicht mehr.
Für die meisten Menschen ist dieser Prozess mit Angst verbunden.
Angst vor allen möglichen Verlusten
Aber eigentlich ist es die Angst vor dem Tod, denn der Tod scheint immer näher zu kommen.
Verwelken, Tod… Ende, davor fürchten sich die meisten Menschen.
Und genau deshalb wollen sie unbedingt jung bleiben. Es scheint, als hätten sie völlig vergessen, wie schwierig und belastend es oft war, jung zu sein. Sie halten an allem fest, von dem sie glauben, dass es jung erhält. Sie bleiben „aktiv“.
Sie sehen nur noch das Erstrebenswerte: Die Kraft, Gesundheit, Abenteuerlust. Und diesem Verlust trauern sie nach, darum unternehmen sie alles, um dem Alter zu entrinnen.
Auch sprachlich, man spricht von Älterwerden und älteren Menschen, von Senioren… sie Alte zu nennen, gilt fast als unhöflich.
Wie wäre es denn, wenn das alles ganz anders ist?
Ein Mensch, der aus dem Gewächshaus entfliehen konnte, ist ein Mensch, der Bewusstheit erlangt hat. Er sieht das ganze Leben als immerwährenden Prozess der Veränderung.
Jede Veränderung ist besonders, hat ihre eigene Schönheit.
Jeder Moment des Lebens, jede Phase des Lebens, ist lebenswert, hat ihre eigenen Schwierigkeiten und ihre eigene Schönheit. Keine ist besser als die andere. Wer mitfließen kann mit dem Fluss des Lebens, hat erkannt, dass es nichts gibt, an dem man sich festhalten kann.
Es gibt viele alte Menschen, die sich an ihre Erinnerungen klammern, praktisch nur noch in der Vergangenheit leben und versuchen, sich so am Leben zu halten. Es ist eine Illusion. Die Veränderung ist unabwendbar sowie das Verwelken und Sterben. Aber, ist das denn so schlimm?
Würden wir aufhören damit, alles, was wir mögen, festhalten zu wollen, und alles, was uns nicht gefällt, zu verdrängen, wäre das Leben viel einfacher!
Aber, um das zu erkennen, braucht man Zeit, Ruhe, Entspannung…
Zeit, Ruhe, Entspannung…
Genau diese Eigenschaften schenkt uns das Alter!
Wer bisher keine Zeit und Ruhe zur Besinnung gefunden hat, könnte diese zumindest jetzt genießen und zu tiefen Einsichten gelangen. Daraus würden dann eben die alten, weisen Menschen entstehen, wie man sie in vielen Kulturen gewürdigt hat. Alte Menschen galten als erfahren, als weise. Sie waren gelassen und hatten stets Zeit und Muße, jüngere Menschen zu beraten. Die Weisheit der Alten war geschätzt und integriert in der Gesellschaft.
In unserer jetzigen Welt gibt es Menschen, die nur alt werden und nicht weise.
Sie sind unzufrieden mit ihrem Leben, jammernd über Beschwerden und Krankheiten, verbittert darüber, dass sich das Alter nicht vermeiden lässt. Sie grübeln über Fehler nach und können nicht verzeihen. Von ihnen gehen weder Würde noch Schönheit aus.
Es gibt aber auch Menschen, die alt und weise werden
Es sind Menschen, die nun tatsächlich zur Ruhe gekommen sind. Sie schätzen ihren „Ruhestand“.
Sie strahlen Freude und Frische aus, ungeachtet dessen, wie alt der Körper ist. Ihre Haltung dem Leben gegenüber ist humorvoll, bejahend und gelassen. Ihr Mitgefühl und Verständnis beruht auf Erfahrungen.
Da auch ich mittlerweile schon fünfundsiebzig Jahre lang in meinem Körper lebe, kann ich all denen beipflichten, die das Alter schön finden.
Das Alter schön finden
Jetzt, wo wir, dank der Rente, kein Geld mehr verdienen müssen, können wir uns ganz dem widmen, was uns gerade interessiert und alles weglassen, was nicht mehr interessiert.
Jetzt, wo wir nichts mehr erreichen müssen, können wir uns entspannen. Jetzt, wo wir nichts mehr beweisen müssen, können wir dazu stehen, was wir sind. Alles, was wir ausgiebig gelebt haben, können wir loslassen.
Wir sind frei.
Wir können sagen und tun, was wir wollen.
Wir können uns ernähren und kleiden, wie wir wollen.
Wir können unseren Lebensrhythmus völlig unserem Bedürfnis anpassen.
Und vielleicht das Wichtigste: Wir können uns Zeit nehmen für Beobachtungen.
Beobachtungen unserer Gedanken, Gefühle und unserer Körper.
Beobachten, was sich verändert, wie es sich verändert.
Einfach beobachten.
Akzeptieren.
Dazu gehören auch körperliche Beschwerden und Krankheiten, für die ein alternder Körper allfälliger ist. Auch hier können wir beobachten, was geschieht, es akzeptieren und versuchen zu verstehen, was es uns sagen will. Je weniger wir uns identifizieren mit den Beschwerden, desto weniger Macht haben sie über uns.
Altwerden ist die Zeit der Reife und des Genießens
In Rückschau erkennen, wie viele Möglichkeiten das Leben geboten hat, etwas zu lernen, um innerlich zu wachsen und bewusst zu werden, ist großartig!
Ohne das Erlebte der Vergangenheit zu verurteilen, bietet das Alter die Chance, dankbar zu erkennen, dass alles, aber auch wirklich alles, was geschehen ist, der Bewusstwerdung diente. Es gibt nichts zu bereuen.
Die Einsicht, dass alle Entscheidungen dem jeweiligen Kenntnis- und Bewusstseinsstand entsprochen haben, dass eigentlich nichts hätte anders gemacht werden können in jenem Zustand, führt dazu, das Leben in allen seinen Aspekten wertzuschätzen. Sicherlich gab es schreckliche Momente, traurige und peinliche, aber auch wunderschöne und glückliche. Doch in der Rückschau sind sie alle gleichwertig, sie alle waren notwendig um das zu sein, was wir jetzt sind.
Diese Einsicht ist herzöffnend
Sie verbindet uns mit dem unsterblichen Bewusstsein, mit Liebe. Liebe für uns selbst und Liebe für alles, was existiert.
Im Alter, wo wir nichts mehr „müssen“, uns auf innere und äußere Betrachtungen einlassen können, wo wir Zeit und Muße haben, uns dem zu widmen, was uns interessiert, haben wir die Möglichkeit, endlich ganz unserer Natur entsprechend zu leben. Jeder Mensch ist einzigartig und hat seine eigene Natürlichkeit, seine eigenen Bedürfnisse. Wenn wir das in unserem bisherigen Leben nicht bereits gelernt und danach gelebt haben, so gibt uns das Alter die letzte Chance dazu!
Der Körper altert. Ja, natürlich. Und, weil es eben natürlich ist, ist es auch gar nicht nötig, dagegen etwas zu unternehmen. Wir können wohl Schmerzen zu lindern versuchen mit diversen Mitteln und Möglichkeiten. Aber der Körper altert, und wenn er dem inneren Wesen nicht mehr dient, verlassen wir ihn.
Der Körper stirbt, und das tut er, seit wir geboren sind. Langsam, unaufhörlich. Das ist natürlich. Wir können ihm Sorge tragen, ihn wertschätzen, pflegen. Wir können das tun, was ihm guttut und vermeiden, was ihm schadet. Aber wir können seinen Zerfall nicht verhindern. Weder den geistigen noch den körperlichen, denn auch das Gehirn gehört zum Körper.
Aber was wir können, ist dankbar sein!
Dankbar für alles, was wir erleben in diesem Körper! Auch dann, wenn er durch Krankheit oder Altersbeschwerden eingeschränkt ist. Wir können dankbar sein für alles, was wir noch sind und haben, anstatt dem nachzutrauern, was nicht mehr ist.
Und noch etwas können wir: Uns nach der Freude ausrichten!
Alles, was uns Freude bereitet, tut uns gut, hält uns beweglich. Nicht jung, aber bereit für Veränderungen. Wir können es uns leisten, in unserem persönlichen Leben das, was keine Freude bereitet, weg zu lassen. Wir können es uns leisten, auf Sorgen zu verzichten.
Akzeptanz, Dankbarkeit und Freude
Akzeptanz, Dankbarkeit und Freude sind an kein Alter gebunden!
Zusammenfassend gesagt: Während das Leben damit beginnt, Form und Gestalt anzunehmen und etwas „werden und sein“ zu müssen, so ist das Alter das Loslassen all dieser Eigenschaften. Wir können uns einfach gehen und fallen lassen in das, was ist und die kostbare Zeit genießen, die wir hier verbringen.
Um das Sterben müssen wir uns keine Sorgen machen, denn es kommt von alleine, und es kommt, wenn es Zeit ist dafür. Auch das wird einfach eine Veränderung sein, die Neues in sich birgt.
Mit herzlichen Grüßen
Navyo Brigitte Lawson
14.07.2023
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Mein Name ist Navyo Brigitte Lawson. Ich wurde 1948 in der Schweiz geboren. Bereits seit frühster Jugend war ich auf spiritueller Suche, denn die christliche Religion, in der ich erzogen worden war, erfüllte mich nicht, auch nicht mein Psychologiestudium, das ich mit 30 Jahren begann. …
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