Herzenswünsche – Das rote Fahrrad

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Das rote Fahrrad
Oder: Warum wir unseren Herzenswünschen mehr Beachtung schenken sollten.

Mila lag lächelnd in ihrem Bett. Sie war schon seit mindesten zwei Stunden wach und hörte ihre Eltern leise flüsternd und mit allerlei Dingen herum klimpernd durch die Wohnung schleichen. Mila wusste, dass sie nicht nur den Frühstückstisch deckten, sondern die gesamte Küche festlich schmückten. Im Ofen buken Brötchen und Croissants, die sie sich extra für heute gewünscht hatte und deren Duft ihr das Wasser im Munde zusammenlaufen ließ.

Milas Aufregung wuchs von Minute zu Minute, denn heute war ihr zehnter Geburtstag und heute würde sie endlich ihr rotes Fahrrad bekommen. Nichts wünschte sie sich sehnlicher, von nichts sonst erzählte sie ihren Eltern so oft und so genau, wie von diesem roten Fahrrad.

Das ganze Jahr über war sie besonders folgsam gewesen, hatte fleißig in der Schule gelernt und ihrer Mutter im Haushalt geholfen. Bestimmt würden ihre Eltern sie nun mit einem roten Fahrrad belohnen.
Mila hatte vor fast drei Jahren einen Kinderfilm gesehen, in dem ein Mädchen mit seinem knallroten Fahrrad allerlei Kunststücke vollführte. Und seitdem ging ihr nichts anderes mehr im Kopf herum. Sie sah sich dann immer selbst mit wehenden Haaren und lautem Lachen die Straße hinunter sausen. Und wann immer sie gefragt wurde, was sie sich wünscht, schoss es aus ihr heraus: „Ein rotes Fahrrad!“

Ihre Eltern hatten ihr immer wieder gesagt, dass das ein zu großes Geschenk sei, sie noch zu klein dafür war, gerade das Geld fehlte und so weiter.

Doch dieses Jahr, und das spürte Mila ganz genau, dieses Jahr würde sie zum Geburtstag ein rotes Fahrrad bekommen.

Als Mila schließlich von ihren Eltern in die Küche gerufen wurde und sie die Pakete sah, die liebevoll auf ihrem Geburtstagstisch aufgestapelt waren, stach es ihr wie ein spitzer gemeiner Dorn ins Herz: Kein Fahrrad!

Zuerst tröstete sie sich damit, dass es vielleicht draußen vor der Türe oder im Garten auf sie wartete und fing an, ein Päckchen nach dem anderen zu öffnen.

Milas Mutter hatte sich extra viel Mühe beim Einpacken und Dekorieren gegeben und Milas Vater machte jetzt Fotos zur Erinnerung, während sie gespannt das hübsche Papier von den Kartons riss. Mila wurde wirklich reich von ihren Eltern beschenkt und auch am Nachmittag, als ihre großen und kleinen Gäste eintrafen, war sie erstaunt, welch wundervolle Dinge man ihr mitbrachte.

Dann, als Mila abends völlig erschöpft zu Bett ging, schämte sie sich, weil sie sich nicht richtig über alles hatte freuen konnte. Es war ein wunderschöner Tag gewesen, mit vielen Überraschungen. Der neue Schulranzen war einfach nur klasse! Richtig cool! Und er stand definitiv auch auf ihrer Wunschliste. Doch das alles war eben kein rotes Fahrrad.
Mila schimpfte sich, verschob ihren Wunsch auf Weihnachten und schlief halbwegs beruhigt ein.

Das rote Fahrrad kam weder Weihnachten, noch zum nächsten Geburtstag, und auch nicht in den kommenden Jahren.

Sie wurde immer herrlich beschenkt, doch ein rotes Fahrrad war nie dabei.
Und so drängte Mila ihren sehnlichsten Wunsch zurück und konzentrierte sich auf das, was ihr im Laufe der Jahre begegnete. Dennoch blieb bei aller Vernunft ein Gefühl von Traurigkeit und Hadern in ihr zurück. Klebrig und stichelnd, das sie einfach nicht zur Ruhe kommen ließ.

Als Mila 18 Jahre alt wurde, glaubte sie schon nicht mehr daran, dass ihr großer Wunsch in Erfüllung gehen würde. Sicherheitshalber hatte sie noch einmal überall erwähnt, wie sehr sie sich ein rotes Fahrrad wünscht. Kein Blaues und auch kein Silbernes. Ein Rotes müsste es sein. Und als dann der große Tag kam, traf es sie fast wie ein Schlag: Ihre gesamte Familie und all ihre Freunde hatten zusammengelegt: Und ihr ein rotes Auto gekauft. Mila war sprachlos. Ein eigenes Auto.

„Wir dachten, das ist doch viel praktischer. Jetzt, wo du den Führerschein machst.“, flüsterte ihre Mutter.
Mila lachte und weinte zugleich und sagte sich selbst im Stillen immer wieder, dass ein Auto so viel besser und so viel großartiger ist, als alle roten Fahrräder zusammen.

Ihre Gäste umarmten und beglückwünschten sie von Herzen und freuten sich über ihre Rührung. Doch Milas Tränen traten ihr nicht vor Rührung in die Augen. Es waren Tränen der Trauer und der Enttäuschung.
Wem hätte sie das auch schon sagen können? Wer hätte auch verstanden, dass sie alle roten Autos der Welt mit Liebe gegen ein einziges rotes Fahrrad eingetauscht hätte? Mila fühlte sich schlecht. Feige und undankbar und wütend und traurig.

Also tat sie, was wohl alle irgendwie tun:

Sie redete sich ihr Auto schön und rote Fahrräder schlecht.
Die Jahre vergingen. Aus dem Teenager wurde eine schöne und erfolgreiche Frau, die alles hatte, was ihr Herz begehrte.

Dennoch fühlte sich Mila irgendwie vom Leben verraten und glaubte weder an sich selbst, noch an ihr Glück. Dieses Hadern saß wie ein kleiner fieser Stachel tief unter ihrer Haut.
Inzwischen wusste sie nicht einmal mehr, warum sie nicht wirklich zufrieden war. Sie hatte doch wirklich alles, was sie brauchte und ihr das Leben angenehm machte.
Alles, bis auf ein rotes Fahrrad.


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Wenn wir von solchen oder ähnlichen Geschichten hören, fragen wir uns unwillkürlich, warum sich dieser Mensch seinen Wunsch nicht selbst erfüllt hat.
Aber ist das wirklich so einfach? Wissen wir selbst denn überhaupt, was in uns unerfüllt geblieben ist?
Wahrscheinlich sind wir alle ein wenig wie Mila: bescheiden und angepasst.
Wir sagen uns selbst immer wieder, dass wir würdigen müssen, was wir besitzen und was uns an Gutem begegnet. Und das stimmt natürlich auch.

Doch was ist mit unseren Herzenswünschen?

Warum sorgen wir nicht selbst für deren Erfüllung?
Sind sie vielleicht so verschüttet und verdrängt, dass wir sie kaum noch wahrnehmen? Liegen sie vielleicht in der Abteilung: ‚Sei vernünftig‘?

Unsere Herzenswünsche stehen in Zusammenhang mit dem, was wir wirklich brauchen, um glücklich zu sein. Und zwar aus der tiefsten Mitte heraus. Das, was wir brauchen, um ganz und gar zufrieden leben zu können. Das, was uns ausmacht, unser Wesen. Das, was für uns selbst steht.
Wir können alles rationalisieren, uns ermahnen und ablenken. Wenn es ein rotes Fahrrad sein soll, dann soll es ein rotes Fahrrad sein!

Nicht immer wissen wir so klar und genau, um was es bei unseren Herzensthemen in Wahrheit geht.

Ein rotes Fahrrad ist genauso ein Platzhalter, wie ein neues Handy oder ganz bestimmte Schuhe.
Für Mila bedeutete das Fahrrad Lebensfreude und Lebendigkeit. Und je mehr sie sich anpasste und anstrengte, die Erwartungen von außen zu erfüllen, umso größer wurde die Sehnsucht in ihr, frei zu sein, sich zu spüren und selbstbestimmt ihre Zeit zu genießen. Alles in dem Bild eines roten Fahrrades zusammengefasst.

Wenn wir unsere Herzenswünsche kennen, lassen wir sie oft nicht hoch in unser Bewusstsein kommen, wo wir für ihre Erfüllung Sorge tragen könnten. Vielleicht, weil uns das Angst macht, wir es uns nicht erlauben oder weil es vielleicht auch eine gewisse Anstrengung und Veränderung bedeuten würde. Stattdessen hoffen wir darauf, dass andere unsere Wünsche erraten und sie uns dann erfüllen.

Wir werden jeden Tag vom Leben gesegnet und reich beschenkt.

Diese Geschenke gilt es zu ehren, -ohne unsere Herzenswünsche zu verleugnen, zu vergessen oder zu verdrängen.

Wenn uns bewusst ist, wonach wir uns im Verborgenen sehnen, dann können wir all das, was das Leben uns schenkt, willkommen heißen und genießen. Wenn uns bewusst ist, was es in uns zu erfüllen gibt, dann können wir lachend durch die Jahre laufen und unser Herzensthema mit uns tragen, wie einen kostbaren Schatz, den wir immer wieder betrachten und von dem wir uns berühren lassen. Und wenn wir diese tiefen Sehnsüchte in unseren Herzen ernst nehmen, dann können wir uns auch um ihre Erfüllung kümmern.

Wonach also sehnt sich dein Herz?
Was würde dich wirklich zufrieden machen?
Und welche Bilder kommen dir immer wieder in den Sinn, wenn du an deine geheimsten Wünsche denkst?

Mach dich auf den Weg!
Du bist es wert!

30.10.2022
Namasté!
Heike Erbertz


Heike Erbertz
Heike Erbertz 2021
„Schon immer habe ich „um die Ecke“ gedacht und war sehr feinfühlig, konnte die inneren Themen der Menschen, ihre „inneren Kinder“ wahrnehmen.
Mein Weg führte von der Pädagogik zur Therapie und zur Gesundheit, weiter zur Spiritualität und wieder zurück.
Mich faszinieren Zusammenhänge, das große Ganze genauso, wie das kleinste Detail.
Zufriedenheit bedeutet für mich, Balance im sich immer wandelnden Rhythmus der Natur, im ewigen Werden.“

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