Zwischen absolut und relativ – nachhaltige innere Öffnung verstehen und leben

Frau steht in einer Tür zwischen hell und dunkel

Zwischen absolut und relativ – was nachhaltige innere Öffnung braucht

Innere Öffnung ist ein zentrales Thema auf dem spirituellen Weg – doch nachhaltige Offenheit entsteht nicht allein durch Absicht. Sie erfordert das Zusammenspiel von absoluter Offenheit und einer entwickelten relativen Ebene, die Selbstschutz, Selbstachtung und klare Grenzen ermöglicht. Sara Gnazou zeigt in diesem Beitrag, warum viele Öffnungserfahrungen instabil bleiben und wie wir Schritt für Schritt eine stabile und authentische Offenheit entwickeln können.

Öffnung und der Rückfall in den Schutzmodus

Leben will leben! Diesen Lebensdrang spüren will alle – insbesondere, wenn wir uns zum spirituellen Weg hingezogen fühlen. Das Leben in uns will sich von den Konditionierungen, Wunden und falschen Selbstbildern befreien, es will sich bewegen und ausdrücken können. Wir wollen unsere Lebendigkeit nicht länger zurückhalten und schädliche Dynamiken fördern, sondern die Wahrheit leben. Die Rufe sind laut und hörbar – lass dein Licht leuchten, bring deine Liebe in die Welt. Solch spirituelle Parolen lassen diesen Weg oft als eine einfache Entscheidung, der es nur zu folgen gilt, wirken.

Ehrliche Betrachtung des Schutzmodus

Wer eine ehrliche Bewusstseinspraxis betreibt, muss jedoch unweigerlich feststellen, dass die Entscheidung nicht gleich den Weg freiräumt. Wir wollen uns öffnen und haben die besten Intentionen. Doch erleben dann, wie wir uns verschließen, alte Muster greifen oder die Situationen zu herausfordernd wirken. Die bekannten Dynamiken sind zurück und wir verfallen in den Schutzmodus. Auch wenn nun Malas getragen werden und man sich zur Friedensmeditation trifft – oft mit einer Enttäuschung wird deutlich, auch in spirituellen Kreisen spielen sich die sozialen Verdrehungen und gewaltsame Lebensweisen ab.

Mentale Aufforderungen scheitern

Die Aufforderung die Projektionen zurückzunehmen und die Erinnerung an unser unsterbliches Wesen, dass keinen Schutz braucht, verlaufen sich in mentalen Überzeugungen ohne tatsächliche Verkörperung. Es sind eher spirituell aufgeputschte Sätze als Wahrheitsanker, die auch bei heftigen Stürmen Halt bieten. Vielmehr führen diese an sich wahren Weisheiten in eine Bekräftigung von spiritueller Scham und Schuld darüber, noch nicht innerlich geöffnet zu sein. Der Druck wächst und der Gedanke, etwas falsch zu machen, nährt sich von den Selbstzweifeln und Fragen.

Die Offenheit und Schutzlosigkeit des Kindes

Energetischer Ausflug in die Kindheit

Gehen wir aber davon aus, dass das Leben intelligent ist, entstehen die Fragen: warum ist die Öffnung so schwierig? Warum verschließen wir uns so schnell wieder? Was gibt es hier für tiefere Zusammenhänge?
Ein kleiner energetischer Ausflug in die Entwicklungspsychologie erweist sich als hilfreicher Schlüssel. Als Kinder sind wir offene Systeme. Die Energie rauscht durch uns, wie durch das ganze Umfeld. Was kommt, das kommt. Was nicht kommt, kommt nicht. Wir haben noch keine Individualität ausgebildet und somit auch keine aktive Gestaltungskraft. Wir sind offen, empfänglich für alles. Manche Stimmen glorifizieren diese kindliche Offenheit als Erleuchtungszustand. Dem stimme ich nicht zu und sehe eine sehr wichtige Unterscheidung. Kinder sind mit dem Leuchten des Lebens verbunden, jedoch ohne Differenzierung und Bewusstheit. So offen sie sind, so ausgeliefert sind sie auch. Ihre Offenheit ist nicht die Offenheit eines Weisen, der das Leben in allen Formen gemeistert hat! Die Offenheit eines Kindes bedeutet höchste Schutzlosigkeit.

Die Welt des Kindes: absolut offen und relativ unentwickelt

Die Schutzlosigkeit ergibt es aus einem System, was absolut offen ist und auf der relativen Ebene keine Verschließung oder Abgrenzung entwickelt hat. Die absolute Öffnung lässt sie wie kleine Buddhas mit Lebensfreude strahlen, doch auf der relativen Ebene naiv und unverantwortlich sein. Sie haben keine innere Haltung, Selbstachtung und Grenzen entwickelt. Ein unausgebildetes kindliches Nervensystem weiß nicht, um die Herausforderungen der Welt, und kann dementsprechend nicht damit interagieren. Sie würden ungehindert durchrauschen.
Deswegen brauchen Kinder Eltern oder andere Erwachsene, die diese Aufgabe für sie übernehmen. Sie filtern, was das Nervensystem des Kindes auf der relativen Ebene nicht erkennen und aussortieren kann. Im Laufe der Kindheit entwickelt das Wesen die relative Ebene mit einer abgrenzungsfähigen, resourcvollen Individualität, die mit anderen abgrenzungsfähigen, resourcvollen Individualitäten interagieren kann. Das Kind wird zu einem Erwachsenen, der sich nicht mehr an Eltern orientieren muss und auf ihren Schutz angewiesen ist, sondern aus sich selbst heraus durch die Welt mit allen Herausforderungen, Dramen und Horrorszenarien navigieren kann.

Von relativer Schutzlosigkeit zur absoluten Verschließung

Innere öffnung Frau steht in einer Tür zwischen hell und dunkel
KI unterstützt generiert

Fast kaum jemand erlebt eine komplette Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen natürlich. Die meisten bleiben im frühkindlichen Bewusstsein mit seiner Schutzlosigkeit stecken. Statt der Entwicklung einer Individualität mit klaren Grenzen, die selbstverantwortlich und zentriert gelebt werden können, erfahren sich viele in starker Schutzlosigkeit, die zu Kompensation und falscher Stärke führt. Die Maske des Erwachsenen wird getragen, dahinter versteckt bleibt die Kindlichkeit. Hier liegt der Ursprung der meisten Lebenskonflikte. Wir wehren das Leben und all die Herausforderungen ab, weil durch sie die Schutzlosigkeit der Kindlichkeit berührt werden würde. Unser Wesen scheint von vielen Situationen des Lebens einfach weggespült werden zu können. Wir wollen Spaß und Freude, doch mit den Herausforderungen fühlen wir uns schnell überfordert oder werden hart dabei.
Für ein Kind ohne stellvertretende Schutzpatronen ist die absolute Verschließung zum Leben die einzige zugängliche Option. Auf der relativen Ebene hat das Kind noch keine Intelligenz entwickelt. Es bleibt nur die absolute Offenheit zu beenden. So entstehen die Schutzmechanismen. Wenn der relative Schutz fehlte und Gefahr jeglicher Art drohte, verschließt sich an dieser Stelle der Zugang zum Leben generell. Die weite Offenheit und das Leben selbst werden als ein Problem im Nervensystem abgespeichert. Härte und Abwehr scheinen unumgänglich, um durch die Welt gehen zu können.

Vom relativen Schutz zur absoluten Öffnung

Die zweite Begegnung mit der Schutzlosigkeit

Sind wir auf dem spirituellen Weg und wollen uns wieder für das Leben öffnen, wieder ein absolutes Ja leben, müssen wir den Mechanismus hinter unserer Verschließung mit einkalkulieren. Wir haben uns nicht verschlossen, weil wir herzlose Wesen sind oder es uns an Intelligenz mangelte. Vielmehr haben wir uns verschlossen, weil wir auf der relativen Ebene unentwickelt waren.
Öffnen wir uns nun wieder für das Leben, werden wir die gleiche Schutzlosigkeit erleben. Ein zweites Mal kommen wir mit dieser Wunde in Berührung. Wir fallen wieder in die kindliche Ohnmacht, uns nicht selbst schützen zu können. Das ganze Drama, der immense Schmerz und die Ausweglosigkeit werden uns in voller Wuchtigkeit entgegenwehen. Das Nervensystem ist aktiviert, die Welt droht auseinanderzubrechen. Das ist der Punkt, wo die alten Mechanismen wieder greifen und die absolute Verschlossenheit attraktiv erscheint.

Unbewusste Lösungsversuche und ihre Grenzen

Viele schwanken an dieser Stelle zwischen den zwei Extremen und suchen unbewusst nach Lösungen für dieses Dilemma. Es werden die perfekten Menschen gesucht, wo man sich, ohne wieder verletzt zu werden, öffnen kann. Man kann sich ein spirituelles Ego zulegen und mit spirituellen Praktiken versuchen, sich für die schmerzhaften Erfahrungen der Schutzlosigkeit unberührbar zu machen. Oder man beginnt zu missionieren und versucht “die Welt zu retten”, damit das schutzlose Kind in einer vollkommenen heilen Welt keiner Bedrohung ausgesetzt ist… die Liste der unbewussten Lösungsversuche ist sehr lang.
All diese Versuche sind zum Scheitern verurteilt und halten uns in der Kindlichkeit. Wollen wir uns entwickeln und der kindlichen Misere entwachsen, müssen wir der Schutzlosigkeit bewusst innerlich begegnen und die Zusammenhänge für uns selbst erkennen. Wir müssen das Kind und die kindliche Not in uns verstehen, nur dann ist eine grundlegend neue Antwort möglich.

Entwicklung der relativen Ebene nachholen

Bei tieferer Reflektion und Bewusstwerdung dieses grundlegenden Mechanismus eröffnet sich eine neue Option – die relative Ebene zu entwickeln. Wenn wir uns für das absolute Leben öffnen wollen, können wir diese Öffnung nur beibehalten, wenn wir uns gleichzeitig für die relative Ebene öffnen. Die relative Ebene beinhaltet eine Individualität mit einer aufgerichteten, würdevollen Haltung, Selbstachtung und Selbstverantwortung. Diese starke Individualität kann sich schützen und dienliche Entscheidungen treffen, um das eigene Leben aufrechtzuerhalten. Das entsteht nicht über Nacht und auch nicht in einem Jahr. Es sind konkrete Fähigkeiten und Ressourcen, die aufgebaut werden.

Konkrete Fähigkeiten eines Individuums

  • Einsicht in die Innenwelt als Ursache der eigenen Erfahrung

  • Regulationsfähigkeit des Nervensystems

  • Das Nein erkennen und verkörpern

  • Körperliche Kraft und Gespür aufbauen

  • Selbstverantwortung und eigenen Energieraum entwickeln

  • Die eigene Konstitution und Tendenzen kennen

  • Beziehungs- und Kommunikationsfähigkeit ausbilden

  • Psychologische Dynamiken erkennen und erlösend begegnen

  • Sich mit dem Leben in allen Formen verbinden und ehren

  • Sich mit Themen und Lebensrealitäten konkret auseinandersetzen

Schutzlosigkeit wandelt durch Bewusstwerdung

Was für ein Kind zu überfordernd ist, führt einen Erwachsenen in die Reifung. Die Herausforderungen dieser Welt sind die Hanteln unserer inneren Muskeln. Die Schattenaspekte des Lebens führen uns in eine tiefere Kontemplation, Ganzheit und Verbundenheit mit dem Leben. Die Erschütterungen und Enttäuschungen kindlicher Vorstellungen machen den Weg für eine gefestigte Selbstorientierung frei. Die Begegnung mit den Verletzungen und Wunden führen zu einer Aufrichtung und selbstverantwortlichen inneren Haltung.

Relative Individualität schützt vor Destruktivität

Es ist die Ausbildung einer inneren Haltung und Selbstachtung, die eine starke Individualität entstehen lässt. Individualität bedeutet in diesem Kontext nicht Originalität oder Besonderheit, sondern das universelle Leben in einer bestimmten, separaten Form leben zu lassen. Diese Individualität kann sich als ein Teil des absoluten Lebens verstehen und gleichzeitig sich auf der relativen Ebene der sich verändernden Formen schützen und versorgen.
Das Ja zum absoluten Leben ist dann nicht gleichbedeutend mit Schutzlosigkeit, wie es von dem Kind ohne entwickelte Individualität erlebt wird. Das Ja zum absoluten Leben kann sich in die relative Ebene ergießen und dort von destruktiven, selbstzerstörerischen Lebensweisen geschützt werden. Durch diese relative Entwicklung findet in Schlichtheit und Natürlichkeit eine Öffnung statt, die auch nachhaltig aufrechterhalten und stetig erweitert werden kann.

Öffnung als schrittweise Reifung

Die innere Öffnung ist demnach nicht von einem guten Willen oder einer kraftvollen Entscheidung abhängig, sondern vielmehr ein natürliches Resultat von einer gesunden menschlichen Reifung und einem mehrstufigen Prozess, der die Begegnung mit Schutzlosigkeit und Grenzentwicklung einbezieht. Statt eine spontane Öffnung zu erreichen, ist es weiser, sich auf die schrittweise Entwicklung eines ganzheitlichen Wesens mit einer Grenzen kennenden, achtungsvollen sowie resourcvollen Individualität einzulassen. Eine kontinuierliche Forschung kann aus diesen abstrakten Worten ein neues verkörpertes Selbstverständnis werden lassen.


FAQ – Häufig gestellte Fragen zur inneren Öffnung

Was ist der Unterschied zwischen absoluter und relativer Öffnung?
Absolute Öffnung meint die uneingeschränkte Offenheit zum Leben, während die relative Ebene gesunde Abgrenzung, Selbstachtung und Selbstschutz umfasst. Beides zusammen macht nachhaltige Öffnung möglich.

Warum verschließen wir uns oft wieder nach spirituellen Öffnungserfahrungen?
Weil unser Nervensystem alte Schutzmechanismen aktiviert. Ohne entwickelte relative Ebene fühlt sich Offenheit wie bedrohliche Schutzlosigkeit an.

Wie kann ich meine relative Ebene entwickeln?
Durch Fähigkeiten wie Selbstregulation, klare Grenzen, körperliche Stärke, bewusste Kommunikation und Selbstverantwortung.

Reicht spirituelle Praxis allein für nachhaltige Öffnung?
Nein – ohne psychologische Reifung und innere Stabilität bleibt Öffnung oft instabil.


16.08.2025
Sara Gnanzou
www.tiefbewegt.blog

Lesungen im BewusstseinsFeld

Alle Beiträge der Autorin auf Spirit Online

Über die Autorin Sara GnanzouPortrait Sara Gnanzou

Mein Lebensweg hat mich zu einer detektivartigen Selbsterforschung geführt. Dabei habe ich eine innere Neugeburt durchlebt und mich innerlich auf die Wahrheit ausgerichtet. Dafür musste ich intensiver spiritueller Praxis und Reinkarnationsforschung nachgehen. Ich tauchte in die Schattenwelt, ging durch intensive Krisen und begegnete individuellem sowie kollektivem Trauma. Durch die Wandlungsprozesse öffnete sich mein Seelenweg und eine sich schrittweise entfaltende Beziehung zum Leben.

»»» Mehr erfahren