Reine Sicht als Tor zu höheren Welten
Normalerweise assoziieren Menschen ihre Vorstellungen vom Himmel mit wunderschönen Astrallandschaften, prächtigen Formen subtiler Wesen und verschiedenen Arten exquisiter Freuden. Alle diese Dimensionen und ihre Manifestationen existieren.
Zuerst ist es jedoch wichtig, zu verstehen, was die Entsprechungen derartiger reiner Dimensionen im Inneren jedes Menschen hier und jetzt sind und wie diese Dimensionen im Inneren und im Außen miteinander verbunden sind.
Samsara als Leben in der Unwissenheit
Wir leben in einer Dimension unreiner karmischer Sichtweisen, die als Samsara oder als Kreislauf von Geburt und Tod bezeichnet wird. Der Grund für das Leben der Menschen und der anderen Wesen in dieser Dimension ist deren Unwissenheit über ihre eigene Natur und über die Welt im Allgemeinen.
Die Beseitigung der Unwissenheit auf der Ebene des Verstandes erfolgt durch das Studium der heiligen Schriften und der Philosophie des Advaita Vedanta. Die Beseitigung der Unwissenheit auf subtileren Bewusstseinsebenen und auf der Ebene der Energie ist durch Meditationspraxis und zahlreiche andere Methoden erreichbar, die in jeder Tradition ein wenig unterschiedlich sind.
Urquelle des Seins ist eine einheitliche Bewusstseinssphäre
Die Urquelle des Seins eine einheitliche Bewusstseinssphäre, in der die endlosen Unterteilungen in subtile und grobe duale Manifestationen des Bewusstseins noch nicht begonnen haben. Zu Beginn einer solchen Aufteilung in Objekt und Subjekt ist das Bewusstsein noch sehr subtil, erhaben, mit unendlichen Energien erfüllt und kann als Sat (Sein), Chit (Bewusstsein) und Ananda (Glückseligkeit) beschrieben werden. In dieser Dimension gibt es nichts als endlose Möglichkeiten, erhabene Energie und erstaunliche Klarheit. Dies ist die Dimension des Nirvana oder der Leere, bis zum Rand gefüllt mit allen unaussprechlichen Möglichkeiten von Manifestationen.
Je näher das Bewusstsein eines Menschen dieser Dimension ist, desto reiner ist seine Wahrnehmung von sich selbst und von allem, was er beobachtet.
Welche Bewusstseinsqualitäten müssen vorhanden sein, um sich der Quelle und der einheitlichen Sphäre zu nähern?
Erkenntnis der Leerheit als Schlüssel zum Glück
Zunächst ist es notwendig, die Leerheit aller Manifestationen und das Fehlen ihrer unabhängigen Existenz zu erkennen. Alle Phänomene sind miteinander verbunden und es gibt nichts außer dem Bewusstsein der Quelle – der Natur des Geistes – mit der Eigenschaft einer Existenz aus sich selbst heraus. Alle Phänomene sind ihrem Wesen nach vergänglich und leer. Um dies zu verstehen, muss man die eigene Illusion der eigenständigen Existenz von Phänomenen und die eigene Bindung an die gewöhnliche Wahrnehmung beenden.
Es ist auch notwendig, mindestens einmal die Leere sowohl des eigenen Geistes zu erleben, ebenso von all dem, was dieser Geist in seine Wahrnehmung hineinlegt.
Kultivierung der subtilen Energie
Darüber hinaus ist für einen Menschen, der danach strebt, erhabene und gesegnete Dimensionen in seinem Bewusstsein zu finden, seine Energie wich-tig. Heilige pflegen ihre Energie durch die jahrelange Praxis von Exerzitien und verfeinern sie zu einem unaussprechlich subtilen Bewusstsein jenseits des konzeptuellen Geistes.
Um etwas Reines und Erhabenes wahrzunehmen, muss sich das wahrnehmende Subjekt sowohl seiner eigenen Leere als auch der Leere des wahrgenommenen Objekts bewusst sein. Eine durch Übungen gereinigte Bewusstseinsenergie macht Wahrnehmungen erhaben, göttlich und verspielt und löst Freude und Glück aus. Diese Ebene kann jeder Mensch erreichen, der den spirituellen Weg geht und dabei Erfolg hat.
Reine Sicht kann sowohl natürlich sein, als auch im Prozess der spirituellen Praxis und Verwirklichung auf der Ebene des Glaubens und des Verstehens entstehen. Diese zweite Ebene ist jedoch ebenfalls von großer Bedeutung, und beide Ebenen sind miteinander verbunden. Sobald ein Mensch die dem Universum zugrundeliegenden Prinzipien erkennt, kann seine reine Sicht spontan entstehen. Es ist notwendig, eine solche Sichtweise durch die regelmäßige spirituelle Praxis und die Arbeit an sich selbst aufrechtzuerhalten.
Reine Sicht im Tantra
Die göttliche (reine) Sicht wird im Tantra als eine wichtige Qualität erwähnt. Reine Sicht bedeutet, dass alles so gesehen wird, wie es wirklich ist. Das meint nicht die übliche fehlgeleitete Vorstellung, dass die Erde nur fester Boden sei, Wasser nur Wasser, Wind eben Wind und so weiter. Tatsächlich sind die fünf Elemente fünf Gottheiten; die fünf Elemente des Körpers sind ebenfalls fünf Gottheiten und so weiter. Unter Gottheiten versteht man eine äußerst subtile Energie, die dem Absoluten sehr nahe ist.
Unreine Sicht ist samsarischen Wesen eigen. Das Universum samsarischer Wesen in unreiner Sicht besteht aus mentalen Prägungen im Geist der Wesen. Diese Prägungen resultieren aus ihren vergangenen Karmas (Handlungen und Eindrücken). Es gibt kein Universum außerhalb unserer karmischen Sicht. Wir sehen das, was wir in früheren Hunderten oder Tausenden von Inkarnationen gewohnt waren, wahrzunehmen. Es gibt unzählige Möglichkeiten, das Universum und sich selbst darin zu empfinden.
Karmische Sicht der Wesen
Die Perspektive hängt davon ab, welche mentalen Prägungen in unserem Bewusstseinsstrom geschaffen werden. Im absoluten Sinne existiert das Universum nicht. Es ist ein Spiel der Energie der Leerheit, das von jedem gemäß seiner mentalen Einstellung (bhava) interpretiert wird.
Höllenwesen oder Pretas sehen das Universum ganz anders. Es wäre jedem unangenehm, überhaupt in der Nähe solcher Wesen zu sein. Man stelle sich vor, man sitzt neben einem Menschen, der alles nicht mag, der immer mit allem unzufrieden ist. Man denkt: „Vielleicht muss man ihm helfen.“ Und man sagt: „Hier ist dies, hier ist das.“ Nach einer Weile versteht er es, aber er mag es immer noch nicht. Man ist überrascht, man gibt ihm noch mehr, alles, was man hat. Aber er findet einen Fehler sogar in der Tatsache, dass man ihm das Beste gibt, und es gefällt ihm immer noch nicht.
Dann analysiert man sein Bewusstsein und sieht, dass ihm im Prinzip nichts gefallen kann. Und dass es hier eben nicht auf die Umstände, sondern auf seine Einstellung ankommt, die irgendwie von innen verändert werden muss. Dann versteht man, dass nur eine neue Verkörperung das Problem beheben kann. Man kann nichts dagegen tun und sollte lieber auf Distanz gehen.
Ein Wesen, das die Welt durch das Prisma der Asuras (der kriegerischen Götter) sieht, ist ganz anders. Es hat Kraft, Pathos, Heldentum und gleichzeitig eine starke Tendenz zu Kampf und Kritik. Ist man mit einem solchen Wesen zusammen, fordert es einen ständig heraus. Ein Grund dafür ist dabei unwichtig. Gibt es keinen Grund, wird es ihn finden. Dies ist einfach ein Leben im Zustand von Herausforderung, Kämpfen und Gewinnen. Es ist eine innere Energie, die den Raum derart verzerrt. Nimmt man diese Herausforderung an, tritt man in diese karmische Sicht ein. Will man nicht ständig in einem solchen Zustand leben, ist es besser, sich von solchen Wesen fernzuhalten. Denn das bedeutet, dass man eine andere karmische Sicht hat.
Jedes Lebewesen krümmt Raum und Zeit gemäß seiner karmischen Sicht.
Befindet man sich im selben Strom von Raum und Zeit, bedeutet dies, eine ähnliche karmische Sicht zu haben. Wenn du mit einem heiligen Wesen kommunizierst, sieht es nichts als das Absolute. Sein Bewusstsein ist wie eine Insel aus Gold. Du beleidigst es – es sieht dies als die Gnade des Absoluten. Du lobst es – es sieht dies als ein Lob des Absoluten. Du tust nichts – es sieht dies als die Passivität des Absoluten. Du baust eine Beziehung zu ihm auf – es sieht dich als das Absolute. Es kann nicht von diesem Standpunkt der absoluten Sicht entfernt werden; dies ist eine völlig andere Sichtweise.
Deshalb ist die Praxis der reinen Sicht ein Weg, sich nicht darin zu bestätigen, dass alles so ist, wie es eben doch nicht ist. Sondern man muss lernen, alles so zu sehen, wie es wirklich ist. Im Wesentlichen ist Tantra nichts anderes als ursprüngliche, reine Sicht. Man darf sich nie von ihr trennen. Die äußere Welt ist rein, alle Lebewesen sind Gottheiten. Sogar Hunde und Schweine, obwohl sie wie unreine Kreaturen aussehen, haben immer noch die erleuchtete Essenz in ihrem Bewusstsein.
Während man übt, beginnt man zu erkennen, dass nicht alle Dinge so sind, wie sie scheinen. Es ist wie in einem spannenden Film, in dem es zum Schluss eine Auflösung gibt. Plötzlich kommt eine Wendung, am Ende des Films entsteht ein Höhepunkt: ein Fingerschnippen, und alles ist genau anders herum wie zuvor. Der ganze Film wird nun aus einer anderen Perspektive betrachtet. Zusammen mit der Hauptfigur dachte man, dass alles auf eine bestimmte Weise passiert sei. Jetzt stellt sich jedoch heraus, dass alles so aufgebaut bzw. gemacht war, dass man es nur am Ende richtig verstehen konnte.
Der spirituelle Weg ist in etwa so. Also muss man sich daran gewöhnen, dass nicht alle Dinge so sind, wie sie scheinen. Am Ende deines spirituellen Weges entdeckst du es selbst. Die Menschen um dich herum mögen Gottheiten sein. Das Land, in dem du dich befindest, mag ein reines Paradies sein. Und du selbst magst ein Buddha sein….
Das war ein Auszug aus dem Buch „Leben in der Multirealität. Parasattarka Logik“ von Swami Vishnudevananda Giri
29.08.2024
Swami Vishnudevananda Giri
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Leben in der Multirealität: Parasattarka Logik
von Swami Vishnudevananda Giri
Leben in der Multirealität – „Ich denke, also bin ich.“ – Dieses Lebensgefühl ist den meisten Menschen eigen. Die alten vedischen Schriften sagen jedoch, dass Denken eine Art künstliches Leben darstellt. Die wirkliche Existenz und die Präsenz des Bewusstseins sind keine Denkprozesse, sondern jenseits des Verstandes in der Natur des Geistes verankert.
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Swami Vishnudevananda Giri (Swami Vishnudev) ist ein spiritueller Lehrer in den Traditionen des Advaita Vedanta und des Yogas, ein Sadhu, ein realisierter Meister und Jnani in der Linie des Advaita Vedanta, Philosoph, Theologe und Schriftsteller. Er stammt aus der yogischen Tradition des Sahajayana, des natürlichen Weges der Siddhas, er ist Linienhalter einiger Übertragungslinien des Yogas der Siddhas und spiritueller Meister für viele Schüler in Ost- und Westeuropa, den USA und Indien. Er wurde 1967 in der Ukraine geboren.
Seine spirituelle Praxis und Meditation begannen im Alter von 6 Jahren von selbst, indem er sich intuitiv auf Erinnerungen aus der Vergangenheit stützte. Er hat den Sanatana Dharma als seinen religiösen Weg im Alter von 19 Jahren angenommen. Er absolvierte einige intensive Retreats, deren längstes fast 3 Jahre andauerte. Als Resultat dieses letzten Retreats in den Jahren 1993-1995 erreichte er Samadhi und Realisation.
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