Schöpferisches Chaos und kosmische Ordnung – Die Welt der Wahrscheinlichkeiten
„Wegen der Unendlichkeit und der Allmacht des Bewusstseins wird diese kosmische Ordnung als erfüllt von Intelligenz gesehen.“
(Yoga Vasishtha, 6.2.187, „Die Geschichte von Kundadanta“)
Schöpferisches Chaos – Wir leben in einer Welt, die uns mehr oder weniger geordnet vorkommt. Auf bestimmte Art ist dies auch so. Die Ordnung, die wir wahrnehmen, kommt jedoch zum großen Teil aus der Schicht der mentalen Abdrücke der Vergangenheit (Samskaras) in unserem Bewusstsein. Diese sind bei jedem Menschen etwas anders. Die Prägungen von Menschen, die zur selben Zeit an einem Ort leben, ähneln sich. Das gilt analog auch für Mentalität von Völkern und in verschiedenen Zeitepochen. Unterschiedlich geprägte Menschen nehmen die Welt und ihre Ordnung jeweils auf ihre ganz bestimmte Art und Weise wahr.
Die Sicht der Welt aus der Dimension des „Ich bin“
Ein erleuchtetes Bewusstsein, das in der Dimension von „Ich bin“ lebt, sieht die Welt anders. Solch ein Bewusstsein ist frei von Abdrücken der Vergangenheit und befindet sich im ewigen Hier und Jetzt, in Kontemplation, in einer leeren und lichtvollen Bewusstheit jenseits von Namen und Formen. Die Welt wird dann aus dem Zustand ihres Ursprungs gesehen, und sie wird mit jedem Akt des Bewusstseins neu gesehen, sozusagen erschaffen und aufgelöst.
„Eine momentane Bewegung innerhalb des Bewusstseins wird von diesem betrachtet als „dies ist die Schöpfung“. Gibt es dann eine weitere momentane Bewegung von Energie im Bewusstsein, betrachtet dieses es als „dies ist eine Epoche. … In ihrem Wesen sind ein Augenblick und eine Epoche ähnliche Bewegungen der Energie im unendlichen Bewusstsein. … In dieser Welterscheinung sind die Eigenschaften der verschiedenen Objekte selbst verschieden. In Wirklichkeit jedoch wurden sie alle nicht als diese Objekte erschaffen. Nur das unendliche Bewusstsein erscheint als all dies. Die Art und Weise, in der diese Dinge so lange zu existieren scheinen, wie sie existieren, nennt man die Natur oder die kosmische Ordnung, Niyati.“
(Yoga Vasishtha, 6.2.187, „Die Geschichte von Kundadanta“)
Ein Mensch, der Realisation erlangt hat, lebt nicht in einer gewöhnlichen Welt, sondern in einer Dimension, die das ganze Universum als Same enthält. Dort ist alles, in einem unkonkretisierten, nur in Form von Wahrscheinlichkeiten ausdrückbarem, unbestimmten Quantenzustand des Anfangs oder des Endes des Universums. Beides ist im Prinzip dasselbe.
Das ist die Welt der ersten Ursachen von allem. Eine Welt, in der alles noch im Entstehen ist. Sie existiert lediglich als Potenzial und unmanifestierte Möglichkeit, als zukünftige Manifestation. Ein Weiser (Jnani) lebt in dieser Dimension, in der das Universum noch nicht geboren wurde, in einer Welt, in der die Zeit ihren Gang noch nicht angetreten hat und der Raum seine Metrik noch nicht erfahren hat. Dort, wo die Konstanten und die Gesetze der Physik noch nicht festgelegt sind, noch ungeformt sind. In einer Welt, in der es nur Ursachen gibt, jedoch noch keine Wirkungen daraus.
Dies ist möglich, weil sich ein großer Teil des Bewusstseins in subtiler Leerheit, Klarheit und Glückseligkeit befindet.
In dieser Dimension ist alles möglich, in ihr werden in jedem Moment Universen erschaffen und wie Blasen auf dem Wasser wieder zerstört. Die Zeit existiert als Embryo und bereitet sich erst noch darauf vor, als Geschichte in Gang zu kommen.
Die Dimension der Uranfänge und der Urprinzipien ist die Dimension der wirklichen Realität
Die Welt eines Jnanis ist die Welt des ursprünglichen Weltenchaos, die Dimension der Uranfänge, die Welt der Urväter der Schöpfung. Das ist die wirkliche Ebene der Realität, das Sein, so wie es ist, und nicht so, wie es dann in der Dimension manifestierter Illusionen (Samsara) erscheint.
Diese Ur-Welt gleicht einem Topf voller Quanten, in dem unzählige Wahrscheinlichkeiten und Möglichkeiten brodeln. Die Samen zukünftiger Varianten von Universen erscheinen dort und lösen sich wieder auf.
In dieser Welt bestehen Hyper-Instabilität und Hyper-Stabilität gleichzeitig. In ihr hat sich noch nichts konkretisiert, bestimmt oder geordnet. Nichts ist bereits eindeutig, eingefroren und eingegrenzt.
In dieser Welt gelten die Gesetze der Physik von Newton und Einstein nicht.
Es ist dies eine Welt puristischer Quantenmechanik, eine Welt voller Freiheit und erschreckender Unbestimmtheit. In ihr ist alles möglich. Jede Bewegung des Bewusstseins wird in jedem Moment manifestiert, und eine neue Variante des Universums wird so erschaffen.
Es ist eine zauberhafte Welt, in der Wille und Ursache von allem erst geboren werden, es ist die Dimension der Essenz des schöpferischen Willens. Das ist der Ort, an dem die Ursachen aller Objekte dieser Welt liegen, die Embryos aller Universen. Auch die Samen aller in allen Zeiten möglichen Ereignisse existieren dort als Potenzial aller Erscheinungen und Energien.
Der Übergang in die Dimension des Uranfangs
Alle unendlichen Kräfte des Universums befinden sich hier in einem einheitlichen, komprimierten Zustand. In dieser Welt geschieht nichts, und es geschieht doch alles gleichzeitig.
Die Herrscher des Chaos, die Schöpfer des Ursprungs des Universums, die großen Vorväter und Bewahrer von Welten entstehen erst hier. Es ist eine Welt höchster Heiligkeit, die selbst göttliche Wesen in Ehrfurcht versetzt.
Das große Wissen (Jnana) zu erhalten, bedeutet, in diese Welt zu wechseln. Der Prozess der Erleuchtung ist ein allmählicher Übergang in die Dimension des Uranfangs. Wie ein Tropfen, der in einen Ozean fällt, gerät ein Wissender (Jnani) in diesen sprudelnden, alchemischen Topf der Ewigkeit. Sein individuelles Bewusstsein löst sich dort zum großen Teil auf, und er wird selbst zur Ewigkeit.
Das alles bedeutet die richtige Freiheit. Sie ist die Freiheit des ewigen Bewusstseins von nicht ewigen Phänomen und vom Gefühl der Vergänglichkeit sowohl von sich selbst als Person als auch der Welt.
Teile des Artikels wurden dem Buch „Ich bin. Spirituelle Alchemie des inneren Universums“ von Swami Vishnudevananda Giri entnommen.
Mehr dazu finden Sie auf https://de.advayta.org und in den Büchern von Swami Vishnudevanda Giri „Laya Yoga. Das Leuchten der kostbaren Geheimnisse“, „Nada und Jyoti Yoga“, „Leben in Gott. Autobiographie eines Jnanis“, „Kodex eines Meisters“, „Spirituelle Achemie. Der Weg der inneren Askese“.
26.07.2023
Ramanatha Giri
www.de.advayta.org
Ramanatha Giri ist Yogi, Philosoph, Lektor, seit 20 Jahren Mönch in der Advaita-Tradition der Siddhas in der Linie des Meisters Swami Vishnudevananda Giri und ist in der Ukraine geboren.
Seit 2010 führt er Seminare und Retreats im Jnana-, Raja- und Kundaliniyoga sowie Pranavidya in Westeuropa, den USA und der Ukraine durch und bietet persönliche spirituelle Beratungen an.
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