Shakespeare und die menschliche Endlichkeit

Zeit Tod Liebe Macht und Rache

Zeit, Tod, Liebe, Macht und Rache –
Die emotionale Spracharchitektur in William Shakespeares Werken

Architekt zeitloser Sprache

William Shakespeare, aus dessen Werken unsere Kultur die Bilder für ihre Selbstbeschreibung ableitet, ist dem Literaturwissenschaftler Harold Bloom zufolge eine universelle Blaupause, Erfinder des Menschlichen und Quellcode des Menschseins. Dass die rauschhafte Begeisterung Blooms dabei keineswegs übertrieben ist, erkennt man dann, wenn man betrachtet, dass William Shakespeare rund eine Million Wörter hinterlassen und der englischen Sprache durch seine Hinterlassenschaft mehr als eineinhalbtausend neue Wörter hinzugefügt hat, indem er umwandelte, miteinander verband, hinzufügte und neu entwickelte. Er erschuf auf diese Weise eine ewige Sprach- und Stoffqualität, die es ihm ermöglichte, fiktive Vorgänge und Figuren durch zeitlose, allzu menschliche Eigenschaften, die uns noch nach Jahrhunderten wie radikale Gegenwart erscheinen, nahezubringen.

Spiegel des Menschseins

Aber was genau macht Shakespeares ewige Stoffqualität aus? Offenbar ist es die Eigenart, Fehler zu machen, unvollkommen zu sein und sein zu dürfen, die die lebensnahen Fiktionen Shakespeares von der stereotypen Starrheit seiner Vorgänger unterscheidet. Und dieses unvollkommen sein zu dürfen, beinhaltet bei Shakespeare besonders, sich als sterblicher Mensch entwickeln und verwickeln zu dürfen.

Das Privileg zu haben, das Dasein beschreiben zu wollen, aber nicht beantworten zu müssen. Wenn wir, ad fontes, Shakespeares große Erfindungen des Bewahrens oder Verletzens von Ehre, Liebe und Treue wie ein Handbuch der Psychologie nutzen, so sehen wir wandelbare Charaktere voller Widersprüche, die ihren ständigen Entwicklungen ausgeliefert sind und sich wie Getriebene vor- und zurückbewegen.

Wir sehen gute Vorsätze und böse Taten, Fanatismus und Euphorie, Raserei und Stillstand. Wir sehen Souveränität und Legitimität, Kommunikation und ihre Verweigerung. Wir sehen Bescheidenheit und Gier, Angst und Mut, Hybris und Unterwerfung, Überzeugung, Übertreibung und Zweifel über Zweifel. Wir sehen echtes Menschsein und kollektives Unbewusstes im Stundenglas einer Dichtung, die tradierte Rollenmodelle durch zeitlose, ambivalente Menschenmodelle überwindet und uns so zum Spiegel wird.

Denn der gewöhnliche Mensch besitzt nicht nur diese oder jene Eigenschaft, sondern diese und andere Eigenschaften. Sowohl als auch, statt entweder oder. Diese Komplexität hat Shakespeare, dessen eigentlicher Webstoff die Reflexion von Leiblichkeit, von Schein und Sein und nicht mehr sein ist, durch die artifizielle Natürlichkeit seiner Sprache, die eine spezifische Qualität des Kunsthandwerks ist, maximal ausgeschöpft und radikal ergründet. Shakespeare hat die dramaturgischen Möglichkeiten menschlicher Ambivalenzen genau erkannt.

Weltformel Shakespeare?

Genau hierin unterscheidet sich Shakespeare von fast allen Dichtern, die vor ihm kamen oder mit ihm waren: Shakespeare vermeidet, von wenigen Ausnahmen abgesehen, den absoluten Menschen. Denn seine Welt, die, um es mit Wieland zu sagen, dem Genius der Natur gleicht, ist im Wandel, und mit ihr jedes Wesen, das sie bewohnt. Insofern ist Shakespeares seelenkundige Dichtung der literarische Wendepunkt der Gezeiten, nach welchem nichts mehr so war, wie vorher.

Was sagt uns das alles über den Menschen Shakespeare? Alles und nichts. Nicht wenige Gelehrte glauben, dass William Shakespeare uns in der Sprache seiner Werke das Tagebuch seines eigenen, intimen Menschseins vererbt hat, und hegen die verwegen anmutende Hoffnung, dass, hätten sie es erst entschlüsselt, ihnen die allmächtige Weltformel zum Menschen Shakespeare zur Verfügung stünde. Denn schließlich hieße Shakespeare verstehen, alles verstehen.

Aber leider, leider sieht das Auge, was es sehen will, und alle Interpretationen Shakespeares verraten uns, ob es uns nun gefällt oder nicht, weit mehr über seine Interpreten, als über ihn. Das Kunstwerk lacht uns aus, weil es immer etwas mehr von sich selbst weiß, als wir das tun, und weil es immer etwas weniger in sich trägt, als wir in ihm sehen. Das Kunstwerk als Magnet menschlicher Bedürfnisse?

Magnet und Ausdruck; es nimmt und gibt. Maslows Hierarchie der Bedürfnisse besagt, dass alle Menschen das Verhalten motivierende Bedürfnisse oder Sehnsüchte haben. Die Grundbedürfnisse sind hierbei physiologische Bedürfnisse wie essen, schlafen oder atmen. Komplexere, spezifische Bedürfnisse umfassen in der Regel Wünsche und Sehnsüchte wie zum Beispiel Sicherheit, Status oder Wohlstand. Die komplexen Wünsche und Herausforderungen des Menschen entwickeln sich aber im Laufe seines Lebens und seiner wechselnden Rollen auf der Lebensbühne erheblich, weil die Welt des Jünglings notwendig eine andere ist als die des Greises. Für alles das ist Kunst Magnet und Ausdruck.

Shakespeare und die menschliche Endlichkeit Mann Schaedel
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Die menschliche Endlichkeit

Dann ist der Mensch also eine Marionette seiner Rollen und Sehnsüchte? Vor allem ist er eine Marionette seiner eigenen Sterblichkeit, deren Schatten allzu oft in seine Gegenwart eingreift. Sorge ist schließlich ein Ausdruck der Angst vor einer potenziellen zukünftigen Bedrohung. Blühen und verwelken. Die Rollen und Sehnsüchte des Menschen sind lediglich seine alltägliche Antwort auf diese Bedrohung. Denn wenn er auch nicht weiß, was ihn drüben erwartet, so will er sich doch hier, so gut er es eben kann, organisieren.

Eines der Shakespeareschen Leitmotive ist daher die menschliche Endlichkeit, oder irdischer gesagt, die menschliche Entscheidungsnot, was er mit der Zeit anfangen will, die ihm gegeben ist. Und da die eigene Endlichkeit für die Menschheit ein unendliches Beschäftigungsfeld darstellt, durchdringt ihn dieses Leitmotiv menschlicher Nöte wie der ordnende Geist der zukünftigen Weihnacht, der jede flüchtige Freude und jedes gegenwärtige Glück in das Grab befiehlt, in dem schon der vom Tode gedemütigte Yorik liegt.

Insofern vereinen Shakespeares Werke, die zum Wahrhaftigsten gehören, was die englische Sprache hervorgebracht hat, die menschliche Fragilität mit den innersten Grundfragen der Philosophie und den äußersten Axiomen der Theologie; und sie nagen an uns als beunruhigende Ahnung, eine Art Landkarte des Diesseits und des Jenseits zu sein, eine verborgene Dimension des Schicksals, die uns in unser Innerstes und vor der Zeit ins unheimliche Reich der Toten führt.

Die Absolutheit des Halbdunkels

Durchleuchtet oder erleuchtet er uns? Beides. Das Wichtigste aber ist, dass er, und hierin ist er Machiavelli ähnlich, ein umfassendes Verständnis für unser Verborgenes und für unser Offensichtliches besitzt, das es ihm ermöglicht, uns vorbehaltlos mit all unseren Abgründen, Heldentaten und Lächerlichkeiten zu porträtieren, die auch ihm nicht unbekannt gewesen sein dürften. Shakespeare ist wie ein Naturgesetz.

Zwar bleibt bei Shakespeare vieles dunkel, doch Dunkelheit ist in der Kunst ein Mittel, nicht unähnlich den Abgründen des Lebens. Denn gerade die Faszination des Unbeantworteten ist zuweilen die Eingangspforte eines Werks, dessen Fiktionen unbedingt mit den Koordinaten der eigenen, biografischen Erlebensperspektive belegt werden müssen, um als gelungener Praxistransfer vom Dichter auf den Leser oder Theatergänger gelten zu dürfen.

Die Annahme, dass jedes künstlerische Geheimnis mit der wissenschaftlichen Geburtszange geboren und gelüftet werden müsse, um es herumzureichen und zu verstehen, ist, obschon wissenschaftlich nachvollziehbar, dennoch potenziell problematisch, weil es oft jene ungeklärten Umstände der Werkentstehung oder Werkinterpretation sind, die, indem sie ihr Geheimnis bewahren, das Kunstwerk mystifizieren und mumifizieren und voll Schadenfreude in der Absolutheit des Halbdunkels erstrahlen lassen.

Das kollektive Gedächtnis

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Droht Shakespeare im Digitalzeitalter nicht der Bedeutungsverlust? Der bittere Gedanke, vergessen zu werden, ist für die meisten von uns unangenehm; Shakespeares Chancen, in Erinnerung zu bleiben, stehen dabei allerdings deutlich besser als unsere eigenen, denn Shakespeare hat der Menschheit neue Wörter, Identitäten und Bilder für ihre Selbstbeschreibung hinzugefügt und gehört längst zum kollektiven Gedächtnis. Würde man sich entscheiden, außerirdische Lebensformen mithilfe einer mit menschlichen Artefakten gefüllten Raumkapsel über das Wesen der Menschheit aufklären zu wollen, dann wäre die Beigabe seines Hamlet oder Lear für deren Verständnis sicherlich nicht die schlechteste Idee.

Jeder Dichter ist jedoch immer nur so mächtig wie die sprachlichen Ressourcen und Themen, die ihm zur Verfügung stehen. Alle Texte und Neuschöpfungen Shakespeares bedienen letztlich menschliche Urthemen, sie besitzen Alltagstauglichkeit, haben enorme Bildkraft und dadurch das Potenzial, ins Kollektivbewusstsein einzugehen. Die Art und Weise wie Bilder und Emotionen in einer Sprache repräsentiert sind, ist nämlich eher ein Alltags- und Kulturprodukt als ein Ergebnis der Evolution.

Außerdem sind Alltagstauglichkeit und Bildkraft wesentliche Faktoren, um aus Wörtern und Sätzen Redewendungen und Allgemeingut werden zu lassen, das jedermann erkennt. Metaphern als Bildsprache sind ein essenzielles Instrument menschlicher Kommunikation. Sie sind ein Fundamentaltrieb mit starker Kopplung an emotionale Eigenschaften wie Empathie, Rollendenken oder emotionale Intelligenz.

Emotionale Intelligenz ist die Fähigkeit, bei sich und anderen Emotionen einschätzen zu können, und aus dieser Einschätzung die richtigen Rückschlüsse auf menschliche Beziehungen und daraus resultierende, angemessene Handlungen ziehen zu wollen; eine Fähigkeit, die Shakespeare im Übermaß besaß.

Die Sprache des Menschlichen

Alle menschlichen Urthemen sind stark an die sieben Basisemotionen Angst, Ekel, Freude, Trauer, Überraschung, Verachtung und Zorn gekoppelt. Wir finden sie als Botschaften und Instanzen bei Shakespeare in den ewigen Themen und Themenvariationen von Zeit, Tod, Liebe, Macht, Rache etc., die ebenso im alten Testament wie bei Shakespeare zu den Dauerbrennern und Standards gehören. Sie sind die bis heute gültigen Phänomene aller menschlichen Natur, die schon vor uns waren; und auch nach uns noch sein werden.

Shakespeare hat, indem er für menschliche Urthemen und Basisemotionen neue Werke und Wörter und wirkungsmächtige Metaphern erfand und seine Sprache qualitativ und quantitativ entwickelte, in den Köpfen der Menschen jene häufig emotionalen, aber zeitlosen Bilder erzeugt, die zunächst zu temporären Platzhaltern und später dann zu unsterblichem Allgemeingut und Kollektivbewusstsein wurden.

Er hat den oft unbegreiflichen Empfindungen der Menschen eine begreifbare Sprache gegeben. Denn stets stand der Mensch im Mittelpunkt seiner Stücke, Metaphern, Bilder und Worte; mit all seiner Endlichkeit, mit all seinen ewigen Urthemen, Alltagsnöten und Emotionen. Und für nichts interessiert sich der endliche Mensch so sehr wie für den Menschen. Shakespeare hat die Menschen verstanden und ihnen eine Sprache, eine natürliche Tessitura gegeben; und so die Sprache und die Menschen für immer verändert.

18.03.2025
Claus Eckermann
www.claus-eckermann.de 
Sprachwissenschaftler und HypnosystemCoach®

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KurzvitaClaus Eckermann
HSC Claus Eckermann FRSA
Claus Eckermann ist ein deutscher Sprachwissenschaftler und HypnosystemCoach®, der u.a. am Departements Sprach- und Literaturwissenschaften der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Basel und der Theodor-Heuss-Akademie der Friedrich-Naumann-Stiftung unterrichtet hat.
Er ist spezialisiert auf die Analyse von Sprache, Körpersprache, nonverbaler Kommunikation und Emotionen. Indexierte Publikationen in den Katalogen der Universitäten Princeton, Stanford, Harvard und Berkeley.

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