Auszug aus dem Buch Der Gral von Lars Muhl
Vor einigen Jahren wurde mir ein altes spanisches Manuskript anvertraut. Sein Titel lautete San Gral, der Autor nannte sich Kansbar.
Der Mann, der es mir übergab, war zuerst mein Lehrer und später dann mein Freund. In der dazwischen liegenden Zeit erlitt er die Schmach, die dubiose, aber archetypische Rolle des spirituellen Vaters für mich zu erfüllen.
Daraus folgte natürlich, dass ich die Rolle des pflichtbewussten Sohnes übernahm, dem es jedoch niemals gelang, seinen Vater vollkommen zufriedenzustellen.
Der Beziehung wohnte die klassische Konfliktsituation inne:
anfangs die Vergötterung des Vaters, gefolgt von dem unausweichlichen symbolischen Vatermord.
Das alte spanische Manuskript ist ungefähr 400 Seiten lang.
Es besitzt keinen literarischen Wert. Die Inhalte sind mehr oder weniger uninteressant, zumindest für ein ungeschultes Auge. Wenn es darin überhaupt etwas gibt, das von Interesse wäre, so findet es sich zwischen den Zeilen. Und das bisschen, das ein begieriger Leser darin finden mag, ist nur für die wenigen bestimmt, die ihm einen Sinn abgewinnen können.
Beim Lesen der Widmung des Manuskripts hat man unmittelbar das Gefühl, dass der Inhalt eine Sache zwischen demjenigen ist, der das Manuskript übergibt, und demjenigen, der es empfängt. In diesem Fall zwischen Kansbar und Flegetanis.
Das Manuskript ist mit „Alhambra, 1001“ datiert.
Die Widmung lautet folgendermaßen:
„Kansbar ist nicht mein richtiger Name. Aber aufgrund der Geheimnisse, die zu bewahren ich auserwählt bin, habe ich diesen alten persischen Namen gewählt, Kansbar, der Auserwählte. Kansbar, der Weise. Kansbar der Seher. Kansbar, der Hüter des Grals. Ich bin bald ein alter Mann. Viele Jahre lang habe ich nach dem einen Menschen gesucht, der diese Aufgabe nach mir übernehmen soll ‒ vergebens. Aber jetzt erinnere ich mich wieder an den Tag, an dem ich Flegetanis, einen fahrenden maurischen Sänger, auf einem Marktplatz in einer kleinen Stadt an der andalusischen Küste traf. Dieses Manuskript ist für ihn. Es ist die Geschichte des Grals.“
Anfangs wusste ich nicht, was ich mit dem Manuskript anfangen sollte.
Von einer leichten Neugier abgesehen, empfand ich lediglich einen kindischen Stolz, dass ich für wert befunden worden war, es zu hüten. Erst als ich es zu lesen begann und feststellte, dass der Inhalt nicht dem gerecht wurde, was die Widmung versprach, verflüchtigte sich meine neu entdeckte Wertigkeit wie Tau in der Morgensonne.
Zwei Jahre lang blieb das Manuskript unangetastet im Bücherschrank in meinem Arbeitszimmer, bis eines Tages die Sonne einen fahlen Strahl darauf warf, so als wolle sie meine Aufmerksamkeit noch einmal darauf lenken.
Daher öffnete ich das vergilbte Manuskript noch einmal ohne jegliche Erwartung. In dem Augenblick, in dem ich es in die Hände nahm, schien sich das Licht im Raum zu verändern. Ich zögerte und blickte von der leeren Seite auf.
Der leeren Seite?
Draußen stand die Sonne fahl und tief am Himmel. Offenbar hatte sich nichts im Raum verändert. Nur das Buch. Ich blätterte die Seite um. Nicht ein Buchstabe. Kein einziges Wort. Ich blätterte eine Seite weiter und noch eine, nur um zu sehen, dass offensichtlich nichts darin geschrieben stand. Stattdessen erschienen einige klare, beinahe transparente Schriftzeichen auf dem Papier. Die seltsamen Symbole und Zeichen schienen sich zu bewegen, und je mehr ich sie ansah, desto mehr schienen die Zeichen beinahe höhnisch und diabolisch vor meinen Augen zu tanzen.
Lange Zeit saß ich gedankenverloren da und grübelte über die merkwürdige Erfahrung nach, die ich soeben gemacht hatte.
Als ich noch einmal auf das Manuskript blickte, stand der ursprüngliche Text plötzlich wieder auf den Seiten. Ich blätterte es durch und sah, dass der Text anscheinend wieder ganz vorhanden war. War all dies einfach ein Hirngespinst?
Dann dämmerte mir plötzlich, dass der Inhalt des Manuskripts, obwohl er an sich bedeutungslos war, doch einen Schutzschleier, eine Art Schlüssel zu einer sonst verschlossenen Welt darstellte. Erst später begriff ich, dass das Manuskript einfach eine Metapher, ein Spiegel oder ein Tor zu einer anderen Dimension war.
Die Informationen, die das Manuskript vermittelte, waren lediglich ein schwacher Abglanz eines viel tieferen Wissens.
Der gewöhnliche Text erzählte eine in Andalusien angesiedelte Geschichte, in der es hauptsächlich um zwei Figuren, Kansbar und Flegetanis, ging. Die unerklärlichen Zeichen hinter dem Text waren irgendwie der Schlüssel zu diesem tieferen Wissen. Es war jedoch eine Art von Wissen, das sich nur demjenigen offenbart, der dafür bereit ist.
Das Manuskript war somit eine Metapher für die Möglichkeit, die sich im Menschen selbst findet:
ein Zugang zu der sogenannten Akasha-Chronik in dem großen ätherischen universalen Gedächtnis.
Ich schlug eine Seite um und begann zu lesen.
05.04.2019
Auszug aus „Der Gral“
von Lars Muhl,
mit freundlicher Genehmigung des
Kamphausen Verlags, Bielefeld
Der dänische Autor und Seher Lars Muhl begann seine berufliche Laufbahn zunächst als Musiker. Parallel dazu studierte er komparative Religion und Philosophie, bis er sich 1988 auf aramäische, christliche und jüdische Mystik fokussierte. 1995 erkrankte er an einer rätselhaften Krankheit, die ihn für drei Jahre ans Bett fesselte. Ein Freund brachte ihn in Kontakt mit dem Seher, Calle de Montségur, der ihn wieder „zum Leben erweckte“.
1999 beendete Lars seine Musikerkarriere, um sich von Calle de Montségur ausbilden zu lassen. Diese Ausbildung inspirierte ihn dazu, die spirituelle Trilogie „Das O Manuskript“ (enthält „Der Seher“, „Magdalena“ und „Der Gral“) zu verfassen. 2013 wurde Lars in die Watkins’-Liste der 100 spirituell einflussreichsten lebenden Menschen aufgenommen.
Heute lebt er als Visionär und Mystiker, Heiler, inspirierender Autor und Redner.
Er bietet Workshops an und leitet mit seiner Frau, der Autorin Githa Ben-David, ein Institut für Energie und Bewusstsein.
www.larsmuhl.com
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