Das Ausstrecken der Seele zur Wirklichkeit
„Die Philosophie sollte nicht nur den intellektuellen Erfahrungen eines Plato, eines Descartes, eines Kant Raum geben, sondern auch den kontemplativen Erfahrungen eines Paulus, eines Plotin, eines Augustinus, eines Franziskus, einer Teresa. Sie sollte berücksichtigen, dass die höchsten Ebenen menschlichen Lebens allein durch den direkten oder verborgenen Einfluss solcher Persönlichkeiten erreichbar sind und dass allein die Kontemplativen befähigt erscheinen, den Menschen von der spirituellen Realität und den daraus entspringenden ethischen Forderungen zu überzeugen.“
Als Kind wohlsituierter Eltern, am 6. Dezember 1875 Wolverhampton in der englischen Grafschaft Staffordshire geboren, erlebte Evelyn Underhill (1875 – 1941) bereits in frühester Jugend mystische Zustände, die so nachhaltig waren, dass sie sich zeitlebens deren Erforschung widmete. Die Aufbruchstimmung der beginnenden Moderne ins 20. Jahrhundert begünstigte diesen Erkenntnisdrang. Die begeisterte Seglerin studierte Theologie am Londoner King’s College, schrieb und perfektionierte die Kunst des Buchbindens.
Anfang des 20. Jahrhunderts war das Interesse an Magie, Spiritismus, Theosophie und Astrologie groß in London. Evelyn Underhill konnte sich dieser Faszination für eine Welt jenseits der sinnlichen Welt nicht entziehen und schloss sich im Alter von 29 Jahren der Rosenkreuzerbewegung The Hermetic Society of the Golden Dawn an.
Zum ersten Mal in ihrem Leben lernte Evelyn Underhill die Kraft gemeinschaftlicher Rituale und Praktiken der christlichen Mystik kennen, die ihr Bedürfnis nach der unsichtbaren Welt schürten.
Ihre Mitgliedschaft bei den Rosenkreuzern dauerte jedoch nur kurz. Das Jahr 1907 war schicksalsträchtig für ihre Entwicklung. Sie verlobte sich an Neujahr mit dem Anwalt Hubert Stuart Moore. Im Februar 1907 besuchte sie ein „Retreat“ im französischen Franziskanerinnenkonvent St. Mary of the Angels in Southampton. Aus Furcht, sich zu stark von den Nonnen beeinflussen zu lassen und sich vorschnell zugunsten des Katholizismus zu entscheiden, verließ sie den Konvent am vierten Tag des „Retreats“ vorzeitig. Sie kehrte nach Hause zurück und am folgenden Tag hatte sie ein Erlebnis, welches sie nicht näher erläuterte. Sie schrieb lediglich in ihr Tagebuch:
„Ich konvertierte ziemlich plötzlich ein für allemal durch eine überwältigende Vision, die wirklich keine spezifisch christlichen Elemente besaß, doch war ich überzeugt, dass die katholische Religion wahr ist.“
Aufgrund der Einwände ihres Verlobten, der keinerlei religiöse Interessen hatte und vehement antiklerikal war, zögerte sie mit einer endgültigen Entscheidung zugunsten des Katholizismus. Nachdem sie ihm von ihren Absichten erzählt hatte, den katholischen Glauben anzunehmen, schien „sein Herz gebrochen“. Er sah darin einen Vertrauensbruch und war überzeugt, dass „all ihre Hoffnungen auf Glück ein Ende finden würden“. Der Beichtstuhl und die gespenstische Idee, dass ein Priester zwischen ihm und seiner Frau stehen könnte, waren der Grund von Huberts Befürchtungen, die für die Engländer jener Zeit nicht untypisch waren. Da Hubert seine Meinung nicht änderte, entschied sie sich, im Zwiespalt zwischen der Liebe zu ihm und ihrer eigenen Glaubensüberzeugung zu leben. Eine solche Entscheidung scheint typisch gewesen zu sein für eine Frau wie Evelyn Underhill, die erfüllt war vom Gedanken „weiblicher Aufopferung“, der ihr in ihrer Erziehung unzweifelhaft eingeimpft worden war und in ihrer Welt eine große Rolle spielte. Am 3. Juli 1907 heirateten sie.
Ihr erstes Buch „Mysticism” machte sie zur anerkannten Mystik-Spezialistin.
Sie gab Vorlesungen, erteilte Unterweisungen und hielt Einkehrtage auch für den anglikanischen Klerus ab. Die Erkenntnisse ihrer seelsorglichen Tätigkeit flossen in Publikationen, die im englischsprachigen Raum einen großen Leserkreis fanden.
Inspiration fand Evelyn Underhill nicht nur bei den christlichen mittelalterlichen Mystikern, hier besonders bei Jan van Ruysbroeck. Zusammen mit dem indischen Literatur-Nobelpreisträger Rabindranath Tagore veröffentlichte sie Gedichte des hindu-muslimischen Mystikers Kabir. Durch Tagore erkannte sie die Wichtigkeit eines individuellen Führers auf dem geistigen Weg. Ihr persönlicher Lehrer wurde Baron Friedrich von Hügel (Florenz 1852 – London 1925), ein bedeutender katholischer Denker.
Das Wesen der Mystik erklärt Evelyn Underhill als „das Ausstrecken der Seele hin zu jener Wirklichkeit, mit der sich Religion beschäftigt”. Überzeugt davon, dass jeder diese Fähigkeit in sich trägt, lehrte sie, diese durch spirituelle Disziplin und besonders durch das Gebet zu kultivieren.
Im ersten Teil ihres 500-seitigen Werkes zeichnet Evelyn Underhill ein ganzheitliches Bild der Mystik, indem sie modernistisch-philosophische, theologische, literaturwissenschaftliche und psychologische Gesichtspunkte gleichberechtigt nebeneinander stellt und wechselseitig aufeinander bezieht.
Neben Simone Weil, Georgia Harkness, Emma Herman und den beiden Husserl-Schülerinnen Gerda Walther und Edith Stein war Evelyn Underhill die bedeutendste Frau, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts über Mystik geschrieben hat.
Seit Mitte der 1920-er Jahre vertrat sie die Auffassung, dass die Spiritualität der Mystik in alle Bereiche des täglichen Lebens eindringen müsse.
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Die Erfahrungsweise des Mystikers ist nach Auskunft Evelyn Underhills die vollständigste und umfassendste Erfahrung, die der Mensch machen kann, da sie sowohl die zeitlich-dynamische als auch die ewig-statische Auffassung der Wirklichkeit umfasst.
Sie verteidigte das spirituelle Leben gegenüber den Versuchen der etablierten Kirche, Religion auf die herkömmlichen sozialen Rituale zu reduzieren. „Das spirituelle Leben bedeutet eine immense Erweiterung des Bogens der menschlichen Sympathie und kann erst dann gelingen, wenn wir das Zentrum des Zirkels gefunden haben. Der zentrale Fehler der gegenwärtigen religiösen Institutionen – ich meine den wirklichen Fehler und nicht bloß die Fehler, die für die leeren Kirchen sorgen – besteht darin, dass sie soviel Zeit damit verbringen, um den Bogen herum zu laufen und das Zentrum für gewiss zu nehmen … doch es ist das Zentrum, auf welches das spirituelle Leben hinzielt.“
Evelyn Underhill starb während des 2. Weltkriegs am 15. Juni 1941 in London im Alter von 65 Jahren.
31.03.2022
Roland R. Ropers
Religionsphilosoph, spiritueller Sprachforscher, Buchautor und Publizist
www.KARDIOSOPHIE-NETWORK.de
Über Roland R. Ropers
Roland R. Ropers geb. 1945, Religionsphilosoph, spiritueller Sprachforscher,
Begründer der Etymosophie, Buchautor und Publizist, autorisierter Kontemplationslehrer, weltweite Seminar- und Vortragstätigkeit.
Es ist ein uraltes Geheimnis, dass die stille Einkehr in der Natur zum tiefgreifenden Heil-Sein führt.
>>> zum Autorenprofil
Buch Tipp:
Kardiosophie
Weg-Weiser zur kosmischen Ur-Quelle
von Roland R. Ropers und
Andrea Fessmann, Dorothea J. May, Dr. med. Christiane May-Ropers, Helga Simon-Wagenbach, Prof. Dr. phil. Irmela Neu
Die intellektuelle Kopflastigkeit, die über Jahrhunderte mit dem Begriff des französischen Philosophen René Descartes (1596 – 1650) „Cogito ergo sum“ („Ich denke, also bin ich“) verbunden war, erfordert für den Menschen der Zukunft eine neue Ausrichtung auf die Kraft und Weisheit des Herzens, die mit dem von Roland R. Ropers in die Welt gebrachten Wortes „KARDIOSOPHIE“ verbunden ist. Bereits Antoine de Saint-Exupéry beglückte uns mit seiner Erkenntnis: „Man sieht nur mit dem Herzen gut“. Der Autor und die sechs Co-Autorinnen beleuchten aus ihrem individuellen Erfahrungsreichtum die Vielfalt von Wissen und Weisheit aus dem Großraum des Herzens.
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