Die Sinne als Tor zur Welt und die Tür nach Innen
Leseprobe aus dem Buch: Die Sinne als Tor zur Achtsamkeit – Über die körperliche Wahrnehmung zu einem gelassenen Geist
Mit 7-Wochen-Workshop für alle Sinne
von Inga Heckmann
VORWORT
Liebe Leserinnen und Leser,
als ich in den 1970er- und 1980er-Jahren auf dem Land aufwuchs, waren Computer noch etwas unglaublich Exotisches, das Telefonieren mit Bild gehörte in den Bereich der Science-Fiction und ferngesehen wurde nur am Wochenende. Das hat mich und viele meiner Generation zumindest in der Kindheit und Jugend vor den Fallen der heutigen Informationswelt bewahrt. Es gab einfach nur drei Fernsehprogramme, unser Entertainment war: rausgehen, mit anderen Kindern durch den Wald toben, über Wiesen rennen, in Flüssen schwimmen, Verstecken und Ball spielen, andauernd hinfallen und wieder aufstehen.
Schon eine Generation später sieht die Welt ganz anders aus, denn der technologische Fortschritt beansprucht in erster Linie nur einen Sinn: In unserer Kultur wird der Sehsinn überbetont, wir leben in einer optisch geprägten Gesellschaft. Beginnend bei Werbung, Social Media, Fernsehen, Mode – das Aussehen eines Menschen oder einer Ware beeinflusst maßgeblich unsere Entscheidungen, unser Urteil, ob wir etwas mögen oder nicht.
Wir werden bombardiert mit extremen Bildern: idealisiert, perfekt und gephoto- shoppt von Urlaubsorten und Models oder erschreckend und grausam von Gewalt, Krieg und Umweltzerstörung. Die Werbung auf Plakaten, in Schau- fenstern, im Internet und im Fernsehen ist bunt, aufdringlich, manipulativ und zielt auf unsere Augen. Kurz: Unser Sehsinn wird dermaßen beansprucht und ist daher so ausgeprägt, dass alle anderen Sinne Gefahr laufen abzustumpfen, da sie nicht mehr gebraucht werden. Allenfalls der Hörsinn wird noch »trainiert«, im besten Fall durch Musik, im schlimmsten Fall durch dauernden Straßen-, Flug- oder Baulärm. Dabei haben wir neben Seh- und Hörsinn noch andere Sinne geschenkt bekommen.
Fragen Sie sich selbst: Schreiben Sie noch Briefe mit der Hand? Wissen Sie, wie sich eine Baumrinde unter den Fingern anfühlt? Oder welches Kind kann mit geschlossenen Augen länger als zwei Sekunden auf einem Bein stehen, genießt wirklich den Geschmack von ungesüßten, kaum gesalzenen, unverarbeiteten Lebensmitteln? Welches Stadtkind kennt den Duft von Veilchen? Dabei tragen wir ein unglaubliches Kunstwerk der Natur in uns – nicht nur fünf, sondern sechs, ja eigentlich sogar sieben Sinne. Wie in einer gut ein- gespielten Band spielt die fünfköpfige Stammbesetzung – Sehen, Hören, Fühlen, Schmecken und Riechen – im Vordergrund ihre Instrumente, während die Backgroundsängerin, die Propriozeption, im Hintergrund nicht nur coole Bewegungen und harmonische Sounds produziert, sondern ohne Unterlass für Orientierung und Sensibilität sorgt – eigentlich also als heimliche Bandmanagerin fungiert.
Zusammenfassend kann man sagen: Die fünf klassischen Sinne sind unser Tor zur äußeren Welt und die Propriozeption die Tür zur inneren Welt. Wissenschaftler nennen sie Tiefensensibilität oder auch Eigenwahrnehmung (von lateinisch proprio: eigen), da sie ohne Pause, egal, ob wir schlafen oder wach sind, Informationen über die Lage unseres Körpers und unserer Gliedmaßen im Raum liefert, über die Neigung des Kopfes, die Bewegung der Finger, darüber, wie wir sitzen, gehen und stehen.
Machen wir uns an dieser Stelle eine wichtige Prämisse klar: Ohne diese sechs Sinne würde für uns die Welt, würden die Menschen, wir selbst, unser Körper, unsere Gefühle und Gedanken nicht existieren. Wir könnten ohne sie noch nicht einmal den leeren Raum wahrnehmen, in dem wir uns befinden. Vielleicht wären wir reines Bewusstsein, körperlos, aber in einer anderen, nicht in dieser menschlichen Dimension. Aber halt: Im Moment befinden wir uns hier auf diesem Planeten als Wesen in einer materiellen Welt und es ist uns unmöglich, nicht wahrzunehmen. Wir erleben die Welt in dem Rahmen, der uns durch Erfahrung, Erziehung, Epigenetik (dazu später mehr) und auch Traumata gesteckt wurde – nennen wir diesen Rahmen den Filter der Wahrnehmung. Genau hier liegt unsere Chance der Selbsterkenntnis: Wenn wir unsere unbewussten Filter kennenlernen, können wir unsere Wahrnehmung verändern. Die Mittel, die wir hierfür brauchen, heißen Achtsamkeit, Atem und Meditation.
Die Fokussierung auf die eigenen Sinne, genauer auf den Moment, in dem wir sehen, hören, riechen, schmecken, fühlen und unseren Körper wahr- nehmen – das ist wahre Meditation. Wenn wir hierbei noch die Achtsamkeit auf unseren Atem richten, können wir nicht nur unsere Sinne in jeder Lebenssituation trainieren, sondern auch von all den Effekten profitieren, die Meditation mit sich bringt: einen ruhigen Geist, Gelassenheit sich selbst und der Welt gegenüber, die Veränderung von Gewohnheiten, einen niedrigeren Blutdruck, ein stabileres Immunsystem und vieles mehr, was uns ein glücklicheres Leben bescheren wird. Nicht zuletzt finden wir jenseits unserer unbewussten Filter zu unserem siebten Sinn, der Intuition.
Unser siebter Sinn hat eine sehr enge Verbindung zu allen Sinnen, aber insbesondere zum sechsten Sinn, der Propriozeption. Speziell über die bewusste Sensibilisierung der Propriozeption, so lehrt mich meine Erfahrung, können wir unsere Intuition schulen. Natürlich sind auch die restlichen fünf Sinne sehr wichtig, um unsere Wahrnehmung sowohl zu trainieren als sie auch immer wieder auf den Prüfstand zu stellen. Yoga ist die perfekte Methode, um die Propriozeption zu vertiefen, immer noch feinere Antennen für das Innenleben, für unser Selbst zu entwickeln. Zusammen mit Meditation und Pranayama, also der Atembeobachtung und verschiedener Techniken zur Kontrolle des Atems, haben Sie die Werkzeuge in der Hand, um Ihr Leben signifikant zu verbessern.
Die Sinne verbinden also innen und außen, unser Selbst mit der Welt, die Welt mit unserem Selbst – und uns selbst mit unserem Inneren. Durch unsere Sinnlichkeit haben wir als Menschen die Chance erhalten, uns unse- rer selbst bewusst zu werden und im Moment anzukommen, anstatt uns vom hin und her rasenden Verstand regieren zu lassen. Über die Kenntnis unserer selbst können wir wieder zurückkehren zu dem, was wir sind: ein Teil dieser sinnlichen Welt, aber scheinbar paradoxerweise auch ein Teil der Welt, die hinter der sinnlichen Wahrnehmung liegt.
Lassen Sie uns auf sinnliche Entdeckungsreise gehen und ein glücklicheres, entspannteres und bewussteres Leben genießen lernen!
Ihre
Inga Heckmann
EINLEITUNG: DIE SINNE ALS TOR ZUR WELT UND DIE TÜR NACH INNEN
Wir sind keine menschlichen Wesen, die spirituelle Erfahrungen machen. Wir sind spirituelle Wesen, die eine menschliche Erfahrung machen.
PIERRE TEILHARD DE CHARDIN (1881–1955)
In diesem Buch schlagen wir einen auf den ersten Blick vielleicht weit erscheinenden Bogen von den Sinnesorganen und der Verarbeitung sensorischer Reize im Gehirn zu Yoga, Achtsamkeit und der Erforschung unseres Selbst.
Lassen Sie uns direkt in den Yoga einsteigen, denn er bietet eine wunderschöne Erläuterung an, wie wir Menschen »gebaut« sind. Eine Erklärung, die ich noch nirgends so einprägsam und klar gehört habe. In der Tausende Jahre währenden Geschichte des Yoga gibt es tatsächlich nur ein einziges historisches Werk, das sich mit dem theoretischen und philosophischen Hintergrund, dem achtgliedrigen Pfad des Yoga, beschäftigt: die Yoga Sutra des Patañjali. Diese Sammlung von Aphorismen ist relativ schwer verständlich, da sie in einer sehr kryptischen Sprache niedergeschrieben wurde. Über die Entstehung und den Verfasser, Patañjali, gibt es viele Mysterien, allerdings so gut wie keine belegten Informationen. Geschätzt wird, dass die Verse um 100 vor bis 500 nach Beginn unserer Zeitrechnung entstanden sind. Wir möchten uns hier nur mit einem Aspekt beschäftigen, der unser Thema, die Sinne und ihre Funktion als Tor zur Welt betrifft. Patañjali führt hierfür die beiden faszinierenden Begriffe »purusha« und »prakriti« ein. Purusha ist der Geist, prakriti die Urmaterie.
EINLEITUNG
Das Eingangszitat von Pierre Teilhard de Chardin, einem französischen Jesuiten, Anthropologen und Philosophen, fasst diese beiden Begriffe poetisch zusammen: Das spirituelle Wesen des Menschen, das unveränderlich und ewig ist, entspricht Purusha. Der Körper und das Erleben der Welt durch die Sinne, also alles, was uns umgibt, ist Prakriti – die veränderliche Materie. Damit der Urgeist (Purusha) die Materie (Prakriti) begreifen kann, benötigen wir den Verstand (in Sanskrit citta) und eben unsere Sinnesorgane, die die Welt in diesen Verstand übersetzen. Um unterscheiden zu können, was Purusha, also unveränderlich, und was Prakriti, also veränderlich, ist, müssen wir die beiden Welten vollkommen durchdringen. Auf diesem Wege entdecken wir den inneren Beobachter, der, ohne zu urteilen, sozusagen bequem zurückgelehnt, die Unterscheidung vornehmen kann. Der kürzeste Weg dorthin (der achtgliedrige Pfad) führt laut Patañjali über Meditation, Yoga und Pranayama (Atemkontrolle). Allzu oft wird leider in der heutigen Praxis des Yoga die so wertvolle wie spannende philosophische Seite ignoriert und das Hauptaugenmerk auf die Asanas, die Körperübungen, gelegt.
Wir verbinden in diesem Buch, auf der Reise nach innen, bewusst alle drei Bestandteile der Yogapraxis mit unseren sechs Sinnen. Um genau zu verstehen, wie unser Verstand (Citta) die Materie und unseren Körper (Prakriti) begreift und wie wir letztendlich über die sensorischen Reize zu unserem wahren inneren Wesen (Purusha) gelangen, müssen wir uns im Klaren sein, wie unsere Sinne funktionieren. Wie kann zum Beispiel das, was wir sehen, zu einem sinnvollen Bild werden, das wir einordnen können? Warum können wir Texte lesen, warum wirkt Musik so oft anrührend und warum kann ein Geruch Erinnerungen auslösen? Mit diesen und noch vielen weiteren faszinierenden Fragen beschäftigt sich die Wissenschaft seit Jahrhunderten. In den letzten Jahren haben bahnbrechende Erkenntnisse der Neurowissenschaft das Denken, wie unser Gehirn und das Nervensystem funktionieren, geradezu auf den Kopf gestellt. Das Zauberwort lautet Neuroplastizität.
Während man noch in den 1990er-Jahren dachte, dass das Gehirn irgendwann altert, Zellen absterben und der Verfall der Geisteskraft unaufhaltsam ist, je mehr Lebensjahre vergehen, weiß man heute: Unser Gehirn bleibt flexibel, lernfähig und veränderlich bis zum Tod – ganz der Definition von Prakriti folgend.
Gerade Meditation, Achtsamkeitsübungen und auch Yoga beziehungsweise jede bewusst ausgeführte Bewegung scheinen einen enormen neuroplastischen Effekt auf das Gehirn zu haben, wie inzwischen zahlreiche bekannte Studien belegen. Unter anderem nimmt die graue Substanz, die Anzahl von Nervenzellen im Großhirn, zu. Das bedeutet: Die Hirnleistung, sprich die Intelligenz, wird besonders im limbischen System, das wir später noch etwas näher kennenlernen werden, erhöht. Anhaltender Stress lässt die graue Substanz übrigens schrumpfen.
Apropos Stress: Bestimmte Hirnareale, die Emotionen steuern, werden durch Meditation besser vernetzt, was die Verarbeitung von Stress verbessert. Dadurch wird die in schwierigen Lebenssituationen so dringend benötigte Resilienz, die seelische Widerstandsfähigkeit, gestärkt. Ein sehr faszinierender Bereich im menschlichen Gehirn ist die Insula oder auch Inselrinde. Dieser sehr versteckte Teil tief im Inneren des Gehirns verarbeitet nicht nur zahlreiche Sinneseindrücke, von akustischen Reizen bis hin zu Geschmacks und Geruchseindrücken, und bewertet die Intensität von Schmerzen.
Darüber hinaus sollen Teile der Insula bei Gefühlen von Empathie und Liebe mitwirken. Manche Wissenschaftler behaupten gar, die Inselrinde wäre der Sitz des menschlichen Bewusstseins und jenes Teils des Gehirns, der zum Beispiel die Regulierung von Emotionen und die Erkenntnis eigener Motivationen steuert, als eine Art beobachtende Instanz. Fest steht: Durch regelmäßiges Meditieren wird die Insula deutlich vergrößert, was die Eigenwahrnehmung von psychischen und physischen Zuständen verfeinert. So kann das Ziel der Meditation nun auch wissenschaftlich beschrieben werden: die Installation eines inneren Beobachters, der nicht wertet, sich aus Gedanken und Geschehnissen zurückziehen kann, eben beobachtet, anstatt sich zu verstricken. Die Beschäftigung mit den eigenen Sinnen ist reine Meditation, da wir uns dabei automatisch in die Selbstbeobachtung vertiefen.
EINE KURZE BETRIEBS – ANLEITUNG FÜR DIESES BUCH
Um Ihnen einen Überblick zu geben, was Sie in diesem Buch erwartet und wie Sie damit praktizieren können, hier eine »Betriebsanleitung«: Es besteht im Wesentlichen aus zwei Teilen, einem theoretischen Teil, der sich mit der Verarbeitung der einzelnen Sinne und der Bedeutung der Wahrnehmung für unser Leben beschäftigt. Am Ende jedes Kapitels zu den einzelnen Sinnen finden Sie jedoch schon eine kleine Übung, die ganz leicht durchführbar ist, Spaß macht und einen Ausblick auf den folgenden praktischen Teil gibt.
Im zweiten Teil begeben wir uns selbst auf eine spannende Expedition und verknüpfen die Sinne mit praktischen Übungen. Zunächst lernen Sie drei wichtige Grundpfeiler kennen: Atem, Meditation und Achtsamkeit. Hinzu kommen wesentliche, aber einfache Yogaübungen und -flows (Abfolgen von Yogahaltungen), Experimente in der Natur, der Küche, zu Hause – und zu guter Letzt ein siebenwöchiger Workshop für die Sinne. Mein Vorschlag: Sie können jederzeit den Theorieteil verkürzen oder überspringen und sich gleich auf die Forschungsreise in die Wahrnehmung begeben. Vielleicht möchten Sie zwischendurch etwas wissenschaftliches »Futter« über den jeweiligen Sinn aufnehmen, den Sie ausgelotet haben, und schlagen dazu wieder den Theorieteil auf. Versuchen Sie, mit einer offenen und neugierigen Haltung den Spaß an den Sinnen wiederzuentdecken, so wie Kinder alles auskosten, Neues spannend finden, jeden Geschmack, jede Farbe und Bewegung als Wunder betrachten.
Wenn Sie wollen, beginnen Sie diese aufregende Reise zunächst wissenschaftlich. Wie bei jeder weiten Reise ist ein gutes Navi recht nützlich, um sich zurechtzufinden und schließlich sicher und zuverlässig ans Ziel zu kommen – in unserem Fall zu einem ausgeglichenen, gelassenen und ziemlich erleuchteten Gehirn.
Da die Arbeit an diesem Buch eine umfangreiche Recherche erforderte, habe ich sehr viele wissenschaftliche Quellen genutzt. Es gibt eine wunderbare Fülle an Seiten im Internet, auf denen Sie sich noch weiter informieren können, zahlreiche Filme über die Sinne und verwandte Themen auf diversen Mediatheken und bei YouTube. Im Anhang finden Sie eine Auswahl der verwendeten Quellen sowie Buchtipps zum Weiterlesen – viel Spaß beim Surfen und Schmökern durch das faszinierende Reich der Sinne!
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DIE THEORIE DER SINNE: WIE WIR DIE WELT ERFAHREN
EIN KOMPLEXES TEAM OHNE HIERARCHIE
Etwa 75 Prozent aller weltweiten Studien über die Sinne beschäftigen sich mit dem Sehsinn. Der Hörsinn wird in den letzten Jahren immer gründlicher untersucht. Eine ähnlich fundierte Erklärung wie beim Sehsinn, was seine Bedeutung für das menschliche Erleben betrifft, existiert jedoch noch nicht. Dass das Gehör in einschlägigen Studien so unterrepräsentiert ist, hat aber beileibe nicht mit seiner geringeren Bedeutung zu tun, wie wir später noch feststellen werden.
Wenn es um Superlative ginge, würde sowieso ein anderer Sinn siegen: Das größte unserer Sinnesorgane, das Organ mit den meisten Rezeptoren, die ein Sinnesorgan im menschlichen Körper zu bieten hat, ist eindeutig die Haut. Studien zum Thema Tastsinn sind dennoch vergleichsweise dünn gesät. Auch die, wie wir später erfahren werden, nicht minder faszinierenden Sinne Schmecken und Riechen rangieren eher unter »ferner liefen« in der Hitliste der Forschung.
URSACHEN – FORSCHUNG
Der Regensburger Psychologe Fabian Hutmacher hat sich mit dieser Vorherrschaft des Sehsinns in der Forschung beschäftigt. Er machte mehrere Komponenten aus, die dafür verantwortlich sein können, dass die Optik in der modernen Wissenschaft eine derartige Überbetonung erfährt. Zum einen drängt sich natürlich die Frage auf, ob der Sehsinn ja vielleicht doch der wichtigste aller Sinne ist. Hutmacher stellt dem das Beispiel eines Menschen gegenüber, der aufgrund eines Gendefekts keine Schmerzen wahrnehmen kann, also dessen Tastsinn komplett wegfällt. Studien zeigen:
Diese Menschen haben eine geringe Lebenserwartung, da sie viele Gefahren, die Schmerz auslösen, nicht wahrnehmen können. Blinde hingegen würden laut Hutmacher in unserer Gesellschaft sehr gut unterstützt, mit akustischen Signalen bei Ampeln, in öffentlichen Verkehrsmitteln oder durch die inzwischen auf jeder Lebensmittel- oder Arzneipackung zu findenden Blindenschrift, um ein paar Beispiele zu nennen. Blinde haben im Vergleich tatsächlich eine wesentlich höhere Lebenserwartung als schmerzunempfindliche Menschen. Über die Bedeutung des Sehsinns als wichtigster Sinn kann also durchaus diskutiert werden.
KOMPLEXITÄT IST ANSICHTSSACHE
Zum anderen ist der Sehsinn leichter zu erforschen als der Geruchs- oder der Geschmackssinn: Sichtbares ist leichter zu beschreiben als Geschmack oder Geruch. Darüber hinaus galt der Sehsinn lang auch als der komplexeste aller Sinne, da die Areale im Gehirn, die für die Verarbeitung gebraucht werden, größer zu sein schienen. Dies wird allerdings nach neuer Forschungslage vom Hörsinn, der eine Vernetzung fast aller Hirnareale für die Verarbeitung akustischer Signale aktiviert, weit übertroffen. Was die Größe und Komplexität eines Sinnesorgans betrifft, dürfte die Haut als Siegerin hervorgehen, meint der Regensburger Psychologe: »Im Auge haben wir nicht so viele verschiedene Rezeptoren, nur Stäbchen für das Sehen im Dunkeln und drei verschiedene Arten von Zapfen für das Farbsehen.« Auch die Nase lässt das Auge weit hinter sich, was die Komplexität angeht, da sie Hunderte von Rezeptoren aufweist, um Gerüche ins Nervensystem aufzunehmen und weiterzuleiten.
Vieles um den Geruchssinn ist noch unerforscht, aber zumindest eines ist bewiesen: Er entwickelt sich bereits im Mutterleib, vor Hören und Sehen. So scheint zumindest die Evolution eine Sinnes-Hierarchie entwickelt zu haben.
DIE MACHT DER GEWOHNHEIT – UND DES GELDES
Zwei entscheidende Faktoren kommen zu den oben genannten noch hinzu, die den Sehsinn an der Spitze der Liste halten: Forschungsgelder werden eher für jene Studien gewährt, die sich mit Themen beschäftigen, die sich in der Vergangenheit bewährt haben, also als relevant betrachtet werden. Da liegt der Sehsinn weit vor seinen Mitbewerbern, aus oben genannten Gründen. Eine Katze, die sich in den Schwanz beißt …
Bleibt der letzte Faktor, der vermutlich einer der wichtigsten ist: Wie bereits erwähnt, ist der Sehsinn in unserer Kultur überbetont. Smartphones, Tablets und Computer haben diese Entwicklung in den letzten Jahren noch verstärkt und die Dominanz des Sehsinns einzementiert. Dabei gibt es jenseits unserer westlichen noch andere Kulturen, in denen anderen Sinnen der erste Platz eingeräumt wird – dazu und zur Bedeutung der Sprache als Spiegel der Sinne kommen wir später noch.
Beschäftigen wir uns zunächst mit der faszinierenden Verarbeitung der Sinnesempfindungen in unserem Gehirn – Tatsachen, die das Leben und unsere Existenz in ein ebenso faszinierendes Licht rücken.
WIE SINNESEINDRÜCKE VERARBEITET WERDEN
Zunächst eine sehr wichtige Definition, die in ihrer Schlichtheit dennoch eine nicht zu unterschätzende Wirkung hat: Eine Sinneswahrnehmung ist die Verarbeitung eines sensorischen Reizes wie Riechen, Schmecken oder Hören im Gehirn. Die sensorischen Reize werden nach dem Empfang in spezialisierten Zellen, den Rezeptoren, in Sinnesorganen wie Nase, Zunge oder Ohr, in elektrische Impulse umgewandelt. Die elektrischen Impulse sind nötig, um die Nervenzellen im Gehirn und Rückenmark zu stimulie-
Buchtipp
Die Sinne als Tor zur Achtsamkeit
Über die körperliche Wahrnehmung zu einem gelassenen Geist – Mit 7-Wochen-Workshop für alle Sinne
von Inga Heckmann
Die bewusste Beschäftigung mit den Sinnen ist reine Meditation, durch die wir automatisch ganz im Moment ankommen. Gleichzeitig lernen wir die versteckten Mechanismen unserer Wahrnehmung kennen und gelangen so zu mehr Selbsterkenntnis. Diese faszinierende und körperbasierte Achtsamkeitspraxis wird hier mit altem Yoga-Wissen, neurowissenschaftlichen Erkenntnissen und zahlreichen kreativen Übungen kombiniert. Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen sowie die Körperwahrnehmung (Propriozeption) werden geschult.
31.03.2022
Inga Heckmann
Autorin Inga Heckmann
Inga Heckmann ist ärztlich geprüfte Yogalehrerin, Autorin, Musikerin und Redakteurin. Sie hat unter anderem die Bücher »Von der Kunst Yoga & Achtsamkeit im Alltag zu leben« und »Das kleine Buch vom guten Morgen« verfasst.
Ihre Leidenschaft gilt neben den Themen Ayurveda, Yoga, Achtsamkeit und Meditation dem Verfassen von Geschichten und Texten. Inga Heckmann lebt und arbeitet in München.
Foto: Inga Heckmann ©Marcella Merk Photography, München
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