Geist ohne Furcht
„Wo der Geist ohne Furcht ist, und Menschen das Haupt aufrecht tragen, wo das Wissen frei ist, wo noch nicht enge Mauern die Welt in Teile zerbrechen, wo Worte aus der Tiefe der Wahrheit kommen, wo rastloses Streben sich streckt nach Vollendung, wo der klare Strom der Vernunft noch nicht in ödem Wüstensand toter Gewohnheiten versickert, wo der Geist vorwärtsgeführt wird durch Dich in immer weitere Horizonte von Gedanke und Tat – zu diesem Himmel der Freiheit, mein Vater, lass mein Land erwachen!“
(Rabindranath Tagore, 1861 – 1941)
Rabindranath Tagore bekam als erster Asiate im Jahr 1913 für sein poetisches Werk „Gitanjali“ (Sangesopfer) den Nobelpreis für Literatur mit der Begründung: „Für die einfühlsamen, lebendigen und schönen Verse, mit denen er in vollendeter Weise seine dichterischen Gedanken – in englischer Sprache – zu einer Komponente der abendländischen Literatur gemacht hat“.
Erst 8 Jahre später kommt Tagore wieder nach Europa, wo er am 26. Mai 1921 in Stockholm den Nobelpreis entgegennahm und eine großartige Dankesrede hielt, die erstmalig seit Dezember 2012 in deutscher Fassung im Verlag „Books ex Oriente“, übersetzt von Dr. Axel Monte, München, vorliegt.
Tagore:
„Ich schätze mich glücklich, dieser großen Zeit, dieser großen Ära anzugehören und etwas dazu beitragen zu können, diesem großen Zeitalter Ausdruck zu verleihen, in dem Ost und West sich begegnen…“
Im Jahr 1907 erhielt der in Mumbai (Bombay) geborene Rudhyard Joseph Kipling (1865 – 1936) den Literatur-Nobelpreis für sein „Dschungelbuch“; er zählt aber nicht als Inder, sondern als Engländer.
Im Juni 1921 besuchte Tagore zum ersten Mal Deutschland.
Große Menschenmengen besuchten in aller Welt seine Vorträge. Er hatte als junger Mann die deutsche Sprache gelernt, er bewunderte Goethe und Lessing, hatte einige Gedichte von Heine in Bengali übersetzt.
Thomas Mann (1875 – 1955) hatte den kosmopolitischen Humanismus von Tagore vehement kritisiert. Nach einer Vortragsveranstaltung in Darmstadt sprach Thomas Mann über Tagore : „eine feine alte englische Dame…“
Tagore wurde am 7. Mai 1861 als Sohn einer wohlhabenden Brahmanenfamilie in Kalkutta (heute offiziell: Kolkata) geboren. Sein Vater war der in Indien höchst angesehene Philosoph Debendranath Tagore. Im Jahre 1878 schickte ihn sein Vater zum Studium der Rechtswissenschaften nach England. Er studierte jedoch bis 1883 englische Literatur. Bereits zu dieser Zeit konnte Tagore seine ersten Dichtungen veröffentlichen.
Zurück in Indien, kam er bei der Verwaltung des Familiengutes in Kontakt mit dem einfachen Volk. Konfrontiert mit dem Leid und dem Elend der Landbevölkerung, entwickelte er eine Pädagogik, die ganz bewusst vom englisch ausgerichteten Erziehungswesen abwich. Im Jahre 1901 gründete Tagore in Shantiniketan (Bengalen) eine Schule, in der er die indische und europäische Kultur und Pädagogik zu verknüpfen anstrebte.
Die meisten seiner Werke verfasste er in bengalischer Sprache
(die heute von mehr als 200 Millionen Menschen gesprochen wird) und übertrug sie später selbst ins Englische und zwar in einem derart vollendeten Stil, dass seine Werke zu einem Höhepunkt der europäischen Literatur avancierten. Ab 1912 begab er sich auf ausgedehnte Vortragsreisen quer durch Europa und die USA.
Beim Anblick eines Sonnenaufgangs über den Baumwipfeln von Kalkutta eine tiefe Glückseligkeits-Erfahrung und berichtete davon seinem Freund C.F. Andrews in einem Brief:
„Während ich den Sonnenaufgang beobachtete, schien sich plötzlich ein Schleier von meinen Augen zu heben. Ich fand die Welt in unbeschreibliche Herrlichkeit gehüllt, mit ihren Wellen der Freude und Schönheit, die sich überall brachen. Die dichte Wolke der Sorge, die oft auf meinem Herzen lag, wurde vom Licht der Welt durchbrochen, das überall leuchtete. Es gab nichts und niemanden, die ich in jenem Augenblick nicht liebte. Ich stand auf der Veranda und beobachtete die Kulis, die die Straße entlang eilten. Ihre Bewegungen, ihre Gestalt, ihre Mienen erschienen mir seltsam wunderbar, als ob sie sich wie Wellen im großen Ozean der Welt bewegten. Als einer der jungen Männer seine Hand auf die Schulter eines anderen legte, war dies ein bemerkenswertes Ereignis für mich. Ich schien in der Ganzheit meiner Vision Zeuge der Bewegungen des Körpers der ganzen Menschheit zu werden und den Takt der Musik und den Rhythmus des mystischen Tanzes zu spüren.“
Charles Freer Andrews (geb. am 12. Februar 1871 im englischen Newcastle-upon-Tyne – gestorben 5. April 1940 in Kalkutta) war ein Priester der Church of England und ein Aktivist für die indische Unabhängigkeit. Als protestantischer christlicher Missionar, Erzieher und Sozialreformer in Indien wurde er ein enger Freund von Rabindranath Tagore und Mahatma Gandhi und identifizierte sich mit dem indischen Befreiungskampf. Er war maßgeblich daran beteiligt, Gandhi davon zu überzeugen, aus Südafrika, wo Gandhi eine führende Rolle im indischen Bürgerrechtskampf gespielt hatte, nach Indien zurückzukehren.
1915 wurde Tagore von König Georg V. von Großbritannien zum Ritter geschlagen.
Vier Jahre später gab er aus Protest gegen ein britisches Massaker an 400 Anhängern Gandhis (Amritsar-Massaker) den Adelstitel zurück. Es war Rabindranath Tagore, der Gandhi den Beinamen Mahatma (Großer Geist) gab. Neben seiner literarischen Tätigkeit, verstand er sich auch als Musiker einen Namen zu machen: Tagore vertonte zahlreiche seiner Dramen und schrieb mehrere hundert volkstümliche Lieder.
Im indischen Freiheitskampf mahnte er zu Besonnenheit und zum Ausgleich mit England. Tagore erfuhr das Glück eines harmonischen Familienlebens ebenso wie die Trauer um die früh verstorbene Ehefrau, die Höhen des Weltruhms und die Tragik, drei seiner fünf Kinder sterben zu sehen.
Am 19. September 1926 kam er nach Nürnberg und komponierte an jenem denkwürdigen Spätsommertag das Lied „Amar Mukti“ (Meine Erlösung).
„Meine Erlösung ist in den Lichtern, in diesem Himmel. Meine Erlösung ist in dem Staub, in den Gräsern. Ich verliere mich weit weg vom Körper, weg von Gedanken. Meine Erlösung schwimmt hoch hinaus in die Melodien der Gesänge. Meine Erlösung findet sich in den Gedanken der Menschen. Die schwersten Aufgaben, alle Leid und Gefahren hindurch. An der Feuerstelle des Allmächtigen mich entflammend möchte ich mich selbst opfern, hoffe dabei meine Erlösung zu erreichen“.
Im Jahre 1930 traf Rabindranath Tagore in Berlin zweimal Albert Einstein (1879 – 1955), wo beide die berühmten „Konversationen über Religion“ führten.
Seine letzten Lebensjahre widmete Rabindranath Tagore seiner inzwischen zur Universität erweiterten Schule. Er starb am 7. August 1941 im Alter von 80 Jahren in Shantiniketan (wörtlich: Heimat des Friedens).
Eines seiner wunderbaren Gedichte trägt den Titel „Letzte Worte“:
„Vor mir liegt der Ozean des Friedens, lasse, Fährmann, das Boot zu Wasser. Du wirst auf ewig mein Begleiter sein, nimm, o nimm mich auf Deinen Schoß, über dem endlosen Weg wird leuchten der Abendstern. Du Geber der Freiheit, Deine Gnade wird auf der ewiglangen Reise meine ewige Wegzehrung sein. Mögen die Fesseln der Welt fallen und die Arme des Kosmos unendlich sich breiten über meine Seele, damit sie furchtlos erkenne das Große Unbekannte.“
25.07.2024
Roland R. Ropers
Religionsphilosoph, spiritueller Sprachforscher, Buchautor und Publizist
Über Roland R. Ropers
Roland R. Ropers geb. 1945, Religionsphilosoph, spiritueller Sprachforscher,
Begründer der Etymosophie, Buchautor und Publizist, autorisierter Kontemplationslehrer, weltweite Seminar- und Vortragstätigkeit.
Es ist ein uraltes Geheimnis, dass die stille Einkehr in der Natur zum tiefgreifenden Heil-Sein führt.
>>> zum Autorenprofil
Buch Tipp:
Kardiosophie
Weg-Weiser zur kosmischen Ur-Quelle
von Roland R. Ropers und
Andrea Fessmann, Dorothea J. May, Dr. med. Christiane May-Ropers, Helga Simon-Wagenbach, Prof. Dr. phil. Irmela Neu
Die intellektuelle Kopflastigkeit, die über Jahrhunderte mit dem Begriff des französischen Philosophen René Descartes (1596 – 1650) „Cogito ergo sum“ („Ich denke, also bin ich“) verbunden war, erfordert für den Menschen der Zukunft eine neue Ausrichtung auf die Kraft und Weisheit des Herzens, die mit dem von Roland R. Ropers in die Welt gebrachten Wortes „KARDIOSOPHIE“ verbunden ist. Bereits Antoine de Saint-Exupéry beglückte uns mit seiner Erkenntnis: „Man sieht nur mit dem Herzen gut“. Der Autor und die sechs Co-Autorinnen beleuchten aus ihrem individuellen Erfahrungsreichtum die Vielfalt von Wissen und Weisheit aus dem Großraum des Herzens.
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