
Jeder Mensch ist ein Würdenträger
„So wie die Anmut der Ausdruck einer schönen Seele ist,
so ist Würde der Ausdruck einer erhabenen Gesinnung“.
(Friedrich von Schiller)
Das Erwachen zur Wirklichkeit ist ein einzigartiger und allumfassender Menschwerdungsprozess, der offenbar gerade in der gegenwärtigen Weltsituation von großer Bedeutung ist.
Das deutsche Wort „Mensch“ ist indo-germanischen Ursprungs, was viel zu wenig bekannt ist.
Das Sanskritwort „Manas“ bedeutet die unterscheidende Denkkraft des Menschen.
Daraus ergibt sich die Würde jedes lebendigen Wesens, die man im Sanskrit durch das Wort „Shri“ ausdrückt und vieles bedeuten kann wie u.a. „Licht, Glanz, Strahlkraft, Schönheit, Pracht, Herrlichkeit, Majestät“.
Würdenträger sind nicht nur verehrungspflichtige Persönlichkeiten wie Hochschulprofessoren, Bischöfe, Kardinäle, die mit Exzellenz (Herausragender) oder Eminenz (Hoheit) angeredet werden.
Jeder einzelne Mensch ist ein Würdenträger.
Seit der Zeit der alten Griechen ist der Mensch des Westens immer als „rationales Wesen“ beschrieben worden, das heißt als ein Wesen mit Körper und Seele, als dessen größte Errungenschaft die Fähigkeit des Verstandes gilt. Für den modernen westlichen Menschen ist das rationale, analytische, logische, mathematische Denken die für den menschlichen Verstand charakteristische Fähigkeit, und keine Erkenntnis wird als wissenschaftlich eingestuft, die nicht auf diesem Denken beruht. Doch diese Art der Erkenntnis ist weitgehend nur das Produkt der letzten drei Jahrhunderte im Westen. Sie war der Menschheit in den Tausenden von Jahren ihrer Frühgeschichte ganz unbekannt.
Die Imagination, die Fähigkeit, Bilder zu erzeugen, ist der Weg,
auf dem auch heute noch die meisten Menschen zu einem Wissen über die Welt gelangen. Wir alle machen uns Bilder von den Menschen und Dingen um uns herum, und durch diese Bilder gelangen wir zu einem Wissen über die Welt.
C.G. Jung hat gezeigt, wie dieser Prozess abläuft und wie sich der Mensch durch Bilder und Archetypen des Unbewussten von den frühesten Zeiten an ein Wissen von der Welt verschafft. Die typische Ausdrucksweise der Imagination ist der Mythos.
Auch heute noch ist das Denken der Inder von den großen Mythen des Ramayana und Mahabharata geprägt. Und Christen auf der ganzen Welt leben immer noch aus den großen Mythen der Bibel – der Schöpfung und dem Fall, dem Exodus und dem gelobten Land, dem Messias und seinem Reich. In diesen großen Mythen ist tiefe Weisheit enthalten, eine Weisheit, die das menschliche Leben führt und gestaltet.
Doch ist es eine Weisheit, in der das Verstandesdenken nur implizit, nicht explizit enthalten ist. Das Verstandesdenken arbeitet mit Abstraktionen. Es holt gleichsam den rationalen Begriff, der in der Imagination steckt, daraus hervor. Die Weisheit der großen Dichter, eines Homer, Vergil, Dante oder Shakespeare, ist imaginative Weisheit, eine Weisheit, welche die Wirklichkeit nicht durch abstrakte Begriffe, sondern durch anschauliche Bilder begreift.
Genauso ist es mit den großen Schriften der Religionen, den Veden, dem Koran, der Bibel. In ihnen allen wird die Wirklichkeit nicht in Begriffen des abstrakten Verstandes mitgeteilt und geoffenbart, sondern in der lebendigen Sprache der Imagination, die nicht nur das analytische Denken, sondern auch Sinne, Empfindungen und Phantasie anspricht.
Die Grundlage aller Mythen ist das Symbol.
Ein Symbol wird als „Zeichen“ definiert, das dem menschlichen Bewusstsein die Wirklichkeit vergegenwärtigt. Das offensichtlichste Beispiel dafür ist das Wort. Was einen Menschen vom Tier unterscheidet, ist die Fähigkeit der Sprache. Jedes menschliche Kind verfügt über diese Fähigkeit, und sich selbst überlassen, wird es sich selbst seine eigene Sprache erfinden. Das ist ein Grund für die verwirrende Sprachvielfalt bei den so genannten Primitiven. Jeder kleine Stamm will über seine eigene Sprache verfügen, und es dauert immer sehr, sehr lange – sogar heute noch –, bis eine gemeinsame Sprache unter mehreren Stämmen etabliert werden kann.
Worte in ihrer ursprünglichen Bedeutung vergegenwärtigen die konkrete Wirklichkeit.
Erst in einem sehr späten Stadium – im ersten Jahrtausend v. Chr. – entstand das abstrakte Denken und repräsentierten Worte abstrakte Ideen. Auf den Frühstufen menschlicher Existenz aber vergegenwärtigten Worte konkrete Wirklichkeit, d.h. machten sie dem Bewusstsein gegenwärtig. Bewusstsein selbst ist nur die Fähigkeit, sich die Welt, die wir durch unsere Sinne erfahren, zu vergegenwärtigen – das heißt sie sich „gegenwärtig“ zu machen
Aus diesem Grund ist der Mythos die typische Sprache des archaischen Denkens.
Der Mythos vergegenwärtigt die Wirklichkeit der Welt, welcher der Mensch begegnet, in konkreten Begriffen. Die „Archetypen des Unbewussten“, von denen C.G. Jung spricht, sind nur konkrete Bilder der Welt, wie sie dem menschlichen Bewusstsein begegnet. Aus diesen archetypischen Symbolen, die aus dem Unbewussten aufsteigen und vom Mythos zu Bewusstsein gebracht werden, steigt alle menschliche Erkenntnis auf, und abstrakte Begriffe sind nur Verarbeitungen dieser ursprünglichen Bilder durch den menschlichen Verstand. Doch während sie ins Bewusstsein treten, werden diese Bilder von der Intelligenz erhellt. Sie geben dem Leben Sinn und befähigen den Menschen, die Welt, in der er lebt, zu verstehen – ihr „gegenüberzustehen“ – und sich dadurch auf sie zu konzentrieren.
In jeder entwickelten Sprache wird zwischen Verstand und Vernunft, zwischen ratio und intellectus, zwischen dianoia und nous unterschieden – in Indien zwischen dem manas und der buddhi. Manas ist der messende Verstand, von der Wurzel „ma“, die sich auch im „Mond“, der die Zeit misst, findet und in „Materie“, die den Raum misst. Doch über den Manas hinaus geht die Buddhi, die Quelle des Lichtes .
Der Buddha ist der Erwachte, die Vernunft, die Ein-Sicht besitzt, die in die Wirklichkeit „hineinsieht“. Die Seher der Veden wurden Rishis genannt, weil sie über diese Einsicht verfügten.
Der Verstand kann diese Erkenntnis durch Logik, Analyse und Mathematik weiterentwickeln und auf diese Weise eine wissenschaftliche Methodik aufbauen. Aber die ganze Struktur der Wissenschaft beruht auf der anfänglichen Erkenntnis, der ursprünglichen Erkenntnis des innersten Wesensgrundes in seiner Reflexion auf seine Handlungen.
An dieser Stelle tritt die Imagination in Funktion.
Die Imagination reflektiert die Welt nicht mit Hilfe abstrakter Begriffe, sondern mit Hilfe von Bildern, die uns die Wirklichkeit in ihrer konkreten Existenz vergegenwärtigen.
Heute ist uns der Unterschied zwischen der rechten und linken Gehirnhälfte bewusst geworden, und wir erkennen, dass die linke Gehirnhälfte, mit ihrem linearen Denken, nur Teil des ganzen Gehirns ist, das Einsicht in die gesamte Wirklichkeit schenkt.
Um den Mythos verstehen zu können, muss man in eine Möglichkeit, die Welt als Ganzes zu erleben, initiiert worden sein, denn nur so lässt sich die Bedeutung des menschlichen Lebens erfassen.
Heute suchen wir wieder nach einem Mythos, der unserem Leben Sinn geben könnte, da uns der Mythos der westlichen Wissenschaft betrogen hat. Die westliche Wissenschaft hatte den Mythos eines Universums entworfen, das aus festen, sich in Raum und Zeit bewegenden, mathematischen Gesetzen gehorchenden Körperchen besteht, doch dieser Mythos ist inzwischen in sich zusammengebrochen.
Die Wissenschaft selbst hat entdeckt, dass Materie Energie ist, und Zeit und Raum sind nur Begriffe, durch die wir unsere Wahrnehmungen der materiellen Welt zu ordnen versuchen. Das Universum erscheint uns jetzt als ein weiter Ozean von Energie, organisiert von einer Intelligenz, deren Widerspiegelung unsere menschliche Intelligenz ist.
Wissenschaft muss zu Wissen (Sanskrit: „Vidya“) werden, wo jeder Mensch die Erkenntniskraft für den Sinn eines würdigen Lebens gewinnt.
01.05.2025
Roland R. Ropers
Religionsphilosoph, spiritueller Sprachforscher, Buchautor und Publizist
Über Roland R. Ropers
Roland R. Ropers geb. 1945, Religionsphilosoph, spiritueller Sprachforscher,
Begründer der Etymosophie, Buchautor und Publizist, autorisierter Kontemplationslehrer, weltweite Seminar- und Vortragstätigkeit.
Es ist ein uraltes Geheimnis, dass die stille Einkehr in der Natur zum tiefgreifenden Heil-Sein führt.
Buch Tipp:
Kardiosophie
Weg-Weiser zur kosmischen Ur-Quelle
von Roland R. Ropers und
Andrea Fessmann, Dorothea J. May, Dr. med. Christiane May-Ropers, Helga Simon-Wagenbach, Prof. Dr. phil. Irmela Neu
Die intellektuelle Kopflastigkeit, die über Jahrhunderte mit dem Begriff des französischen Philosophen René Descartes (1596 – 1650) „Cogito ergo sum“ („Ich denke, also bin ich“) verbunden war, erfordert für den Menschen der Zukunft eine neue Ausrichtung auf die Kraft und Weisheit des Herzens, die mit dem von Roland R. Ropers in die Welt gebrachten Wortes „KARDIOSOPHIE“ verbunden ist. Bereits Antoine de Saint-Exupéry beglückte uns mit seiner Erkenntnis: „Man sieht nur mit dem Herzen gut“. Der Autor und die sechs Co-Autorinnen beleuchten aus ihrem individuellen Erfahrungsreichtum die Vielfalt von Wissen und Weisheit aus dem Großraum des Herzens.
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