
Gutmensch – ein modernes Stigma für Herzensethik?
Der Begriff “Gutmensch” spaltet. Für die einen ein Ideal moralischer Integrität, für andere eine nervige, belehrende Figur mit “Haltungsschaden”. Doch was passiert, wenn wir den Begriff spirituell betrachten? Was sagt es über unsere Gesellschaft aus, wenn Gutsein diskreditiert wird? Und: Welche Möglichkeit zur Heilung liegt darin verborgen?
In einer Zeit moralischer Unsicherheiten und globaler Krisen wird “Gutmensch” zur Projektionsfläche. Es gibt keine größere Kraft als die Liebe, die bereit ist zu dienen”, schrieb Martin Luther King. Doch wenn Dienst am Anderen zur Angriffsfläche wird, müssen wir tiefer blicken.
Die Abwertung des Mitfühlsamen – eine Soziopathie in Raten?
Gutmensch” wurde in den 1990er-Jahren durch rechte Kreise popularisiert. Er diente dazu, menschenrechtliches oder ökologisches Engagement als “naiv” oder “moralinsauer” zu diffamieren. Diese rhetorische Waffe wirkt bis heute:
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Wer sich für Geflüchtete einsetzt, gilt als “realitätsfern”.
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Wer für Tierwohl oder Umweltschutz streitet, wird als “Verzichtsideologe” diffamiert.
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Wer im Alltag freundlich und rücksichtsvoll handelt, wird als “schwach” wahrgenommen.
Doch was, wenn gerade in diesen sogenannten Schwächen die spirituelle Kraft unserer Zeit liegt?
Spirituelle Intelligenz und der Mut zur Haltung
Spirituelle Praxis bedeutet nicht, in Licht und Liebe zu flüchten, sondern Verantwortung zu leben. Wie der französische Mystiker Pierre Teilhard de Chardin sagte: “Wir sind keine menschlichen Wesen mit spirituellen Erfahrungen, wir sind spirituelle Wesen mit menschlichen Erfahrungen.”
Das bedeutet: Unser ethisches Handeln ist Ausdruck unseres spirituellen Wesens. Ein “Gutmensch” ist dann nicht naiv, sondern jemand, der diesen Ausdruck wagt – oft gegen den Strom, gegen den Zynismus der Zeit.
Die Angst vor dem Spiegel
Der “Gutmensch” wirkt auf viele wie ein Spiegel, den sie nicht ertragen. Warum? Weil er ungewollt Fragen aufwirft:
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Wo lebe ich gegen mein Gewissen?
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Warum empfinde ich Zivilcourage als Provokation?
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Was sagt mein Spott über meine eigene Ohnmacht?
Dietrich Bonhoeffer formulierte es drastisch: “Die letztliche Frage ist nicht, was wir wollen, sondern was Gott von uns will.” In einer spirituellen Lesart ist die Abwertung des Gutmenschen eine kollektive Abwehr gegen das Gewissen.
Zwischen Helfersyndrom und Herzensmut
Kritiker werfen Gutmenschen oft vor, sie seien übergriffig, narzisstisch oder von einem “Helfersyndrom” getrieben. Tatsächlich besteht die Gefahr, dass Gutsein zur egoischen Selbstbestätigung verkommt.
Doch hier gilt es zu unterscheiden:
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Pathologisches Gutsein: Ich brauche das Leid der anderen, um mich selbst aufzuwerten.
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Spirituelles Gutsein: Ich handle aus innerer Klarheit und verbundenem Mitgefühl.
Letzteres ist weder schwach noch manipulativ. Es ist mutig. Es ist das, was Jesus mit “selig sind die Barmherzigen” meinte – kein moralischer Zeigefinger, sondern ein innerer Weg.
“Gutmensch” als spirituelle Provokation
Die spirituelle Botschaft des Begriffs liegt nicht im Streit um Begriffe, sondern in der Frage: Wie radikal bin ich bereit, gut zu sein?
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Auch wenn es unbequem ist.
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Auch wenn ich missverstanden werde.
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Auch wenn es keine Anerkennung bringt.
Der Gutmensch ist in diesem Sinne eine Figur der Transformation: Er erinnert uns an das unteilbare Band zwischen Bewusstsein, Ethik und Handlung.
Aufrichten statt richten
Was wäre, wenn wir den Begriff “Gutmensch” umdeuten?
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Vom Urteil zum Kompliment.
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Vom Spott zur Ermutigung.
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Vom Klischee zur Vision.
“Du bist ein Gutmensch” – das könnte bedeuten: Du hast den Mut, gut zu sein, auch wenn andere schweigen. Du bleibst wach, während andere resignieren. Du verbindest Herz mit Haltung.
Wege aus der Spaltung
Unsere Gesellschaft braucht Menschen, die Haltung zeigen, ohne zu moralisieren. Spirituelle Intelligenz bedeutet nicht, Recht zu haben, sondern Raum zu öffnen:
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Für Gespräche statt Parolen.
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Für Verbindung statt Feindbilder.
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Für Mitgefühl statt Manipulation.
Wir brauchen keine Gutmenschen im Klischee, sondern bewusste Menschen mit gutem Mut.
Fazit: Das Gute wagen – mit klarem Geist und offenem Herzen
“Gutmensch” ist kein Schimpfwort, wenn wir es spirituell lesen. Es ist eine Einladung, unsere Herzenswerte zu leben – nicht als Mission, sondern als Ausdruck unseres Wesens. Wer dem Guten dient, dient nicht sich selbst, sondern dem Leben.
Oder wie Albert Schweitzer sagte: “Das einzig Wichtige im Leben sind die Spuren von Liebe, die wir hinterlassen, wenn wir gehen.”
Vielleicht ist der Gutmensch genau das: Ein Mensch, der diese Spuren bewusst hinterlässt.
18.07.2025
Uwe Taschow
Uwe Taschow
Unser Leben ist das Produkt unserer Gedanken – eine Erkenntnis, die schon Marc Aurel, der römische Philosophenkaiser, vor fast 2000 Jahren formulierte. Und nein, sie ist nicht aus der Mode gekommen – im Gegenteil: Sie trifft heute härter denn je.
Denn all das Schöne, Hässliche, Wahre oder Verlogene, das uns begegnet, hat seinen Ursprung in unserem Denken. Unsere Gedanken sind die Strippenzieher hinter unseren Gefühlen, Handlungen und Lebenswegen – sie formen Helden, erschaffen Visionen oder führen uns in Abgründe aus Wut, Neid und Ignoranz.
Ich bin Autor, Journalist – und ja, auch kritischer Beobachter einer Welt, die sich oft in Phrasen, Oberflächlichkeiten und Wohlfühlblasen verliert. Ich schreibe, weil ich nicht anders kann. Weil mir das Denken zu wenig und das Schweigen zu viel ist.
Meine eigenen Geschichten zeigen mir nicht nur, wer ich bin – sondern auch, wer ich nicht sein will. Ich ringe dem Leben Erkenntnisse ab, weil ich glaube, dass es Wahrheiten gibt, die unbequem, aber notwendig sind. Und weil es Menschen braucht, die sie aufschreiben.
Deshalb schreibe ich. Und deshalb bin ich Mitherausgeber von Spirit Online – einem Magazin, das sich nicht scheut, tiefer zu bohren, zu hinterfragen, zu provozieren, wo andere nur harmonisieren wollen.
Ich schreibe nicht für Likes. Ich schreibe, weil Worte verändern können. Punkt.