Spiritualität und Verteidigung – Mut statt Verweigerung

Verteidigung schließt Spiritualität nicht aus

Was geschieht, wenn die Welt brennt – wenn Menschen überfallen, gefoltert, deportiert oder im Krieg zermalmt werden? Darf man dann noch von Spiritualität sprechen? Oder zieht man sich nicht allzu leicht in eine heile Innenwelt zurück, während draußen das Grauen tobt? Genau hier entscheidet sich, ob Spiritualität eine Kraftquelle für Mut ist – oder ob sie verkommt zu einer Ideologie der Verweigerung, die Täter stärkt und Opfer im Stich lässt.


Spiritualität und Verteidigung im Zeichen der Gewalt – ein altes Ringen

Ahimsa – Gewaltlosigkeit mit Verantwortung

Die großen Religionen des Ostens haben uns Ahimsa hinterlassen, das Ideal der Gewaltlosigkeit. Doch schon in der Bhagavad Gita wird klar: Wer sich dem Kampf verweigert, obwohl er das Leben anderer retten könnte, verfehlt seine Verantwortung. Gandhi selbst sagte unmissverständlich: Gewaltlosigkeit darf niemals Feigheit sein. Lieber handeln und Fehler riskieren, als passiv dem Unrecht zuzuschauen.

Christentum – Gerechter Widerstand

Auch im Christentum finden wir diese Spannung. Die Bergpredigt mahnt zur Feindesliebe, doch die Tradition kennt auch das Konzept des „gerechten Krieges“. Dietrich Bonhoeffer, der sich gegen Hitler stellte, hat diese Frage mit seinem Leben beantwortet: Es gibt Momente, in denen Schweigen und Untätigkeit zu Verrat am Glauben und am Menschen werden. Seine Spiritualität war keine Flucht, sondern Widerstand. Er schrieb: „Schweigen angesichts des Unrechts ist selbst Unrecht. Nicht zu reden ist reden. Nicht zu handeln ist handeln.“ Und an anderer Stelle: „Es kommt nicht darauf an, in welcher Haltung ich sterbe, sondern in welcher Sache ich lebe.“

Sikhismus – Sant Sipahi

In der Sikh-Tradition verschmelzen Spiritualität und Verteidigung: Der Sant Sipahi, der „heilige Soldat“, ist nicht nur für sein eigenes Heil verantwortlich, sondern für die Schwachen und Verfolgten. Spiritualität ohne Courage ist dort undenkbar.

Wenn Spiritualität zur Ausrede wird

Doch es gibt die andere Seite – das, was man heute Spiritual Bypassing nennt. „Alles ist Illusion“, „alles ist Karma“, „Gott wird es schon richten“ – diese Form von Spiritualität ist bequemer Selbstschutz. Sie hält uns sauber, makellos, unangreifbar. Aber sie schützt nicht die Kinder, die aus ihren Häusern gezerrt werden. Sie schützt nicht die Minderheiten, die deportiert werden. Sie schützt nicht die Nachbarn, die im Krieg verschwinden.

Eine solche Spiritualität ist keine Tiefe – sie ist Verweigerung. Sie ist Eskapismus mit Heiligenschein. Und schlimmer noch: Sie ist Komplizenschaft, weil sie Täter gewähren lässt.

Verantwortung im Angesicht des Grauens

Hannah Arendt – die Banalität des Bösen

Arendt warnte uns: Das Böse triumphiert nicht durch wenige Monster, sondern durch das Schweigen der Vielen. Eine Spiritualität, die uns zum Schweigen erzieht, macht uns zu Teilhabern des Unrechts.

Judentum – Pflicht zur Rettung

Im Judentum gilt das Prinzip pikuach nefesh: Leben zu retten steht über allem. Es gibt keine Ausflüchte. Angesichts von Deportationen oder Folter ist Nicht-Handeln Verrat an diesem Prinzip.

Engagierter Buddhismus

Thich Nhat Hanh prägte den „engagierten Buddhismus“: Meditation ist kein Rückzug, sondern die Quelle für mutiges Handeln in einer zerrissenen Welt. Er sagte: „Mit Mitgefühl kann man den Mut haben, zu handeln. Mit Mitgefühl kann man sogar für andere sterben – so wie eine Mutter für ihr Kind.“ Und er fügte hinzu: „Wenn du nicht genug Frieden, Verständnis und Güte in dir trägst, werden deine Taten niemals wirklich dem Frieden dienen.“

Verteidigung schließt Spiritualität nicht aus
KI unterstützt generiert

Konkrete Gegenwart

  • Ukraine: Seit 2022 verteidigen Menschen ihre Städte, Familien und Kultur gegen eine Invasion. Wer hier Spiritualität als Rückzug versteht, stellt sich neben die Angreifer. Spirituelle Kraft zeigt sich im Durchhalten, im Mut, im Schutz des Lebens.

  • Armenien / Bergkarabach: Hunderttausende Armenier wurden aus ihrer Heimat vertrieben. Eine Spiritualität, die sagt: „Es ist ihr Karma“, ist zynisch. Wahre Spiritualität verlangt Solidarität mit den Vertriebenen.

  • Uiguren in China: Eine ganze Minderheit wird interniert, ihrer Kultur und Religion beraubt. Die Überlebende und Whistleblowerin Sayragul Sauytbay sagte in einem Interview, sie habe ihr Leben riskiert, um über die Lager zu sprechen, weil „die Welt die Wahrheit erfahren muss“. Für diesen Mut erhielt sie den International Women of Courage Award. Ihr Zeugnis zeigt: Schweigen ist keine Option.

  • Nahost / Palästina und Israel: Unsicherheit, Bombardierungen, Angst prägen den Alltag von Millionen. Papst Franziskus erinnerte hier wie auch in Bezug auf andere Kriege: „Krieg ist der Selbstmord der Menschheit, weil er das Herz und die Liebe tötet.“ Und er betonte: „Es gibt keinen gerechten Krieg – sie existieren nicht.“

Spiritualität als Feuer des Mutes

Eine Spiritualität, die ihren Namen verdient, darf keine Einladung zur Feigheit sein. Sie soll uns nicht von der Realität entlasten, sondern uns mit ihr konfrontieren. Sie schenkt uns innere Stärke, nicht um uns abzuschotten, sondern um im Angesicht der Bedrohung geradezustehen.

  1. Innere Haltung: Den Frieden im Herzen bewahren, auch wenn Hass uns umgibt. Nicht verbittern, nicht vergiften.

  2. Äußeres Handeln: Den Mund öffnen, wenn Unrecht geschieht. Den Körper einsetzen, wenn andere bedroht sind. Widerstand leisten, auch wenn er unbequem ist.

Spiritualität ohne Mut ist Selbstbetrug. Wahre Spiritualität gebiert Courage.

Fazit – Spiritualität zwischen Mut und Flucht

In Zeiten von Krieg, Gewalt und Unterdrückung zeigt sich der wahre Charakter spiritueller Praxis. Wird sie zum Deckmantel, um nichts zu tun? Oder zum inneren Kompass, der uns befähigt, Verantwortung zu übernehmen – auch gegen Widerstand, auch mit Risiko?

Spiritualität und Verteidigung schließen sich nicht aus. Sie gehören zusammen. Denn das höchste spirituelle Handeln besteht nicht darin, „rein“ zu bleiben – sondern darin, das Leben zu schützen, wo es bedroht ist.

Spiritualität darf nicht zum Rückzug verführen. Sie muss zum Aufstehen ermutigen.

Quellen

  1. Mahatma Gandhi über Gewaltlosigkeit: Gandhi on Ahimsa

  2. Dietrich Bonhoeffer: Widerstand und Ethik, Zitate: Bonhoeffer – Widerstand und Ergebung

  3. Thich Nhat Hanh über engagierten Buddhismus: Engaged Buddhism – Lion’s Roar

  4. Papst Franziskus über Krieg: Canopy Forum – Just War Theory

  5. Sayragul Sauytbay – Zeugnis über die Lager in Xinjiang: Wikipedia


 

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29.08.2025
Uwe Taschow

Alle Beiträge des Autors auf Spirit Online

Über Uwe Taschow, Autor, spiritueller JournalistKrisen und Menschen Uwe Taschow

Unser Leben ist das Produkt unserer Gedanken – eine Erkenntnis, die schon Marc Aurel, der römische Philosophenkaiser, vor fast 2000 Jahren formulierte. Und nein, sie ist nicht aus der Mode gekommen – im Gegenteil: Sie trifft heute härter denn je.

Denn all das Schöne, Hässliche, Wahre oder Verlogene, das uns begegnet, hat seinen Ursprung in unserem Denken. Unsere Gedanken sind die Strippenzieher hinter unseren Gefühlen, Handlungen und Lebenswegen – sie formen Helden, erschaffen Visionen oder führen uns in Abgründe aus Wut, Neid und Ignoranz.

Ich bin AutorJournalist – und ja, auch kritischer Beobachter einer Welt, die sich oft in Phrasen, Oberflächlichkeiten und Wohlfühlblasen verliert. Ich schreibe, weil ich nicht anders kann. Weil mir das Denken zu wenig und das Schweigen zu viel ist.

Meine eigenen Geschichten zeigen mir nicht nur, wer ich bin – sondern auch, wer ich nicht sein will. Ich ringe dem Leben Erkenntnisse ab, weil ich glaube, dass es Wahrheiten gibt, die unbequem, aber notwendig sind. Und weil es Menschen braucht, die sie aufschreiben.

Deshalb schreibe ich. Und deshalb bin ich Mitherausgeber von Spirit Online – einem Magazin, das sich nicht scheut, tiefer zu bohren, zu hinterfragen, zu provozieren, wo andere nur harmonisieren wollen.

Ich schreibe nicht für Likes. Ich schreibe, weil Worte verändern können. Punkt.

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