
Mystisches Christentum im Licht östlicher Weisheit
Ravi Ravindra wurde 1939 in Patiala/Punjab im damaligen Britisch-Indien geboren. Als sechstes von sieben Kindern wuchs er in einem gehobenen Mittelschichthaushalt auf, in dem am Esstisch oft mehrere Sprachen gesprochen wurden. Sein Vater, Dalip Chand Gupta, war ein bekannter und hoch angesehener Anwalt, der Hindi, Punjabi, Urdu, Englisch, Sanskrit und Farsi beherrschte. Sein Vater förderte den freien Gedankenaustausch in angeregten Diskussionen, die sich oft um das britische Verfassungsrecht drehten – ein Thema, das auf großes Interesse stieß, als Indien im Jahr 1947 seiner Unabhängigkeit vom Britischen Empire immer näher kam.
Wir sind uns wiederholt persönlich begegnet. Sein Buch über das Johannes-Evangelium aus der Sicht eines indischen Weisen begleitet mich seit Jahrzehnten.
Seine Mutter, Puma Devi Goel, widmete ihr Leben ihrer Familie und war, wie viele indische Frauen ihrer Generation, Analphabetin. Damals galt die Bildung von Frauen und Mädchen nicht nur in Indien, sondern in weiten Teilen der Welt als weder notwendig noch wichtig. In Britisch-Indien erhielten Frauen erst im Jahr 1929 das allgemeine Wahlrecht, ein Erfolg, an dem Annie Besant als Präsidentin der Internationalen Theosophischen Gesellschaft maßgeblich beteiligt war.
Als Teenager suchte Ravi Ravindra, wie die meisten Jugendlichen, seinen eigenen Weg in der Welt. 
Er las eines Tages in den Werken eines indischen Weisen, der ihn tief und nachhaltig beeindruckte. In den Schriften von Swami Vivekananda, dem wichtigsten Schüler des Mystikers Sri Ramakrishna aus dem 19. Jahrhundert, entdeckte Ravi jemanden, der seine Sehnsucht nach dem Geheimnis und der Bedeutung des Lebens ansprach. Damals beeindruckte Ravi eine Aussage Vivekanandas: „Ich bin eine Stimme ohne Form.“
Obwohl er schon als Teenager eine bleibende Verbindung zu Vivekananda fand, begann Ravis spirituelle Suche schon lange bevor er alt genug war, die Schätze der indischen Philosophie zu schätzen. Mit elf Jahren machte ihn sein Vater mit einem unschätzbaren Juwel bekannt. Sein Vater liebte Poesie und las sie oft jedem vor, der zufällig vorbeikam. „Das war seine Vorstellung von Urlaub – er saß draußen in der Sonne mit einem Stapel Gedichtbände und las, so lange er konnte.“
Gemäß indischem Brauch führten Ravis Eltern eine arrangierte Ehe,
die er als liebevoll und stabil in Erinnerung hat. Seine Kindheit verlief größtenteils glücklich und zufrieden, doch 1947 öffnete ihm die Teilung Indiens die Augen für die Plage religiöser Intoleranz. Er war gerade neun Jahre alt, als das koloniale Indien die Qual der Teilung in zwei separate und unabhängige Länder durchlebte – Indien mit hinduistischer Mehrheit und Pakistan mit muslimischer Mehrheit. Die Teilung löste die größte Migrationsbewegung der Menschheitsgeschichte aus und zwang rund zehn Millionen Menschen, über die neu gezogenen und heftig umstrittenen Grenzen zu fliehen. Hunderttausende Hindus und Muslime wurden getötet, als in ganz Indien massive Gewalt ausbrach.
Mitten in diesem tragischen und historischen Ereignis stand Ravi auf der Veranda seines zweistöckigen Elternhauses in der Punjab-Stadt Sunam, während sich unten in den Straßen ein wütender Mob versammelte. Und dann geschah das Undenkbare – eine Erinnerung, an die er sich nur schwer erinnern kann. „Ich sah, wie ein kleines Kind ins brennende Feuer geworfen und einer schwangeren Frau der Bauch durchbohrt wurde. Das übertönte die meisten meiner Kindheitserinnerungen, und deshalb habe ich mich nie für Religion interessiert. Als Junge war ich eingetragenes Mitglied der Kommunistischen Partei, weil ich gegen die Priester war. Aber Vivekananda befreite mich von der Vorstellung, dass Priester für spirituelle Belange relevant seien. Religion hat fast nichts mit spiritueller Praxis oder Disziplin zu tun.“
Um seinen Standpunkt zu verdeutlichen, vergleicht Ravi Religion und Spiritualität mit Liebe und Ehe. Sie können nebeneinander existieren, aber gleichzeitig auch getrennt sein. „Ich glaube nicht, dass man gegen Religion sein muss, wie ich es früher war, aber das Problem ist, dass religiöser Glaube die Forschung behindert.“ Er räumt ein, dass einige religiöse Organisationen dringend benötigte soziale Dienste leisten, wie die Betreuung obdachloser Familien oder die Bereitstellung von Nahrung und Unterkunft bei Naturkatastrophen, und dafür ist er dankbar. „Aber wenn man seinen spirituellen Körper nähren möchte, nicht nur eine intellektuelle Untersuchung, sondern eine Suche oder ein Suchen, bin ich überzeugt, dass Religionen damit nichts zu tun haben.“
Als Ravi Ravindra im Jahr 1961 zum ersten Mal nach Nordamerika kam,
war er ein 22-jähriger Doktorand mit einem Master-Abschluss vom Indian Institute of Technology. Ihm wurden zahlreiche akademische Einladungen zuteil, darunter Promotionsstipendien am Caltech, dem MIT und der Universität Toronto. Er entschied sich für ein Studium in Kanada, weil er bei Professor J. Tuzo Wilson, einem renommierten Geophysiker in Toronto, studieren wollte und weil das Commonwealth-Stipendium Kanadas seine Reisekosten übernahm.
Obwohl er schnell und beeindruckend akademische Erfolge erzielte (er hat einen M.S. und einen Ph.D. in Physik von der Universität Toronto sowie einen M.A. in Philosophie), konnte er das, was er für sein Innenleben brauchte, nicht durch die Anhäufung von Wissen in der Wissenschaft finden. Ravi drückt es so aus: „Philosophen sprechen immer von Wissen. Aristoteles sagte: ‚Der Mensch strebt von Natur aus nach Wissen‘, aber das Bedürfnis nach Sinn ist genauso stark. Ohne Beziehung kann es keinen Sinn geben – wie ist meine Beziehung zu mir selbst, zur Natur, zu Gott? Und der Kern jeder Beziehung ist Liebe. Wissen isoliert einen immer mehr. In der Analyse kann man alles in immer kleinere Teile zerlegen und so die eigene Aufmerksamkeit von allem anderen abkoppeln.“
Ravi suchte nach einer höheren Bewusstseinsebene und wünschte sich jemanden, der ihn dorthin führen konnte.
Er hatte das Glück, dass sein Wunsch in Erfüllung ging. Er war dreißig Jahre alt, als er die Frau traf, die er als seine spirituelle Mutter bezeichnet. Die Begegnung kam durch einen Freund zustande, der Ravi mit P.D. Ouspenskys bahnbrechendem Buch „Auf der Suche nach dem Wunderbaren“ bekannt gemacht hatte. Das Buch beleuchtet, was der spirituelle Lehrer G.I. Gurdjieff im 20. Jahrhundert den Vierten Weg oder die Arbeit nannte. Die Gurdjieff-Arbeit lässt sich kurz als praktischer Ansatz zur Selbsterforschung beschreiben, der die Möglichkeit innerer Freiheit erwecken kann.
Ravi hatte sein Leben lang das Glück, direkt von spirituellen Visionären zu lernen. 1979, im Alter von 41 Jahren, hatte er eine enge Beziehung zu zwei verehrten spirituellen Vorbildern aufgebaut – dem ZEN-Meister Kobori Roshi und Jiddu Krishnamurti. Kobori Roshi lud Ravi ein, bei ihm in Japan zu studieren, und gleichzeitig lud ihn Krishnamurti ein, nach Ojai/Kalifornien zu kommen, um dort einige Aspekte seiner Stiftung zu leiten.
Obwohl seine Beziehung zu Krishnamurti eng blieb,
beschreibt Ravi sie nicht als Schüler-Lehrer-Verhältnis, vor allem, weil Krishnamurti diese Art der Beziehung nie förderte, aber auch, weil er selbst nicht so empfand. „Ich hatte immer Zweifel an seiner Lehre. Ich konnte nicht glauben, dass die Traditionen alle falsch waren, dass keine Anstrengung nötig war; dass es keine Lehre, keinen Lehrer gab. Ich stimme mit all diesen Formulierungen einfach nicht überein. Vielleicht bin ich zu sehr von der Gurdjieff-Arbeit beeinflusst, aber sie hat mir geholfen, und Krishnamurti hat mir auch geholfen.“
Seit Jahrzehnten wägt Ravi ab und verbindet seine Erkenntnisse aus eigener Erfahrung mit den spirituellen Traditionen Ost und West. Er betont oft, dass die großen philosophischen Ideen Indiens zwar verschiedene Bewusstseinsebenen darstellen, dasselbe aber auch vom Christentum gilt, wenn man seine inneren Dimensionen erforscht, wie es die Gnostiker taten. „Wir schätzen Buddha oder Christus nicht, weil sie schöne Theorien über die Wirklichkeit hatten, sondern weil sie Menschen waren. Ich bin überzeugt, dass man die Wahrheit nicht erkennen, sondern verkörpern kann.“
Er fühlt sich zu christlichen Mystikern wie Teresa von Avila, Meister Eckhart und Johannes vom Kreuz hingezogen, und obwohl er kein Christ ist, wird er häufig eingeladen, vor christlichen Gruppen über die Mystik und Schönheit zu sprechen, die sich hinter der wörtlichen Auslegung christlicher Texte verbergen. Er kann Kapitel und Verse aus dem Neuen Testament auswendig zitieren und ebenso leicht in den Upanishaden etwas Entsprechendes dazu finden. Die indische und die christliche Tradition leben in ihm harmonisch nebeneinander. Er erklärt es so: „Ich möchte innerhalb meiner Geburtstradition und auch in anderen Traditionen nach immer subtileren Ebenen suchen. Die subtileren Ebenen können nur von subtileren Wahrnehmungsorganen wahrgenommen werden, die entwickelt werden müssen“.
Die Fähigkeit, mit den Augen des Geistes zu sehen, 
deutet darauf hin, dass die spirituelle Entwicklung eines Menschen möglicher-weise einen alchemistischen Prozess beinhaltet. Wenn das stimmt, wo beginnt man dann? Für Ravi ist der Zustand des Nicht-Wissens sein eigener Anfang. „Ich empfinde ein Gefühl des Mysteriums, weil ich nicht alles weiß, was es zu wissen gibt, und eigentlich auch nicht alles wissen kann. Mysterium bedeutet Offenheit für das, was kommen mag – die Bereitschaft, sich überraschen zu lassen, ein Gefühl des Staunens. Für mich ist Staunen wahre Nahrung für den spirituellen Körper.“
Ravi wanderte einmal auf dem Mount Tamalpais nördlich von San Francisco, umgeben von Mammutbaumhainen und mit spektakulären Ausblicken auf das Meer und die Hügel von Marin County. Er verstummte, als er die Szenerie vor sich betrachtete. „Die Sonne ging unter, und ich war so berührt von der Schönheit, dass ich buchstäblich nicht mehr stehen konnte. Nur zwei- oder dreimal in meinem Leben hatte ich dieses Gefühl überirdischer Schönheit. Solche Erlebnisse oder Eindrücke sind spirituelle Nahrung.“
In den spirituellen Traditionen Ost und Wests wird die Ernährung, nicht nur körperlich, sondern auch spirituell, als wichtig erachtet. „Spirituelle Nahrung gehört einer Dimension an, in der Sprache nicht ausreicht. Sie kann zu der Frage führen: ‚Warum bin ich hier? Wurde alles dazu geschaffen, mich hervor-zubringen? Warum ist die Menschheit hier? Warum dieser Planet hier?‘ Das ist Nahrung für den spirituellen Körper, denn diese Fragen nähren den Aspekt meiner Erkenntnis“.
19.06.2025
Roland R. Ropers
Religionsphilosoph, spiritueller Sprachforscher, Buchautor und Publizist
Über Roland R. Ropers
Roland R. Ropers geb. 1945, Religionsphilosoph, spiritueller Sprachforscher,
Begründer der Etymosophie, Buchautor und Publizist, autorisierter Kontemplationslehrer, weltweite Seminar- und Vortragstätigkeit.
Es ist ein uraltes Geheimnis, dass die stille Einkehr in der Natur zum tiefgreifenden Heil-Sein führt.
Buch Tipp:
Kardiosophie
Weg-Weiser zur kosmischen Ur-Quelle
von Roland R. Ropers und
Andrea Fessmann, Dorothea J. May, Dr. med. Christiane May-Ropers, Helga Simon-Wagenbach, Prof. Dr. phil. Irmela Neu
Die intellektuelle Kopflastigkeit, die über Jahrhunderte mit dem Begriff des französischen Philosophen René Descartes (1596 – 1650) „Cogito ergo sum“ („Ich denke, also bin ich“) verbunden war, erfordert für den Menschen der Zukunft eine neue Ausrichtung auf die Kraft und Weisheit des Herzens, die mit dem von Roland R. Ropers in die Welt gebrachten Wortes „KARDIOSOPHIE“ verbunden ist. Bereits Antoine de Saint-Exupéry beglückte uns mit seiner Erkenntnis: „Man sieht nur mit dem Herzen gut“. Der Autor und die sechs Co-Autorinnen beleuchten aus ihrem individuellen Erfahrungsreichtum die Vielfalt von Wissen und Weisheit aus dem Großraum des Herzens.
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