Reflektionen zur Unvorhersehbarkeit des Lebens
Mit den ersten aufdämmernden Gedanken des Morgens kommt mir das Bild einer Allee in den Sinn. Eine Allee ist eine Straße von Bäumen gesäumt und diese Bäume sind meist schräg gewachsen unter dem Einfluss scharfer Winde, die über die Felder hin zur Straße fegen. Ich sehe diese schrägen, anmutenden Bäume vor meinem inneren Auge. Mit einem Mal flutet eine Welle von Schönheit und Berührtheit durch mich. Diese Bäume sind unter dem Einfluss ihrer Aufgabe gewachsen. Sie werden gepflanzt, um den Wind abzuschirmen und vor der Sonne zu schützen. An schneeverwehten Wintertagen lassen sie den Verlauf der Fahrbahn erkennbarer sein. Im Nebel helfen sie, Orientierung zu geben. Dazu festigt das Wurzelwerk die Erde, was Erosionen verhindert und Reparaturen im Straßenbau verringert. Und auch im Luftelement dienen sie mit natürlichem Schallschutz für nahe liegende Wohnorte von Menschen sowie Tieren.
In dieser Berührung wird ein kultureller Knoten in mir gelockert. Das Bild ist uralt. Als Symbol der Einzigartigkeit und Vielfältigkeit wird auf die Unterschiedlichkeit der Bäume verwiesen. Jeder Baum wächst anders, jeder Baum hat krumme Verästelungen oder seltsame Rundungen im Stamm. Doch über diese Symbolik und die Normierung des Menschen hinaus, erschließt sich mir eine weitere Ebene darin. Es ist die Absurdität der Überzeugungen, die Formung des Lebens zu kennen bevor sie gelebt werden. Es geht nicht um Einzigartigkeit, sondern um Unvorhersehbarkeit und Nacktheit vor dem Leben.
Was das Leben bringt
Zu viele Weisheiten werden gelesen, weil man darin Sicherheit, Zuversicht und Trost während Lebenstürmen sucht. Spirituelle Lehrer und bekannte, erfolgreiche Persönlichkeiten stellen die zu erreichende Möglichkeit dar, die angestrebt wird – “So sieht es aus, so kann es sein, das lebe ich nun auch”. Praktiken und Methoden werden gemäß dem Ziele und der Wünsche ausgewählt. Wenn jemand gefragt wird, wieso er meditiert, wird er wohl meinen es sei wegen des Friedens, der Stille und der Selbsterkenntnis. In Werbung für Seminaren wird vorab beschrieben, in welchen Zuständen man sich danach befindet und wie das Leben transformiert sein kann. Vegane Nahrung und weiße Kleidung lässt dich höher schwingen, genügend Grund dies nun zu konsumieren.
Alle diese Herangehensweisen gehen davon aus, dass wir absichtlich entscheiden würden und können, wie wir unser Leben leben. Wir wüssten, was uns das Leben bringt und wie – oder dies zumindest sollte. Diese scheinbare Möglichkeit ergibt sich daraus, dass wir vorab wüssten, wohin uns eine Erfahrung, Praktik oder Lehrer führt oder was wir darin finden. Wir formen das Leben. Wir kennen unsere Ziele und müssen sie nur umsetzen. Wir wissen, was wir wollen und müssen nur den Weg dorthin finden. Immer mehr Coaches und Heiler können dabei helfen. Und falls man es noch nicht weiß, helfen sie dabei, dies herauszufinden. Dies sei ja die Grundlage für deine Entscheidungen. Zu oft wird dieses Herangehen als spirituell und bewusste Lebensweise verstanden – welch riesige Verdrehung!
Erwachen mit schlotternden Knien
Ich vermute es ist die immense Angst vor dem Leben, die uns an dieser uralten Geschichte festhalten lässt. Das Leben bleibt kontrollierbar, es bleibt überschaubar und es bleibt planbar. Doch wenn wir von unserer ursprünglichen Natur sprechen und wilder, freier Lebendigkeit kosmischen Ausmaßes, dann sind Kontrolle, Überschaubarkeit und Pläne ein nicht nennenswertes Antidot. Gibt man der Göttin, der Lebensenergie, einmal die Hand, bricht sie durch alle Vorstellungen, selbstgemachten Bedeutungen und mühsam gestrickter Zusammenhänge von Ursache und Wirkung. Sie fegt und wirbelt alle Unwahrheiten durcheinander, dass wir zugeben müssen, dass wir Leben und Tod verwechselt haben.
Das bedeutet nicht, dass unsere Essenz zügellos und chaotisch ist. Jedoch sind unsere Vorstellungen von einem richtigen, bewussten oder guten Leben zu sehr an kulturelle Traumata fundamentaler Selbstverleugnung geknüpft, die die Lebensenergie in ihrem bewussten, intelligenten Fluss durch geschlossene Gelenken und kontrahierte Muskeln hemmt.
Die Vorhersehbarkeit, die durch diese Art der Kontrolle entsteht, ist keine weise Lebensführung, sondern schlichtweg Lebensunterdrückung. Und so können wir wohlmeinend meditieren, Thai Chi praktizieren oder jeden Tag mit einem Zitronensaft beginnen, während darin der Geist der Vorhersehbarkeit am Werk ist. Das Bewusstsein bleibt gedämmt, sie wahre Quelle der Lebensbewegungen bleibt unerkannt und das spirituelle Ego blüht auf zu großem Glanze.
So sehr ein starkes Ich, ein intaktes Körper-Psyche-System, sehr hilfreich für das Erdendasein ist, so sehr hilft die Erkenntnis, dass dieses Ich nicht das Leben formt. Das Leben formt uns. Wenn die Konditionierungen und Vorstellungen soweit aufgebrochen sind, dass diese Erkenntnis im Geist offenbar wird, stehen wir mit schlotternden Knien der Urangst nackt gegenüber.
Zunächst kommen wir ins Wanken, wenn die Unvorhersehbarkeit deutlich wird. Ich weiß nicht, was aus der jeweiligen Erfahrung entsteht. Ich weiß nicht, was mich erwartet. Ich weiß nicht, was die nächste Lebensbewegung ist. Was früher ganz klar erschien, 1+1 ist 2, hebelt sich beim Erwachen in die Vertikale aus. Plötzlich ergibt 1+1 gleich 1. Wir verstehen die Welt nicht mehr. Und all die Schuld und Scham, die diese alte Welt zusammenhielten, schwemmen hoch ins Bewusste. Verdrängte Erfahrungsräume suchen nach Integration. schockartig wird sichtbar, was aus dem Schatten schon immer wirkte. Die Gesetze der Verstandeswelt gelten nicht mehr, die neuen Gesetze wurden noch nicht durchdrungen. Schleudergang in Bewusstseinswandel – oft unerkannter Grund für Panikattacken und Sinnkrisen.
Vor dem Leben niederknien
Die wesentliche, mögliche Entscheidung ist nicht, in welches Yogastudio wir gehen oder welchen Film wir am Wochenende schauen. Die einzige Entscheidung liegt zwischen Wahrheit und Unwahrheit, Lebenszuwendung oder Lebensabwehr, Selbsterforschung oder Selbstverleugnung – Ja oder nein zur Lebensenergie. Es ist die Hingabe an das Unvorhersehbare und die Anerkennung der totalen Abhängigkeit an die Quelle des Seins. In Demut und Ermächtigung knien wir nieder und lassen all unsere lächerlichen Selbstverherrlichungen wie sinnlose Waffen niederfallen – “Leben, ich kenne dich nicht, bevor ich dich erlebt habe. Und ich verstehe nichts, bevor du es mir in meinen Zellen offenbarst”.
Dann beginnen wir in uns hinein zu lauschen, um die authentische Lebensbewegung jenseits mentalen Wissens zu hören. Und wir folgen ihr ohne einen Schimmer von Garantie, was daraus folgt. Wir sehen ein, dass es Unterscheidungskraft braucht. Und sind bereit durch das reinigende Feuer zu gehen. Wir sind bereit das Leben komplett neu zu erlernen und uns auf unserem Lebensweg durch kraftvolle Berührung formen und hervorbringen zu lassen. Auch wenn wir schief und krumm wie Alleebäume erscheinen, Wahrheit wurde gelebt und unsere Aufgabe erfüllt.
16.01.2025
Sara Gnanzou
https://tiefbewegtblog.wordpress.com/
Die Sehnsucht nach Lebendigkeit führte Sara Gnanzou zunächst zu Reisen durch die Welt, einem interdisziplinären Philosophiestudium und Tätigkeiten im Beratungs- und Choachingbereich. Seit 2020 widmet sie sich der spirituellen Lebensforschung. In Ihre Arbeit fließen neben tantrischem Wissen und westlicher Philosophie auch die Körper- und Traumaforschung mit ein. Durch das Teilen ihrer Forschungserkundungen durch Wort und Bild möchte sie unterstützend dazu inspirieren, das eigene Sein zu erforschen und die Lebendigkeit erblühen zu lassen.
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