Spirituelle Einweihung heute: Warum der Weg zur Reife oft unvollständig bleibt

Missglückte Einweihung oder der Weg vom Kind zum Erwachsenen

Missglückte Einweihung oder der Weg vom Kind zum Erwachsenen

Über die letzten Jahrzehnte ist der Zugang zu spirituellem Wissen explosionsartig gestiegen. Es ist kein Vergleich, wie viele Meditationszentren und Tai Chi-Lehrer es 1995 gab und wie viele heute. Schauen wir noch weiter zurück zum Anfang des 20. Jahrhunderts, ist es leicht vorstellbar, wie besonders und selten es war mit spirituellem Wissen in Kontakt zu kommen. Natürlich gab es immer schon Menschen, die den inneren Weg gesucht haben und hungrig nach geistiger Erweiterung zu den Weisen weit gereist sind. Doch die Zahl ist auch im Anbetracht des rasanten Bevölkerungsanstiegs sehr viel kleiner. Das Internet hat erheblich dazu beigetragen.

Interessiert an Advaita Vedanta? Oder doch lieber Gewaltfreie Kommunikation mit spiritueller Ausrichtung? Oder klassischen Zen-Buddhismus? Es gibt kaum ein Schlagwort, was kein Video bei Youtube oder unzählige Websitevorschläge bei Google hervorbringt. Satsangs, Vorträge oder Aufnahmen von Praxisgruppen – spirituelles Wissen scheint so leicht zugänglich, fast schon alltäglich.

Spirituelle Praxis und Kindlichkeit

Ja, es scheint nur so. Einige Punkte gehen leicht unter im Enthusiasmus über positive Ausrichtung und den Jubelrufen über den Aufstieg in die fünfte Dimension. Statt dem Anstieg spiritueller und menschlicher Reifung wird Infantilisierung mit spirituellen Worten umhüllt. Statt Massenerwachen entsteht eine Szene neuer Massenträume. Und die neue Art des bewussten Miteinanderseins ist geladen mit einem gewaltvollen Dogmatismus von Mitgefühlsparolen, der selbst gewiefte Diktatoren stauen lassen würde.

Wer zweifelt und noch das Wort ‘müssen’ benutzt, hängt leider in der dritten Dimension fest. So kontrolliert und diszipliniert sich der neue spirituelle Gutmensch selbst, ohne zu merken, dass er immer noch äußeren Regeln und mentalen Konzepten folgt. So leicht werden teilweise kritische Dialoge und die Ansprache von negativen Aspekten des Lebens unterdrückt. Viele spirituelle Szenen bleiben einseitig und kindlich.

Dafür gibt es verschiedene nennenswerte Dynamiken. Doch ein wesentlicher Aspekt für wirkliche innere Entwicklung, der kaum Beachtung bekommt und für viele Suchende keinen besonderen Stellenwert bekommt, betrifft die Einweihung. Spirituelles Wissen wird nicht durch Worte und nicht einmal durch Praktiken weitergegeben, sondern durch Einweihungen. Und diese Einweihungen geschehen nicht durch Rituale, sondern durch das Leben selbst. Schriften, Praktiken und Rituale sind im besten Fall ein Mittel des Lebens eine Einweihung vorzubereiten oder dort hinzuführen.

Eine Meisterin ist Meisterin, weil sie erkennt, wie das Göttliche durch die Manifestation wirkt, und vom Göttlichen als rechte Hand benutzt werden kann. Sie sieht, wann ihre Schülerin eine Entwicklungsstufe durchschritten hat und natürlich die nächste Einweihung dran ist. Jede Einweihung ist eine Vertiefung in die Beziehung mit dem inneren Strom an Lebenskraft, eine Einsicht in die wahre Natur des Lebens.

Missglückte Einweihung und die Folgen

Nun haben die meisten kein wirkliches Interesse daran, das Leben in seiner tiefsten Tiefe kennenzulernen. Sie fragen, wie die Ängste weniger werden oder die Finanzen stressfrei fließen. Sie wollen wissen, wie es mit der Partnerschaft klappt oder das Familiensystem endlich kein Schmerzpunkt mehr ist. Wahrheit über die Natur des Lebens? Vielleicht etwas für die Yogis mit strenger Sadhana oder Erwachenshungrigen, aber sie müssen ihr konkretes Leben regeln. Da sind die inneren Kinder, alten Kränkungen und Traumata wichtiger.

Wer so denkt, hat noch nicht verstanden, was Spiritualität und spirituelle Entwicklung ist. All die Symptome des gescheiterten, stressigen Alltagslebens sind auf missglückte Einweihungen zurückzuführen. Ja, ich bringe hier die These vor, dass all die karmischen Verstrickungen und unerlösten inneren Kinder aus missglückten Einweihungen entstehen, und damit aus einem Missverständnis über das Leben. Einweihungen führen zu einem tieferen Verständnis von Leben ebenso wie zu einem friedvolleren Leben im weltlichen Geschehen. Das eine kann vom anderen nicht getrennt werden. Jedes unerlöste innere Kind weist demnach nicht auf eine schlechte Gesellschaft hin, in der man keine Chance gesund aufzuwachsen hatte, sondern auf eine unvollendete Initiierung in ein lebendiges Sein.

Trauma als fremdes Leben

Missglückte Einweihung oder der Weg vom Kind zum Erwachsenen
KI unterstützt generiert

Die Essenz aller Traumata egal wie komplex oder aus welchem Alter ist, dass eine energetische Ladung zu viel war. Traumata entstehen nicht, weil etwas Schlimmes passiert. Die Lebensenergie, die in einer bestimmten Situation aufkam, war zu groß im Vergleich zu dem, was durchlebt werden konnte. Das können positive wie negative Erfahrungen sein. Der Grund, wieso es nicht durchlebt werden konnte, ist ebenso egal. Die Traumafunktion ermöglicht eine Abspaltung der zu großen Energieladung, sodass der Organismus trotzdem weiterleben kann. Die Umkehrbewegung wird oft Traumaheilung genannt (wobei Heilung irreführend sein kann, denn es ist ja keine Krankheit, sondern eine Funktion). Die abgespaltene Energie wird wieder in Kontakt gebracht und integriert. Das setzt auf natürliche Weise ein, sobald dies möglich ist. Wichtig dafür ist eine gespürte Sicherheit im Nervensystem, diese Energieladung (er)leben zu können.

In anderen Worten kann man sagen, dass Leben kam und die Erfahrung konnte nicht gemacht werden. Die Erfahrung bleibt mit einer Schreckensgeschichte umhüllt im Schatten zurück. Diese Erfahrung, dieser Aspekt des Lebens, wird fremd und gefährlich oder fremd und ersehnt – in beiden Fällen wird es zu etwas fremden. Unbewusst wird gegen diesen Aspekt des Lebens gekämpft. So soll das Leben nicht sein. Das muss man im Leben unbedingt vermeiden. Wer so ist, muss bestraft oder ausgegrenzt werden. Das muss aus dem Leben geschafft werden. Es muss transformiert und geheilt werden, erst dann wird es akzeptabel. Ich darf es nicht… Das Leben bleibt an dieser Stelle fern, unintegriert und fremd. In plumpen Worten ausgedrückt, an diesen Stellen werden wir lebensdumm. Wir verstehen nicht, was los ist, wieso das immer wieder passiert und wie man damit umgehen kann. Ein riesiger Lebenskonflikt, der mit verschiedensten Strategien ausgeglichen werden muss.

Beispiel einer missglückten Einweihung

Stellen wir uns die kleine Marie vor. Sie ist nur drei Jahre als ihr Vater begingt sie zu misshandeln. Erfahrungen von Verrat, Gewalt und Betrug spalten sich ab – zu viel für die Kleine. 40 Jahre später haben wir eine Frau, die extrem misstrauisch durch das Leben geht, sich nicht öffnen kann und mit allen versucht sehr freundlich zu sein. Die Freundlichkeit hält andere Menschen auf Abstand und schützt vor Nähe. Sie ist einsam, kennt keine wirkliche Intimität. Die daraus entstehende Bedürftigkeit und Wut treibt sie innerlich an und führt zu starken Erschöpfungszuständen. Sie träumt von einer heilen Welt ohne Schwierigkeiten.

Viele Heilungsansätze und Heiler arbeiten mit der (unbewussten) Grundannahme, dass Verrat, Gewalt und Betrug schlecht sind. Die arme kleine Marie! Wie all das Leid heilen? Mühsam mit dieser oder jener Methode? Langen Vertrauensaufbau, viel Zuhören und Nervensystemregulierung? Vielleicht ist mit Gebet Vergebung und ein Wunder möglich?!

Doch genau diese Grundannahme verhindert die wahre Erlösung und macht jede Methode schlussendlich wirkungsschwach. Die Erfahrung von Verrat, Gewalt und Betrug sind nicht per se schlecht. Sie sind. Das kann für viele ein riesiger Trigger sein. Wie kann man so etwas sagen! Ich mache keine Werbung für Gewalt und rate auch niemanden andere zu betrügen. Doch für wahre Erlösung und tiefe Verbundenheit mit dem Leben müssen wir die Erfahrung von Gewalt mit einbeziehen. Was heißt das?

Marie trifft auf einen Traumatherapeuten, der Trauma als eine missglückte Einweihung sieht. Zur falschen Zeit, am falschen Ort wurde jemand mit Leben konfrontiert, was energetisch zu heftig war. Ziel der Therapie ist die Einweihung nachzuholen – jetzt für einen Menschen zu einer neuen Zeit, an einem neuen Ort. Sie bereitet sich vor, wie ein Yogi mit seiner Sadhana. Marie lernt ihr Nervensystem kennen und beginnt es energetisch fit zu machen. Sie lernt sich mit hohe Energieladungen sicher zu fühlen. Es kommt der Moment und das Trauma der Misshandlung beginnt sich wieder zu integrieren. Marie begegnet der Erfahrung. Von Demütigung über Ohnmacht bis hin zu Hass rast die Energie durch ihr Nervensystem. Sie macht die Erfahrung von Betrug, Gewalt und Verrat – und ist mit einem wachen, antwortenden Energiesystem in der Lebensbegegnung.

Durch all die Heilprozesse macht es auf einmal Klick – die Einweihung vollzieht sich. Dem Betrug ins Auge zu schauen, lehrt sie Direktheit und Unterscheidungskraft. Die Tage falscher Freundlichkeit sind vorbei und Marie vertraut ihren Instinkten, zu wissen, wen sie Vertrauen schenken will. Die Begegnung mit Gewalt bringt sie zu ihrer eigenen Kraft und erinnert sie an ihren natürlichen Wert. Sie weiß jetzt aus Frieden und Selbstliebe an den für sie passenden Stellen Nein oder Ja klar zu kommunizieren.
Der Verrat führt sie zu einer unvermeidbaren Verletzbarkeit ihres Herzens. Mitten im tiefsten Schmerz bricht es auf und ein mystischer Raum schon immer präsenter, bedingungsloser Liebe strömt in sie ein. Die Träume der Bedürftigkeit und Wünsche einer heilen Welt enden. Die Welt darf auch wieder wild und gefährlich sein. Was als das Schrecklichste überhaupt wirkte, führte die Eingeweihte zu weiteren Lebensfähigkeiten. Ganz ohne Jubelrufe oder Triumphgeschichten hat Marie wieder ja zum Leben gesagt und die Einweihung hat sich heilsam vollzogen.

Einweihungen beachten

Das Leben kam, wollte gesehen, gelebt und entwickelt werden – die Einweihung missglückt und es wird Trauma, ein inneres Kind oder eine neue kulturelle Regel daraus. Das Leben wird zum Feind. So sind die Geschichten, die wir seit Jahrtausenden leben. Die Erlösung der Lebenskonflikte besteht darin, das Leben wieder kennenzulernen und die Einweihung nachzuholen. Und auch das sind Geschichten, die wir seit Jahrtausenden erzählen. Die Weisheitstraditionen wussten schon lange vor der Traumaforschung, dass man ohne Einweihung nicht weit im Leben kommt. Ganz lebensfremd fühlt man sich als Opfer seines Lebens und kämpft sinnlose Kämpfe gegen seine eigene Essenz. Wieder lernen JA zum Leben in seinem riesigen Spektrum zu sagen und sich dadurch lehren zu lassen, ist die Medizin! Es ist tatsächlich so einfach, wie es sich jetzt liest, auch wenn es viel Zeit und Forschung braucht. Doch Leben ist kein Kunststück – wenn man die Einweihung hat!

Einweihung bedeutet, dass der Kampf gegen das Leben aufhört und das Leben wieder erkannt wird. Das Leben darf sich von einer weiteren Seite zeigen und ein neues Element im Leben lehren. Grausam, witzig, verwirrend, ruhig, überwältigend…das Spektrum ist immens. Die weisen Eingeweihten wussten das und gaben über Jahrtausende dieses Wissen nur an jene, die bereit waren, dem Leben bis hin zu Erleuchtungsstufen in solch Radikalität und Bedingungslosigkeit zu begegnen. Wenn spirituelles Wissen zu uns fließt, sollte dies für eine weise Nutzung meiner Forschung nach beachtet werden. Jede Stufe der Einsicht, Heilung und Bewusstwerdung ist eine Einweihung – mag sie schrecklich oder süßlich sein. Sie ist jedenfalls lebendig.

Niemand muss sich nun den heftigsten Schattenthemen stellen. Einweihungen kommen in schrittweisen Annährungen. Jeder kann dort beginnen, wo jetzt das Leben ruft und fordert. Statt einer Vorstellung, wie das Leben sein sollte, kann die Vielfältigkeit und Vielschichtigkeit des Lebens mit allen unangenehmen und angenehmen, erfreulichen und erschreckenden Seiten erfahren werden. Statt auf eine heile Welt ohne Herausforderungen und Tod zu hoffen, können wir unsere Fähigkeit dem Leben zu begegnen stärken und so tiefes Selbstvertrauen und Selbstsicherheit aufbauen. Statt unser kindliches Opferdasein zu fristen und uns mit spirituellen Floskeln abzulenken, können wir reifen und eine authentische Liebesbeziehung mit dem Leben kultivieren. Die Einweihungen weisen den Weg.

16.05.2025
Sara Gnanzou
https://tiefbewegtblog.wordpress.com/

Lesungen im BewusstseinsFeld

Alle Beiträge der Autorin auf Spirit Online

Sara Gnanzou Portrait Sara Gnanzou

Die Sehnsucht nach Lebendigkeit führte Sara Gnanzou zunächst zu Reisen durch die Welt, einem interdisziplinären Philosophiestudium und Tätigkeiten im Beratungs- und Choachingbereich. Seit 2020 widmet sie sich der spirituellen Lebensforschung. In Ihre Arbeit fließen neben tantrischem Wissen und westlicher Philosophie auch die Körper- und Traumaforschung mit ein. Durch das Teilen ihrer Forschungserkundungen durch Wort und Bild möchte sie unterstützend dazu inspirieren, das eigene Sein zu erforschen und die Lebendigkeit erblühen zu lassen.

»»» Mehr erfahren

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.


*