Selbstfremdheit und das Lauschen der Lebenswinde

Selbstfremdheit Spiegelbild mit zwei Frauen

Schattengeflüster und das Lauschen der Lebenswinde

Ich starre mal wieder so in der Luft und im Leben umher. Fragen über Fragen, die sich nicht zu Worten formen, sondern im Ether als vage Vermutung stecken bleiben. Irgendwas sei nicht stimmig. Irgendwas liefe mächtig daneben. Panik puckert langsam unter meinem Herz hervor. Mein Magen wird eng und mein unterer Bauchraum scheint leer und weit entfernt einen Meter nach unten gesackt zu sein. Selbstfremdheit.

Bodenlose Tiefe, die keinen Untergrund für Bewegung bietet. In meinen Zellen vernehme ich fern einen Ruf nach Handlung, der durch die Schichten von Sein und Schein nur als dumpfer, unverständlicher Widerhall in mein Wachbewusstsein dringt. Was ist bloß los? Um was geht es genau? Ein Blick in die innere und äußere Welt – und keine Antwort sichtbar. Doch es ist klar, dass etwas los ist.

Für Erwachende sind solche Momente keine Seltenheit. Sei es die Panikattacke nachts um 3Uhr, die nicht enden wollenden Trauerwellen in der Bahn oder die zugeschnürte Brust nach dem geselligen Abend mit Freunden – das verdrängte Leben bahnt sich seinen Weg zurück und meldet sich mit ersten unerkennbaren Lauten. Als das Tuch des Schweigens gelüftet wurde, hätte gleich ein kosmisches Übersetzungsbuch für Selbstbegegnung mit dazu gegeben werden können. Die Trauer, die Panik oder die Wut können meist auch nicht gleich so eindeutig benannt werden. Unruhe und seelische Schmerzen oder nicht verdrängbare Köperempfindungen sind viel eher die ersten Botschaften, die ins Wachbewusstsein aufsteigen.

Dem auftauchenden Fremden in sich zu wenden

An dieser Stelle ist der Verstand trotz oder gerade wegen aller Überforderung meist der erste Helfer. Interpretationen und Mutmaßungen über das Erlebte werden angestellt. Der Kopf beginnt zu rattern. Was ist die Lösung? Welche Strategie oder Methode gibt es, um mehr herauszufinden? Wie damit umgehen – denn es gibt ja noch die Kinder oder das Projekt oder den Abwasch…Es ist der viel begangene und erlernte Weg: Problemdefinierung, Ursachenanalyse und dann Lösungsvorschläge.

Das, was da auftaucht, grätscht in die Pläne und Vorhaben, Aufgaben und Wünsche. Und so ist unbewusst ganz klar, dass Auftauchende ist ein Problem. Von Entertainment bis Psychopharmaka bilden die modernen Wege des Westens vielerlei Lösungen. Doch für viele Seelen, die spirituell Erwachen wollen, stellen diese Lösungen keine (dauerhafte) Wahl dar. Sie suchen bewusst oder unbewusst nach Alternativen, doch meist, wenn auch auf subtiler Ebene, immer noch mit dem Gedanken ein Problem lösen zu wollen.

Transformation und Heilung werden dann zu Synonymen für Selbstoptimierung oder kapitalistischer Spiritualität. Wir könnten noch besser und mehr performen, all unsere Pläne und Wünsche effektiver manifestieren, wenn wir nun spirituelle Techniken anwenden und die Blockaden auflösen. Ganz nach dem Motto: jedes Problem ist eine Möglichkeit für Wachstum und Transformation.

Und auch wenn darin eine Wahrheit zu finden ist,

Selbstfremdheit Spiegelbild mit zwei Frauen
KI unterstützt generiert

geht sie in der Problemlösungslogik des Verstandes unter. An der Stelle, wo Sanftheit, Liebe und Zuwendung so sehr gefragt ist, wird dann zu häufig im Namen der Heilung in neuer Auflage alter Gesellschaftsstile gepusht und vorangetrieben. Selbst äußerliche Ruhe und Weichheit zeugt nicht unbedingt von innerer mitfühlender Zuwendung. Wir drehen und basteln und biegen an uns herum auf tausend verschieden Weisen, um doch endlich dieses Problem, diesen Schmerz oder diese störende Körperempfindung loszuwerden.

Der Verstand leuchtet wach mit dem trainierten Blick der Schuld auf unser Leben. Wir schauen mit einem Lächeln auf dieses Phänomen, was sich zeigt, als den Feind, den es zu überwinden gilt, und merken dabei nicht, wie wir uns selbst verletzen und manipulieren. Auch wenn äußerlich von Licht, Liebe und Heilung gesprochen wird, wird innerlich weiter Schuld und Leugnung praktiziert.

Ich halte inne und atme, nehme das Gedankenkarussell war und kehre zurück zu den Bewegungen im Körper. Ja, ich habe Angst mich meiner Panik zu zuwenden, spüre die Furcht vor dem, was da in mir lauert. Doch die Entscheidung ist gefallen: ich bleibe da und ich lausche den Winden des Lebens, die durch mich ziehen. Was bringen sie für Botschaften? Und von wem?

Sich seiner Selbstfremdheit bewusst zu werden, kann erschütternd sein.

Innere Berührungen, Bewegungen und Beobachtungen tauchen auf ohne zu Klarheit, Erkenntnis und Handlungskraft zu führen. Etwas taucht in der eignen Erfahrung auf und kann nicht mehr als getrennt von sich selbst betrachtet werden. Es ist nicht mehr die Angst der Freundin oder das Schicksal der armen Kinder in den sogenannten dritten Ländern. Plötzlich ist es nicht mehr da draußen in der Welt, sondern wird in den eigenen Gliedern real.

Die Projektion kehrt zurück. Gleichzeitig ist es noch nicht zur Integration und Selbsterkenntnis gekommen. Das auftauchende Leben bleibt fremd und als etwas nicht Zugehöriges definiert. Man schaut auf sich, auf dieses Leben, auf diese Empfindungen als ein seltsames oder sogar schreckliches Phänomen. All die losen Fragmente des Lebens, die scheinbar zusammenhangslos sich hier und da mal melden, wirbeln das altbekannte, in den gleichen Bahnen verlaufende Leben durcheinander. Teilweise überwältigend, überladend und undurchdringlich.

Eine Öffnung findet statt, sobald ich das Auftauchende als Leben, das ich bin, annehme. Irgendwo tief in mir ist es weiter und wacher geworden. Das Unbewusste, Starre und in den Schatten Gedrängte hat eine Spalte im Bewusstsein gefunden und ruft von dort hinauf. Es tönt und hallt durch mein Wesen. Die flehenden Bitten nach Erlösung und Hilfe, welche sich in unbewussten Handlungen ausdrückten, erreichen nun endlich mein Herz. Die aufsteigenden Klänge offenbaren lang vergessene Lieder. Anteile, die nur als intellektueller Fakt bekannt waren oder vielleicht sogar komplett aus der Erinnerung abgespalten waren, wollen wieder verkörpert und real im Leben integriert werden.

Ich bin berührt, immer wieder zutiefst berührt,

wenn diese Momente der Zuwendung geschehen und ich erkenne, dass sich etwas offenbaren will. Ein Prozess, der sich manchmal schnell vollzieht und manchmal Jahre dauern kann. Doch am Ende steht ein tiefer Einblick, wie sich verlorenes, abgespaltenes Leben wieder den Weg zurück ins Leben bahnt. Ein Flüstern steigt aus dem Schatten empor. Anteile, die teilweise verstummt durch unerklärliche Lebensphänomene sich zeigten, kehren mit Wahrheiten, unvollendeten Erfahrungen und mächtig viel Energie zurück. Eigenschaften, wahre Werte und authentische Bedürfnisse werden wieder wach. Eine Wandlung, die verändern kann, wie man Leben erfährt und definiert. Das ganze innere und äußere Bewegungsspektrum des Lebens beginnt sich zu weiten, sobald der Blick der Schuld mit vergebender Zuwendung ausgetauscht wird.

Wenn der Schatten beginnt zu sprechen, ist es ratsam zu lauschen. Jedes Verdrängen und weitere Praktizieren von Ignoranz vergrößern die Gewalt an uns selbst. Das Schattengeflüster ist der Code zu einem tieferen Verständnis zur Welt, das Tor zu einer intimen, bedingungslosen Liebesbeziehung mit dem Leben, dass wir sind.

16.02.2024
Sara Gnanzou
https://tiefbewegtblog.wordpress.com/

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Sara GnanzouTanoe-Gnanzou-Profil

Die Sehnsucht nach Lebendigkeit führte Sara Gnanzou zunächst zu Reisen durch die Welt, einem interdisziplinären Philosophiestudium und Tätigkeiten im Beratungs- und Choachingbereich. Seit 2020 widmet sie sich der spirituellen Lebensforschung. In Ihre Arbeit fließen neben tantrischem Wissen und westlicher Philosophie auch die Körper- und Traumaforschung mit ein. Durch das Teilen ihrer Forschungserkundungen durch Wort und Bild möchte sie unterstützend dazu inspirieren, das eigene Sein zu erforschen und die Lebendigkeit erblühen zu lassen.

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