Die Diskrepanz zwischen Sein und Vorstellung
Lange, lange nichts. Ein Atemzug. Dann wieder lange, lange nichts. Zwischen all dem Nichts rauschen unerfüllte Gedanken durch meinen Geist. Neben einigen witzigen Gedanken, die mich zum Schmunzeln bringen, dreht sich der Inhalt um das, was getan werden könnte. Springe ich nicht auf den Vorschlag auf, kommt ein neuer. Ich erkenne das Muster.
Die Farben und Schattierungen der Gedankenformen ändern sich, doch ihre Funktion bleibt die gleiche. Egal ob das Ego mich an praktische To-dos erinnert oder auf mögliche Erkundungsziele hinweist oder neue Forschungsfragen anbringt, dies alles sind Vorstellungen über das Leben – was es sein könnte, sollte oder müsste. Ich beobachte diese Diskrepanz zwischen Sein und der Vorstellung vom Sein, zwischen dem schweigsamen Nichts und dem Schein sich aufdrängender Gedanken.
Meine Faszination gilt an dieser Stelle der Diskrepanz selbst. Oft wird in angeleiteten Visualisierungsreisen und Stille-Meditationen versucht zunächst die Gedanken zu beruhigen, um dann tiefer in die Reise oder Stille einzutauchen. Die Gedanken werden möglichst schnell überwunden oder zumindest für diesen Augenblick zu Seite geschoben.
Im Gegensatz dazu schauen Non-duale-Lehren oder auch Techniken der Schattenarbeit eher auf die Gedanken, verfolgen diese zurück zu dem Ursprung bzw. gehen in die Tiefe der energetischen Signatur des Gedankens, sodass dann Heilung geschieht und das weitere Sein dahinter spürbarer wird. Der gesamten Erfahrung, den der Gedanke zusammenhält, wird bedingungslos Raum gegeben. Sie darf vollständig sein. Vielleicht wird ihr dann noch ein Platz im Herzen gegeben oder mit liebevollem Gewahrsein umhüllt.
Doch das sind alles Formsachen. Entweder wird sich auf das oder andere fokussiert, entweder der Gedanke oder die Stille. Doch bisher habe ich selten Techniken, die beide gleichzeitig zu beobachten versuchen, im weiten Spektrum spiritueller Angebote entdeckt. Doch dies ist ein Lebendigkeitspunkt, den ich ebenso forschungswürdig und sogar forschungsnotwendig finde.
Grundstruktur der Dunkelheit
Um dies zu erklären, muss ich einen Ausflug in die dunkle Zeit der Schule machen. Dunkel nenne ich es nicht aus moralischen oder emotionalen Gründen, sondern als technische Beschreibung. Das konventionelle Schulsystem bereitet auf die Gesellschaft, in der man lebt oder zukünftig leben wird, vor.
Deswegen muss der Schullehrplan immer wieder angepasst werden, um den zeitgemäßen Zustand zu entsprechen (z.B. Digitalisierung). Da unsere Gesellschaft in der Dunkelheit, das heißt in der Verwirrung der Selbstunbewusstheit agiert, muss das Schulsystem auf diese Dunkelheit vorbereiten. Wir wurden und werden für ein Leben in Dunkelheit präpariert. Dabei geht es mir nicht um das Faktenwissen. Wichtig ist die Lehre, die fast unausgesprochen, durch die Grundstruktur wahrgemacht wird.
Ein Sockel dieser schulischen Grundstruktur ist die Lehre des äußeren Wissens. Wir haben gelernt, dass in uns zwar Talente und Eigenschaften stecken, doch um in dieser Welt zu (über)leben, brauchen wir das Wissen der Schule. Wir brauchen das Wissen, das in den Büchern und auf den Tafeln stand und das uns die Lehrer beibrachten.
Wir haben gelernt für die Fragen und Herausforderungen des Lebens nach Außen und zu anderen zu schauen sowie dafür eine bestimmte Art des Denkens zu nutzen. Und wir haben gelernt, dass die Richtigkeit der Anwendung durch Erfolg oder Misserfolg messbar ist. Das entspricht dem Prinzip des Gehorsams. Hören wir auf das Außen, auf andere und auf die vorherrschende Art des Denkens, können wir das Leben meistern und werden belohnt. Hielten wir uns an die Schablone des Gehorsams (und diese kann auch mit bunten Buchstaben ‘Freiheit’ auf sich stehen haben), können wir nicht nur gute Noten bekommen, sondern auch ein gutes Leben.
Selbsterforschung oder gehorsame Meditation?
Nun kommen wir mit der Prägung des Dunkelwissens in den Meditationskurs. Ob nun der Fokus auf den Gedanken oder auf den Raum dahinter liegt, spielt keine Rolle dafür, dass diese Meditation wieder die Befolgung einer äußeren Anweisung sein kann. Also anstatt brav und gehorsam die Hausaufgaben zu machen, wird nun brav und gehorsam meditiert – für Zugehörigkeit, für Anerkennung, für ein Richtigsein, für Gesundheit….Dabei können auch, so sehr dies als ein Paradox erscheint, brav und gehorsam die kulturellen Konditionierungen auseinandergenommen und Freiheit angestrebt werden.
In diesem Dunkelwissen gefangen, erlebt man statt einer der Selbsterforschung dienenden Meditation vielmehr eine Selbstverleugnung im spirituellen Gewand. Dies kann unabhängig von dem Inhalt der Meditation und der Person, die sie lehrt, sein. Es findet drei Ebenen tiefer in der über viele Generationen und Inkarnationen angepassten Gewebestruktur statt. Wobei viele Strukturen, wie missverstandene Guruanbetung, diese auch begünstigen können und ausgeprägt manifestieren.
So können Jahre und Jahrzehnte vergehen ohne das tatsächlich tiefergreifende Einsichten und transformierende Selbstverwirklichung durchlebt werden, weil man nur die äußere Erscheinung zur Meditation gewechselt hat, jedoch im Inneren weiterhin die gleiche Grundstruktur genährt wird.
Heilsame Erschütterung der Grundstruktur
Deswegen liegt mir in der Selbsterforschung die Frage um die wahre, radikale Aushebelung der kulturellen Grundstrukturen am Herzen. Auch die lautesten Rufe nach der wahren Natur scheitern, wenn man weiterhin die Kultur in sich nährt. Und wie sehr und dass diese Kulturnährung bzw. Egonährung stattfindet, eröffnet der Fokus auf die Diskrepanz zwischen dem Sein und der Vorstellung vom Sein, von dem stillen Nichts und den nach Aufmerksamkeit suchenden Ablenkungsgedanken. In der Betrachtung dieser Diskrepanz entsteht der Raum für eine heilsame Erschütterung, die die Grundstruktur lahmlegt. Anstatt sie mit neuen Meditationsfarben auszumalen, wird die Grundstruktur selbst sichtbar.
Es gibt die vielen Stimmen, die ihre Vorstellungen vom Sein laut kundtun, und es gibt das schöpferische Nichts, was unvorhersagbar und sanft sich offenbart. Es gibt all diese Vor-einstellungen der äußeren Welt in mir, wie, wann und wo gedacht und gehandelt werden soll, und es gibt dieses mysteriöse Tor zur inneren Welt in mir, die unbekannte Lebensbewegungen hervorbringt.
An dieser Stelle zu atmen und wach zu werden hat zur Folge, dass eine tiefere Reflektion über die Entfremdung von der Wahrheit stattfindet. Es ist diese Pause, welche der Frage, wie oft, schnell und regelmäßig des Herzens fremden Stimmen in die Dunkelheit gefolgt wurde, anstatt mit Geduld und Disziplin wahren Impulsen zu lauschen. Diese Kontemplation, Einsicht und Selbstehrlichkeit können nicht durch einen direkten, gehorsamen Sprung über die Kultur hinweg in die Wahrheit der Natur vollzogen werden. Und selbst ein geglückter Sprung weist keine Nachhaltigkeit in der Verbindung zur Wahrheit auf.
Um eine stabile, tragfähige Beziehung zur schöpferischen Natur, zur Stille in uns, lebendig werden zu lassen, braucht es die Erkenntnis des Systems, dass wir verlassen wollen, in uns. Erst wenn es im Inneren entdeckt und mitfühlend durchdrungen ist, kann eine bewusste Ausrichtung und Kultivierung dieser Ausrichtung nachgegangen werden.
Als große Freundin der Unterscheidungskraft tauche ich weiter ein und trainiere mit wechselndem Fokus wie einen Muskel meine willentliche Wahrnehmung auf das Nichts oder die Gedankenwolke darum. Ich erforsche die Textur dieser Punkte im Bewusstsein und beobachte, was mich in die eine oder andere Richtung zieht. All das ist Selbsterforschung für mich. Es geht über das bloße Ausüben einer Technik hinaus und schult das innere Bewegungsspektrum, um wahres Sein zu erkennen und lebendig werden zu lassen.
15.08.2024
Sara Gnanzou
https://tiefbewegtblog.wordpress.com/
Die Sehnsucht nach Lebendigkeit führte Sara Gnanzou zunächst zu Reisen durch die Welt, einem interdisziplinären Philosophiestudium und Tätigkeiten im Beratungs- und Choachingbereich. Seit 2020 widmet sie sich der spirituellen Lebensforschung. In Ihre Arbeit fließen neben tantrischem Wissen und westlicher Philosophie auch die Körper- und Traumaforschung mit ein. Durch das Teilen ihrer Forschungserkundungen durch Wort und Bild möchte sie unterstützend dazu inspirieren, das eigene Sein zu erforschen und die Lebendigkeit erblühen zu lassen.
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