
Echtes Fühlen in einer gefühllosen Welt – Warum wir wieder mehr spüren sollten
In einer Welt voller digitaler Verbindungen, ständiger Ablenkungen und zunehmendem Leistungsdruck wird das Fühlen oft zur seltenen, fast exotischen Erfahrung. Wir reden viel über Gefühle, analysieren sie, kategorisieren sie – doch echtes, unverfälschtes Fühlen ist zu einer Ausnahmesituation geworden. Aber warum eigentlich? In diesem Beitrag werfen wir einen tiefen, nachdenklichen Blick auf die Gründe dafür, die psychologischen und gesellschaftlichen Konsequenzen und zeigen Wege auf, wie wir uns wieder mit unserer emotionalen Tiefe verbinden können – als Einzelne und als Gesellschaft.
Der Verlust des echten Fühlens

Viele Menschen erleben ihre Gefühle heute nicht mehr vollständig. In einer Gesellschaft, die auf Effizienz, Rationalität und ständigem Wachstum basiert, werden Gefühle oft als störend, ineffizient oder gar schwach betrachtet. Doch diese innere Distanz hat ihren Preis. Wir verlieren den Kontakt zu uns selbst, werden zu funktionierenden Maschinen und entfernen uns von unserer eigenen Menschlichkeit.
Das Paradoxe: Nie war das Bewusstsein für psychische Gesundheit größer – und doch scheinen immer mehr Menschen emotional leer oder entfremdet. Fühlen bedeutet, sich verletzlich zu zeigen. Doch genau diese Verletzlichkeit ist es, die unsere menschlichen Beziehungen nährt.
Digitale Verbindungen und emotionale Entfremdung
Wir leben in einer digital vernetzten Welt, in der Emojis und Likes echte Gefühle oft ersetzen. Eine kurze Nachricht, ein Daumen hoch – das scheint oft genug zu sein. Doch während wir uns digital vernetzen, vereinsamen wir emotional. Unsere sozialen Medien sind voll von schönen Bildern und perfekten Momenten, doch die echte, oft chaotische und widersprüchliche Welt unserer Gefühle bleibt oft verborgen.
Technologie hat unser Kommunikationsverhalten verändert – aber nicht unsere Sehnsucht nach echtem Kontakt. Die Algorithmen der sozialen Netzwerke bevorzugen Emotionalisierung, nicht emotionale Tiefe. Wir sind sichtbar und doch unsichtbar. Unser Herz schlägt, aber wird es auch gehört?
Die Rolle der Selbstoptimierung
Selbstoptimierung ist ein weiteres Phänomen, das unser emotionales Leben beeinflusst. Wir versuchen ständig, bessere Versionen von uns selbst zu sein – produktiver, positiver, gelassener. Doch in diesem Streben nach Perfektion bleibt oft kein Raum für die dunkleren, komplexeren Emotionen. Wir wollen keine Angst, Wut oder Trauer spüren, weil sie nicht ins Bild des perfekten Selbst passen. Doch ohne diese „negativen“ Emotionen bleibt unser Erleben unvollständig.
Der ständige Druck zur Selbstverbesserung verwandelt den Menschen in ein Projekt. Gefühle werden zu störenden Variablen, die nicht in die Tagesplanung passen. Wir verlieren die Fähigkeit, Emotionen als Wegweiser zu sehen – als Hinweise darauf, was in unserem Inneren wirklich geschieht.
Stress und emotionale Abstumpfung
Der tägliche Stress, den viele von uns erleben, führt zu einer emotionalen Abstumpfung. Wir funktionieren, erledigen unsere Aufgaben, meistern Krisen – doch dabei verlieren wir oft den Zugang zu unseren echten Gefühlen. Diese emotionale Betäubung kann auf Dauer zu innerer Leere, Burnout und sogar Depressionen führen.
Chronischer Stress verändert nachweislich unser Gehirn: Der präfrontale Kortex – zuständig für Selbstreflexion und Empathie – wird geschwächt, während das Angstzentrum aktiver wird. Das Ergebnis: weniger Mitgefühl, weniger Selbstwahrnehmung, mehr Reizbarkeit und Rückzug. Ein gesellschaftlicher Teufelskreis.
Warum echtes Fühlen so wichtig ist
Echtes Fühlen ist mehr als eine private Angelegenheit. Es ist ein sozialer und spiritueller Akt. Unsere Fähigkeit zu fühlen verbindet uns mit dem Leben selbst. Wer seine Gefühle spürt, ist in der Lage, echte Entscheidungen zu treffen – nicht aus Angst, sondern aus Klarheit. Emotionen sind wie Wegweiser durch den inneren Dschungel des Lebens.
Fühlen bedeutet auch: authentisch sein. Und Authentizität ist in einer Welt voller Masken ein rares Gut. Wer sich traut, Gefühle zu zeigen, bricht mit der kollektiven Nüchternheit und schafft Räume für echte Begegnung. Das ist ein Akt der Befreiung.
Der Weg zurück zum Fühlen
Doch wie können wir den Weg zurück zum echten Fühlen finden? Hier einige Ansätze:
- Achtsamkeit und Präsenz: Durch bewusste Achtsamkeitsübungen – ob Meditation, Atemübungen oder langsames Gehen – können wir lernen, unsere Gefühle wieder wahrzunehmen und zu akzeptieren, ohne sie zu bewerten.
- Emotionale Ehrlichkeit: Es ist wichtig, uns selbst gegenüber ehrlich zu sein und unsere Gefühle nicht zu unterdrücken. Tagebuchschreiben, therapeutische Gespräche oder der bewusste Ausdruck im Gespräch mit nahestehenden Menschen kann dabei helfen.
- Entschleunigung: In einer hektischen Welt braucht es bewusste Momente der Ruhe, um die inneren Stimmen wieder zu hören. Das kann bedeuten, weniger zu tun – und mehr zu sein.
- Beziehungen vertiefen: Anstatt uns auf flüchtige digitale Kontakte zu verlassen, sollten wir echte, tiefere Verbindungen suchen. Echte Nähe entsteht nicht über Datenübertragung, sondern durch geteilte Verletzlichkeit.
- Gefühlsbildung als Praxis: Gefühle kann man lernen – wie eine Sprache. Wer sich Zeit nimmt, Emotionen zu benennen, zu erforschen und mit ihnen zu leben, wird emotional reifer.
Fazit: Die Rückkehr zur Menschlichkeit
Echtes Fühlen ist eine Form der Selbstermächtigung. Es gibt uns die Möglichkeit, wieder authentisch zu leben und tiefere Verbindungen zu anderen Menschen einzugehen. In einer Welt, die oft nur auf Effizienz und Produktivität ausgelegt ist, kann das Fühlen eine revolutionäre Handlung sein – ein Schritt zurück zur eigenen Menschlichkeit.
Oder besser gesagt: ein Schritt vorwärts in ein neues Zeitalter des Menschseins. Denn wer fühlt, lebt nicht nur – er bezeugt das Leben.
22.04.2018
Heike Schonert
HP für Psychotherapie und Dipl.-Ök.
Alle Beiträge der Autorin auf Spirit OnlineHeike Schonert
Heike Schonert, Heilpraktikerin für Psychotherapie, Diplom- Ökonom. Als Autorin, Journalistin und Gestalterin dieses Magazins gibt sie ihr ganzes Herz und Wissen in diese Aufgabe.
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