Aussterben der Masse im spirituellen Wandel

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 Aussterben der Masse im spirituellen Wandel

Ich bin nachdenklich gestimmt während ich durch spirituelle Online-Angebote scrolle. Die spirituellen Kongresse haben sich in den letzten Jahren gehäuft. Mehr und mehr Coaches, Lehrer und Therapeuten machen sich auf Onlineplattformen sichtbar. Zum größten Teil geht es darum, Wissen weiterzugeben.

Techniken und Methoden werden erklärt. Erfahrungen dazu besprochen. Eine vielfache Zahl an Interviews und Lehrvideos erscheinen. Bei vielen Anbietenden kann man ein kostenloses Angebot, was vom Minikurs bis täglichen Instagramposts reicht, finden.

Die Vorangegangenen, wie man die spirituellen Lehrer und Coaches nennen könnte, teilen ihre Tipps und Einsichten für ein besseres Leben – für mehr Erfüllung, Lebensfreude und Sinnhaftigkeit. Hinter all dem steckt meinst subtil oder offen angesprochen der Aufruf sich auf den inneren Weg zu machen, wie durch die innere Arbeit die Außenwelt neugestaltet und dieser Weg begangen werden kann. Die Vorangegangenen strahlen die Möglichkeit eines anderen Daseins aus. Der Weltenwandel scheint unverkennbar durch ihre Verkörperung auf sich aufmerksam machen zu wollen. Aufgefordert, inspiriert und nach Hilfe lechzend folgen die Nachkommenden.

Ein historisch-politischer Ausflug und das Prinzip der folgenden Masse

Zur Abwechslung schaue ich mir eine Dokumentation über einen ghanischen Flüchtling, der wieder in seine Heimat zurückkehrt, an. Mich trifft unvorhergesehen, dass die jungen, bisher daheim gebliebenen Landsmänner immer noch Europa als Heilland für ihre persönliche und nationale Entwicklung ansehen. Sie planen noch zu flüchten. Das Heilnarrativ wirkt stärker als die europäisch finanzierten Aufklärungskampagnen rund um die Fluchtgefahren.

Ein bitterer Witz: Die europäischen Mächte präsentierten sich seit Jahrhunderten als die Leitfiguren auf allen Ebenen im Weltgeschehen und versuchen nun die Folgen ihrer geglückten Programmierung einzuschränken. Die Geschichte des weiterentwickelten Europas soll geglaubt werden, aber dem kreierten Magnetismus soll nicht in konkreten Handlungen gefolgt werden.

Natürlich gibt es genügend faktische Indizien, z.B. zur wirtschaftlichen Lage, welche diese Perspektive unterstützen. Doch was darin untergeht, ist das reiche Potential, was diese jungen Westafrikaner in sich tragen. Noch zu Beginn der Renaissance bezog Europa Massen an Gold und kulturelle Inspiration aus den damaligen westafrikanischen Gebieten (z.B. Mali Reich). Und dies ist nur eine äußere Manifestation.

Die kulturellen und spirituellen Wurzeln sind so viel tiefer als die Jahrhunderte geprägt von Kolonialismus, Sklaverei und westlicher Globalisierung. Mitten im Trauma dieses eigentlich immens reichen Kontinents zeigt sich dieser unbändige Wille, sich zu entwickeln, in dieser jungen, im konditionierten Blick benachteiligten Mittelklasse-Generation in Ghana, was für mich eindeutig für ein ungehörtes Potential an Lebenskraft spricht.

Mein Ausflug in die historisch-politische Geschichte entpuppt sich schlussendlich als Inspiration. Mir wird deutlicher, was mich nachdenklich stimmt. Durch unsere kollektive Menschheitsgeschichte webt sich seit Jahrhunderten ein Narrativ – sehr konkret als auch in subtiler Form. Immer wieder tauchen Personen, Gruppen und Bewegungen auf, denen es gilt nachzufolgen. Ob dies die Kolonialherren sind oder die Erleuchteten macht einen wesentlichen Unterschied im Lebensbereich, doch nicht in dem dahinterstehenden Prinzip. Es ist ein Narrativ einer Dynamik zwischen den Vorangegangenen, Entwickelten und Wissenden sowie einer folgenden Masse. Jenseits von moralischen oder energetischen Einordnungen bewegt sich das Prinzip einer nachfolgenden Masse in meinem Geist und zieht meine Aufmerksamkeit auf sich.

Die spirituelle Masse im Netz alter Konditionierungen

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KI unterstützt generiert

In Seminaren, Gesprächen und im Erfahrungsaustausch beobachte ich immer wieder gleiche Dynamiken. Es gibt eine Person(en), die als Leitfigur Wissen vermittelt, und eine Masse (Teilnehmer, Klienten etc.), die das Wissen aufnimmt und versucht umzusetzen. Für die Umsetzung und bei Fragen wendet man sich wieder an die Person, welche mit Tipps und Hinweisen Hilfe gibt. Das kann sich zunächst nach einem normalen Lernfeld anhören. Was wäre daran bedenklich?

Eine Essenz spiritueller Selbsterkenntnis ist Selbstermächtigung. Per Definition kann keine Erkenntnis gewonnen werden, wenn man sich an äußeren Umständen, Personen und Vorgaben orientiert. Die Erkenntnis ist die Macht des Selbstes und diese ermächtigt zur selbst-bestimmten Lebensführung. Entscheidungen, Handlungen und Einsichten entspringen der inneren Quelle. Diese Erkenntnis und Ermächtigung können nicht stattfinden, wenn eine schulartige Gehorsamkeit gegenüber spirituellen Autoritäten stattfindet. Es bedarf einer tiefgreifenden, ganzheitlichen inneren Auseinandersetzung mit sich selbst.

Doch zu oft mogelt sich eine Dynamik ein, in der das Versprechen der Selbsterkenntnis und eines Glücks jenseits aller Formen eingelöst werden soll, ohne das die eigene Autorität anerkannt werden muss. Wenn ich Person X folge und Y praktiziere, dann erreiche ich Z. Wenn ich Coach X folge und Meditation Y praktiziere, dann erreiche ich Lebensfreude. Diese Formel lässt sich leicht austauschen. Und fast alle Menschen haben einen Verstand, der grundsätzlich so konditioniert wurde. Bis zu einem gewissen Grad ist dies auch nützlich und dienlich. Dieser Grad ist die Menschenkultur, wie sie bisher weitverbreitet funktioniert. Sobald wir die Gefilde unserer wahren Natur des Selbstes erforschen wollen, drehen wir uns mit dieser Formel im Kreis und eine spirituelle Masse, die nun brav und gehorsam innere Arbeit für ein besseres Leben macht, kann entstehen. Die Kulturkonditionierung gleitet ohne Schwierigkeiten in die Räume spiritueller Heilszenen.

Das Motto lautet: Ein Coach hat gesagt, dass ich man seine Gefühle fühlen muss, damit es einem besser geht – also mache ich das. Eine Achtsamkeitsexpertin hat gesagt, man fühlt sich glücklicher, wenn man meditiert – also mache ich das. Traumaheilung ist wichtig, haben die Therapeuten im Interview gemeint – also mache ich das.

Mir liegt dabei nicht am Herzen, ob die Beziehung zu den Gefühlen geändert werden sollte oder nicht. So viele Lehrvideos und Satsangtreffen drehen sich darum. Meine Aufmerksamkeit gilt in dieser Forschung der Intention und Dynamik dahinter. Mache ich eine Methode, weil sie mich im Herzen anzieht und ich damit forschen kann? Oder will ich damit etwas erreichen und richtig machen, was ein anderer als wichtig eingestuft hat? Folge ich einem Experten oder folge ich meinen inneren Lebensbewegungen?

Von der Masse zur eigenen Autorität

Mit zunehmender Selbsterkenntnis findet man zu seiner eigenen Autorität, man lernt seine Autorität kennen und annehmen. Diese Autorität kommt durch Selbsterforschung und in Fragestellung bisheriger Autoritäten und Konditionierungen, welchen die Macht zugesprochen wurde. Dies sind keine bloße Rebellion und Aufbegehren gegen Altbekanntes, sondern eine tiefgreifende Wandlung in dem, wie Leben erfahren wird. Dabei können Coaches und Lehrer eine Inspiration sein, Impulse spiegeln und Wegbegleiter sein, doch nicht mehr als das.

Bei der Annahme der eigenen Autorität finden Gespräche, in denen spirituelle Experten als Rechtfertigung für Lebensentscheidungen zitiert werden, ein Ende. Die Angst vor Fehlern aus mangelnden Selbstvertrauen verblasst. Die Suche nach der äußeren Erlösung wird vergehen. Und Gespräche zum Zweck der gegenseitigen Bestätigung von der “guten” Lebensführung oder der “richtigen” Praxis werden irrelevant. Das Ziel die Erkenntnisse anderer wahr zu machen, wird sichtbar und verliert an Attraktivität. Was bleibt, ist die unmittelbare Begegnung mit dem Leben im eigenen Nervensystem und der Durst diese Beziehung mit dem Leben zu vertiefen – komme was wolle.

Im wahren Bewusstseinswandel stirbt die Masse aus. Die folgende, gehorsame Masse ist ein Phänomen eines verdrängten, projizierten Lebens in äußere Umstände. Ein jedes Mitglied der Masse hat sein Lebenspotential vergessen und sucht es unbewusst im Gleichschritt, der auch Freiheit und Einsicht heißen kann. In der Morgendämmerung des Geistes erkennen wir noch mit verschlafenen Augen, dass die Welt außerhalb Europas uns ein guter kollektiver Spiegel ist – haben wir doch an Entwicklung und Heil fernab unseres eigenen reichen Potentials geglaubt, nicht ahnend wie sehr wir uns verschätzen und wie wenig wir uns kannten.

16.10.2024
Sara Gnanzou
https://tiefbewegtblog.wordpress.com/

Lesungen im BewusstseinsFeld

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Sara GnanzouTanoe-Gnanzou-Profil

Die Sehnsucht nach Lebendigkeit führte Sara Gnanzou zunächst zu Reisen durch die Welt, einem interdisziplinären Philosophiestudium und Tätigkeiten im Beratungs- und Choachingbereich. Seit 2020 widmet sie sich der spirituellen Lebensforschung. In Ihre Arbeit fließen neben tantrischem Wissen und westlicher Philosophie auch die Körper- und Traumaforschung mit ein. Durch das Teilen ihrer Forschungserkundungen durch Wort und Bild möchte sie unterstützend dazu inspirieren, das eigene Sein zu erforschen und die Lebendigkeit erblühen zu lassen.

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